Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mangelhafte Justiz

Türkei: Anklage gegen Taksim-Solidarität zurückgewiesen

Von Nick Brauns *

Ein Istanbuler Gericht hat die Anklage gegen 26 führende Aktivisten der Gezi-Park-Protestbewegung wegen schwerer juristischer Mängel zurückgewiesen. Nach Ansicht der Richter waren die Schuldvorwürfe gegen die Mitglieder der »Taksim-Solidaritätsplattform« nicht ausreichend präzisiert. Jetzt muß die Staatsanwaltschaft die nur sechsseitige Anklageschrift nachbessern. Sie hatte Haftstrafen zwischen sieben und 29 Jahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Störung der öffentlichen Ordnung und der Organisation illegaler Proteste durch Internetplattformen wie Facebook und Twitter gefordert. Unter den Angeklagten befinden sich die Generalsekretärin der Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB), Mücella Yapici, und der Generalsekretär der Istanbuler Ärztekammer, Ali Cerkezoglu, die während einer Demonstration am 8. Juli 2013 festgenommen wurden. Yapici war Teilnehmer einer Delegation, die sich damals mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan getroffen hatte, um eine Lösung im Streit um die von der Protestbewegung abgelehnte Bebauung des Gezi-Parks am Istanbuler Taksim-Platz zu finden.

Demnächst soll ein weiteres Verfahren gegen 255 Demonstranten beginnen, denen wegen ihrer Teilnahme an den landesweiten Protesten gegen die autoritäre AKP-Regierung im vergangenen Sommer Landfriedensbruch sowie die Unterstützung »terroristischer Organisationen« vorgeworfen wird. Insgesamt drohen mehreren tausend Demonstranten Strafverfahren. Bei den wochenlangen Protesten, an denen sich nach offiziellen Angaben 3,5 Millionen Menschen landesweit beteiligten, waren sechs Demonstranten durch Polizeigewalt getötet und rund 8100 verletzt worden. Etwa 5000 Demonstranten wurden festgenommen.

Die Proteste wurden durch das brutale Vorgehen der Polizei gegen eine Gruppe von Parkbesetzern ausgelöst, die sich gegen die geplante Bebauung des Gezi-Parks durch ein Einkaufszentrum in Form einer osmanischen Kaserne wehrten. Auf neuen Bebauungsplänen für den Taksim-Platz, die vergangene Woche von der Stadtverwaltung vorgestellt wurden, ist das Einkaufszentrum zwar nicht mehr enthalten, während Bäume zu sehen sind. Doch der Oberbürgermeisterkandidat der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Sirri Süreyya Önder, der im vergangenen Jahr die Parkbesetzung geleitet hatte, forderte Amtsinhaber Kadir Topbas (AKP) auf, auch diese ohne Einbeziehung der Bevölkerung und von Nichtregierungsorganisationen entworfenen Pläne »auf den Müll zu werfen«. Der Architekt und HDP-Bürgermeisterkandidat für den Bezirk Beyoglu, Korhan Gümüs, sieht in den Umbauplänen das Ziel, »diesen Platz zu einem geschlossenen Areal zu machen, wo weder Proteste noch Konzerte stattfinden können«. Unterdessen kündigte der Oberbürgermeisterkandidat der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Mustafa Sarigül, dem gute Chancen für einen Wahlsieg im März eingeräumt werden, an, einen internationalen Wettbewerb für die Gestaltung des Taksim-Platzes auszuschreiben, sollte er ins Amt einziehen. Anschließend dürften die Bürger über die drei besten Vorschläge abstimmen.

Sarigül hatte als Bezirksbürgermeister des Stadtteils Sisli während der Proteste im Sommer die Taksim-Platz-Besetzung mit Toilettenhäuschen und der Müllabfuhr seiner Verwaltung unterstützt. Daß Sarigül von der religiös-nationalistischen Fethullah-Gülen-Gemeinde unterstützt wird, erscheint Erdogan unterdessen als Beweis für die unsinnige Verschwörungstheorie, hinter den Gezi-Park-Protesten ständen die gleichen Kräfte, die jetzt mit einem Korruptionsermittlungsverfahren einen Justizputsch gegen seine Regierung betrieben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 12. Februar 2014


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Türkei-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage