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Der halbe Sieg

Türkeis Ministerpräsident Erdogan wird mit absoluter Mehrheit neuer Staatspräsident

Von Jan Keetman *

Für den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan ist der Plan aufgegangen: Er steht kurz davor, Super-Präsident zu werden. Die Hälfte der Bevölkerung freut sich mit ihm – die andere hat Angst.

Wie ein Sieg im Fußball wurde Recep Tayyip Erdogans Triumph bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag mit Fahnen, hupenden Korsos und lauten Rufen auf den Straßen gefeiert. Die Hälfte der Türkei hat gefeiert, während die andere genervt zu Hause saß und sich die Ohren zuhielt. »Ich kann das nicht mehr hören, ich möchte hier weg«, sagt eine Bekannte am Telefon. Ein anderer meint: »Es ist kaum mit anzusehen, wie ein Land mit offenen Augen in eine Art Faschismus abgleitet.« Die Meinungen darüber, ob Erdogan das Glück oder das Unglück der Türkei ist, sind so sehr gespalten wie eh und je. Daran ändert auch Erdogans Ankündigung nichts, ein Präsident aller Türken sein zu wollen – Ähnliches hat er schon öfter gesagt, an seinem extrem polarisierenden Politikstil hat das nichts geändert.

Den Grund für das schlechte Abschneiden der Opposition bei der Präsidentenwahl mit rund 38 Prozent haben viele in deren Personalpolitik gefunden. Noch vor Mitternacht rechnete die Journalistin Asli Aydintasbas mit dem Präsidentschaftskandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu ab. Es sei ein Fehler gewesen, einen unbekannten, als Wahlkämpfer unerfahrenen und aufgrund seiner konservativ-religiösen Einstellung für viele Wähler der größten Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), völlig inakzeptablen Kandidaten aufzustellen. In einem Land mit einem Durchschnittsalter von 28 Jahren habe es ein 70-Jähriger ohnehin schwer, die Wähler zu begeistern. Erdogan habe gegenüber der letzten Wahl kaum dazugewonnen, aber die Opposition konnte ihre Wähler mit Ihsanoglu nicht mobilisieren.

Die Zahlen sprechen für die Analyse von Aydintasbas. Erdogan hat mit etwa 52 Prozent tatsächlich kaum Wähler hinzubekommen. Ein Teil des geringen Zuwachses kommt schon allein daher, dass erstmals auch die Auslandstürken wählen konnten. Wenn es ein Konzept hinter der Aufstellung von Ekmeleddin Ihsanoglu gab, so war es der Versuch, mit einem konservativ-religiös orientierten Kandidaten Erdogans Wählerpotenzial abzuschöpfen. Ein Blick auf die Landkarte aber zeigt, dass Ihsanoglu in Erdogans Hochburgen mit eher religiös orientierten Wählern sehr schlecht abgeschnitten hat.

Euphorisch werden manche Kommentatoren, wenn es um den dritten Kandidaten geht. Der kurdische Anwalt Selahattin Demirtas gewann immerhin 9,8 Prozent der Stimmen. Die prokurdischen Parteien, aus deren Tradition Demirtas kommt, liegen sonst bei einem Stimmenanteil zwischen 5 und 7 Prozent. Beachtenswert ist auch, dass Demirtas nicht nur in ein paar Gouvernements im Südosten der Türkei Stimmen holte, sondern auch in Istanbul und Izmir. Doch viele der neuen Wähler dürften Anti-Erdogan-Wähler sein, die auch Ekmeleddin Ihsanoglu nicht wollten. Ob den Kurden wirklich der Sprung in Wählerschichten im Westen gelungen ist, muss sich erst noch zeigen.

Erdogan genoss zunächst einmal mit seinen Anhängern den Sieg. Es sei ein historischer Tag, meinte der neue Präsident. »Die neue, große Türkei« habe gewonnen, »seid gewiss, morgen wird alles noch viel besser sein«, rief er seinen Anhängern zu. Doch Erdogan wirkte nicht wie jemand, der nach erfolgreichem Wahlkampf erst einmal den Triumph genießen will. Tatsächlich ist nach der Wahl vor der Wahl: Schon in knapp einem Jahr stehen die für das türkische Parlament an. Für die Einführung des von ihm angestrebten Präsidialsystems braucht Erdogan 60 Prozent der Parlamentssitze, um ein Referendum ansetzen zu können. Das türkische Wahlsystem ist günstig für Erdogan, er könnte die Sitze mit seiner Partei erreichen. Wenn nicht, muss er sich nach Hilfe umsehen, mutmaßlich bei den Kurden.

