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Glänzende Geschäfte

Während Syriens Wirtschaft mit Verlusten zu kämpfen hat, profitiert die Türkei von der Kriegsökonomie – und die Miliz »Islamischer Staat«

Von Karin Leukefeld *

Syriens staatliche Industrie hat durch den Krieg und internationale Sanktionen seit 2011 direkt und indirekt wirtschaftliche Verluste in Höhe von umgerechnet 1,1 Milliarden Euro zu verkraften. Das geht aus einem Bericht des Industrieministeriums in Damaskus hervor, der in dieser Woche veröffentlicht wurde. Besonders hart betroffen sind den Angaben zufolge der Chemie- und Pharmasektor sowie die Baumwollproduktion, die von bewaffneten Gruppen bei Angriffen verbrannt oder geplündert worden sei. Auch andere Bereiche wie Tabak, Zucker, Textil, Maschinenbau oder Zement haben große Einbrüche zu verzeichnen. Bereits im Juli hatte das für Ressourcen und Rohstoffe zuständige Ministerium die Verluste in der Öl- und Gasindustrie auf 21,4 Milliarden US-Dollar beziffert.

Die Türkei hingegen profitiert von dem Krieg im Nachbarland. Nachdem die Wirtschaft 2011 zunächst eingebrochen war, hat sich im Grenzgebiet inzwischen eine Kriegsökonomie etabliert, von der sowohl die Türkei als auch Aufständische in Syrien profitieren. Die Exporte in die Gebiete Syriens, die von den bewaffneten Gruppen »Islamischer Staat« (IS) und der Al-Qaida-nahen Nusra-Front kontrolliert werden, machen umgerechnet mehr als 900 Millionen US-Dollar aus. Das berichtet die türkische Zeitung Taraf unter Berufung auf die Vereinigung der türkischen Exportwirtschaft. IS kontrolliere wichtige Grenzübergänge zur Türkei, von wo die Gruppe sich mit Fahrzeugen, Ersatzteilen, Kleidung, haltbaren Nahrungsmitteln und Elektronik versorge. Besonders gefragt seien Mobiltelefone sowie chemische und medizinische Produkte. Die meisten Exporte würden über den Übergang Kilis abgewickelt, dessen syrische Grenzstadt Asas seit September 2013 von der »Islamischen« und der Nusra-Front kontrolliert wird. Seitdem hätten die Exporte aus der Türkei um 79 Prozent zugenommen, berichtet Taraf. Dieser Grenzübergang wird auch von ausländischen Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen sowie einigen UN-Organisationen genutzt.

Umgekehrt rollen über die von IS kontrollierten Grenzübergänge Güter, die die Kämpfer in Syrien gestohlen haben. Baumwolle und Weizen, Inventar geplünderter Fabriken und vor allem Öl aus den Quellen in Deir Ezzor und Hasaka. Auch Antiquitäten werden von IS über die Türkei auf den lukrativen Weltmarkt geschmuggelt. Rücksichtslos habe die islamistische Miliz die Plünderung historischer Orte in Auftrag gegeben, von denen viele als Weltkulturerbe gelten, schreibt die türkische Zeitung Radikal. Beobachter vermuten, daß die dadurch erzielten Einnahmen fast so hoch sein könnten wie die Spenden der Sponsoren vom Golf und die »Schutzgelder und Steuern«, die IS von den in der Region verbliebenen Menschen erpreßt. Dem britischen Guardian zufolge sind internationale Kunsträuber am Werk, die sich auskennen. IS würde von diesen 20 Prozent »Plünderungssteuer« eintreiben. Was nicht bewegt werden kann, wird zerstört.

Auf türkischer Seite wird das Diebesgut über die Hafenstädte Antakiya, Iskenderun und Ceyhan weitertransportiert. Ohne das Wissen türkischer Behörden wäre das nicht möglich. Wahrscheinlich ist auch, daß der Handel mit den geraubten Kulturgütern den vielen Geheimdiensten, die in dem Grenzgebiet agieren, nicht entgangen ist. National Geographic veröffentliche im Juli Satellitenbilder, die – im Vergleich zu Bildern aus dem Jahr 2011 – den massiven Raub dokumentieren.

* Aus: junge Welt, Freitag 5. September 2014


Dampf abgelassen

Die Türkei steht vor großen Wirtschaftsproblemen: Verschuldung, nachlassendes Wachstum, hohe Inflationsrate

Von Wolfgang Pomrehn **


Der neue türkische Premierminister Ahmet Davutoglu hat sein Wirtschaftsprogramm vorgestellt. Die Probleme, die damit gelöst werden sollen, sind nicht gerade klein. Die Inflationsrate hat zuletzt knapp unter zehn Prozent gelegen, was nach Angaben der Wochenzeitung Turkish Weekly vor allem eine Folge der steigenden Preise für Nahrungsmittel war. Davutoglu verspricht, das Fünf-Prozent-Ziel der unabhängig agierenden Notenbank zu unterstützen. Das könnte sowohl für die Verbraucher als auch die Gewerbetreibenden eine gute Nachricht sein. Eine niedrigere Inflation bedeutet nämlich auch günstigere Kredite.