Es gibt also für Erdogan noch eine Menge zu tun. Und dann sind da noch die anderen politischen Probleme. Wie hieß eigentlich noch mal diese Terrororganisation in Irak und Syrien, von der alle Welt redet und die über hundert türkische Staatsbürger seit Wochen als Geiseln gefangen hält? Erdogan hat es geschafft, das Thema aus der türkischen Politik völlig herauszuhalten.

Auf einem weiteren Feld hat sich Erdogan bereits positioniert. Ihm läuft der Motor der türkischen Wirtschaft nicht flott genug. Deshalb möchte Erdogan deutlich niedrigere Zinsen. Als Staatspräsident hat er nun mehr Einfluss auf die Zentralbank. Wegen der relativ hohen Inflation und der Abhängigkeit von ausländischem Kapital ist aber eine Zinssenkung selbst in einer Welt der Niedrigzinsen für die Türkei ein riskantes Manöver. So oder so dürfte das Land nicht weniger politische Stürme vor sich haben als es jene bereits hinter sich hat.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 12. August 2014


Wie ein osmanischer Herrscher

Erdogan will die Türkei umbauen – offiziell gelten die USA als Vorbild

Von Nick Brauns **


Nach zwölf Jahren im Amt des Ministerpräsidenten ist Recep Tayyip Erdogan der nach Staatsgründer Mustafa Kemal langjährigste politische Führer der Türkei. Kritiker werfen ihm aufgrund seines zunehmend selbstherrlichen und autoritären Auftretens Sultansallüren vor. Daß Erdogan tatsächlich den osmanischen Herrschern nacheifert, machte er am Wahlabend deutlich. Demonstrativ besuchte er nach Bekanntgabe der Ergebnisse die Eyüp-Sultan-Moschee in Istanbul, dem traditionellen Ort des ersten Gebetes der osmanischen Regenten nach ihrer Thronbesteigung.

Zum Staatspräsidenten mußte sich Erdogan jetzt küren lassen, da das Statut seiner Regierungspartei AKP keine vierte Amtszeit in Folge zuläßt. Sein erklärtes Ziel ist der Umbau der Türkei zu einem auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystem. Als Vorbild hierfür wurden von Erdogan zwar wiederholt die USA angeführt, doch im Unterschied zum amerikanischen sieht sein anvisiertes Präsidialsystem in der zentralistischen Türkei keinerlei Gegengewicht zum starken Staatschef vor. Erdogans Versuch, bereits in der laufenden Legislaturperiode entsprechende Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen, wurde durch AKP-interne Auseinandersetzungen und fehlende parlamentarische Mehrheiten gestoppt. So ist für Erdogan seine neue Position zumindest auf dem Papier mit einem Machtverlust gegenüber seiner vorherigen verbunden. Laut Gesetz muß er zudem als Staatspräsident den AKP-Vorsitz abgeben.

Zu den derzeitigen Befugnissen des Präsidenten zählt das Recht, leitende Beamte zu ernennen. Der Staatschef sitzt dem aus den zivilen und militärischen Spitzen gebildeten Nationalen Sicherheitsrat vor und kann den Ministerrat zu Sitzungen unter seiner Leitung einberufen. Ein wichtiges Machtmittel liegt in seinem Vetorecht gegen vom Parlament beschlossene Gesetze. Doch demgegenüber unterstehen dem Ministerpräsidenten nicht nur das Kabinett, sondern auch der durch ein kürzlich beschlossenes Gesetz zum »Staat im Staate« mit juristischer Immunität ausgebaute Geheimdienst MIT, das Religionsamt Diyanet mit seinen 100000 verbeamteten Imamen in 85000 Moscheen sowie die für die Vergabe lukrativer Aufträge im boomenden Bausektor zuständige Wohnungsbaubehörde TOKI.

Erdogan hat angekündigt, im Unterschied zu seinem Vorgänger Abdullah Gül nicht nur oberster Repräsentant des Staates sein zu wollen. Er wird versuchen, den Übergang zum Präsidialsystem faktisch schon vor einem neuen Anlauf zur Verfassungsänderung nach den Parlamentswahlen im kommenden Jahr zu vollziehen. Möglich wird ihm dies nur sein, wenn sein Nachfolger als Ministerpräsident seinerseits nicht alle Befugnisse ausschöpft. So dürfte Erdogan in den ihm noch verbleibenden drei Amtswochen bereits mit der Umgestaltung des Kabinetts durch die Berufung enger Gefolgsleute und nicht in die AKP-internen Machtkämpfe verbundener Technokraten beginnen.

Als aussichtsreichster Nachfolger als Ministerpräsident gilt laut Medienberichten vom Wochenende der derzeitige Außenminister Ahmet Davutoglu. Dieser steht zwar in der Kritik aufgrund des Scheiterns seiner stark auf die Muslimbruderschaft orientierten Nahostpolitik. Für seine Loyalität spricht aus Erdogans Sicht wohl aber das Fehlen einer eigenen Hausmacht innerhalb der AKP. Als möglicher neuer Außenminister im Gespräch ist neben dem bisherigen Europaminister Mevlüt Cavusoglu auch Geheimdienstchef Hakan Fidan. Der Erdogan-Vertraute gilt als Architekt des Friedensprozesses mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Er leitet zudem die logistische Unterstützung der von türkischem Territorium gegen Syrien agierenden dschihadistischen Banden. Innenminister könnte der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok werden, heißt es in der zum Gülen-Imperium gehörenden Tageszeitung Todays Zaman. Altinok war nach Bekanntwerden eines durch Gülen-nahe Staatsanwälte angestoßenes Korruptionsermittlungsverfahrens gegen führende AKP-Politiker im vergangenen Dezember an die Spitze der Polizeibehörde gerückt. Dort hatte er entsprechende Ermittlungen auch gegen Erdogans Sohn Bilal gestoppt. Er gilt als zentrale Figur bei der derzeitigen Säuberung der Polizei von Gülen-Anhängern.

** Aus: junge Welt, Dienstag 12. August 2014 (Kommentar)


"Neue Türkei" mit altem Sultan

Olaf Standke über den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan ***

Recep Tayyip Erdogan wäre gern ein Obama, ein Hollande. Das heißt, damit keine Missverständnisse entstehen: Er hätte gern deren Machtfülle. Deshalb sieht er seinen Sieg in der ersten Direktwahl eines türkischen Präsidenten bei aller Genugtuung auch nur als Zwischenschritt. Er will kein politischer Frühstücksdirektor sein, sondern das System in seinem Sinne so umkrempeln, wie es vor ihm wohl nur Staatsgründer Atatürk getan hat: Eine »neue Türkei« – natürlich mit altem »Sultan«, wie ihn seine Anhänger nennen. Dafür jedoch sind weitreichende Verfassungsänderungen erforderlich, und für die braucht der 60-Jährige die notwendige parlamentarische Mehrheit, die er zur Zeit noch nicht hat. Insofern ist nach der Wahl vor der Wahl, geplant für nächsten Juni.

Erdogan könnte also zeigen, dass er wirklich, wie in seiner Siegesrede angekündigt, als Staatsoberhaupt aller 77 Millionen Türken agiert, und dass die Konflikte der Vergangenheit in der von ihm verkündeten »neuen Ära« tatsächlich beigelegt werden. Kritiker seines bisherigen islamisch-konservativen Kurses haben da aber ihre Zweifel. Hinzu kommt, dass der durch staatliche Großprojekte stimulierte Wirtschaftsaufschwung längst ins Stocken geraten ist und die Kriege der Region nicht nur in Gestalt von fast 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen Teil der türkischen Realität geworden sind. Erdogans von autoritären und nationalistischen Tönen geprägter Wahlkampf jedenfalls ließ wenig spüren von einem neuen Geist.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag 12. August 2014 (Kommentar)


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