Die Frage ist allerdings, wie das Ziel in dem derzeitigen Umfeld mit dem wirtschaftsliberalen Instrumentarium erreicht werden soll, das sich bei den regierenden Konservativen großer Beliebtheit erfreut. So versprach Davutoglu, der Wechselkurs solle weiter »frei flottieren«, das heißt, von den Devisenmärkten bestimmt werden. Das ist sicherlich einerseits unter den gegebenen Umständen eine wichtige Voraussetzung, um die ausländischen Geldgeber nicht abzuschrecken, von denen die türkische Wirtschaft im hohen Maße ahängig ist. Andererseits ist diese Politik angesichts der finanzpolitischen Eckdaten nicht ohne Risiko.

Die Türkei hat nämlich inzwischen eine Außenschuld von knapp 390 Milliarden US-Dollar (296 Milliarden Euro) angehäuft. Das entspricht knapp 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Es gibt sicherlich eine Reihe von Staaten, die stärker verschuldet sind, und tatsächlich hat das Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahrzehnts das Verhältnis der Auslandsschulden zur Wirtschaftsleistung erheblich verbessert. Dennoch hat das Land nach wie vor das Problem eines hohen Außenhandels- und Zahlungsbilanzdefizits, was es in Kombination mit der Verschuldung anfällig gegen Währungsschwankungen macht. Nach Angaben der Weltbank wies die Leistungsbilanz – also die Summe aller die türkischen Grenzen überschreitenden Zahlungen und Handelsströme – 2012 ein Minus von 6,1 und 2013 ein Minus von 7,9 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Mit anderen Worten, aus dem Land fließen regelmäßig mehr Kapital und Waren ab, als herein kommen. Für das laufende und die kommenden Jahre wird bestenfalls eine leichte Verbesserung erwartet.

Verschlimmert wird die Lage dadurch, daß die türkische Lira an Wert verliert, was zwar Exporte erleichtert, aber zugleich Importe verteuert und die Bedienung der Auslandsschulden erschwert. Seit 2010 hat die Lira in zwei Wellen gegenüber dem Euro rund 30 Prozent verloren, ist aber in den vergangenen Monaten relativ stabil gewesen. Möglich wurde das allerdings erst, nachdem die Zentralbank die Kreditzinsen deutlich erhöht hatte. So sollte der Abfluß von Kapital aus dem Land unattraktiv gemacht werden, was offensichtlich für’s erste auch gelungen ist. Der Preis für die Lira-Stabilisierung ist allerdings hoch, denn höhere Kreditzinsen machen es den Unternehmen schwerer, Kredite für neue Investitionen aufzunehmen.

Für den neugewählten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine regierende »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (Adalet ve Kalknma Partisi, AKP) sind das schlechte Nachrichten, denn ihr bisheriger Erfolg baut vor allem auf dem Wirtschaftswachstum auf, das die türkische Wirtschaft im vergangenen Jahrzehnt hatte. Anfang des Jahrtausends betrug das BIP pro Kopf nach heutigem Kurs nur etwas mehr als 3000 Euro, bis 2013 war es auf knapp 8400 Euro pro Kopf angewachsen.

Doch inzwischen hat die türkische Lokomotive Dampf ablassen müssen: 2011 hatte das Wirtschaftswachstum noch 8,8 Prozent betragen, doch in den Folgejahren fiel es auf 2,1 (2012) und vier Prozent (2013). Für das laufende Jahr rechnet die Weltbank mit 2,4 und der IWF mit 2,3 Prozent, und auch für die nächsten Jahre sind die Prognosen eher zurückhaltend. Der von der AKP erträumte Aufstieg zur zehntstärksten Wirtschaftsmacht bis zum Jahr 2023 scheint in weite Ferne gerückt.

Derweil will die neue Regierung dem Leistungsbilanzproblem unter anderem mit der Verringerung der Ener­gieimporte zu Leibe rücken. Geplant sind der Bau neuer Kohlekraftwerke, mit der heimische Vorkommen ausgenutzt werden sollen, sowie der Ausbau erneuerbarer Energien. Derzeit entstehen bereits diverse Windparks mit deutschen und chinesischen Anlagen.

Der Bau zweier Atomkraftwerke wird in diesem Zusammenhang von Davutoglu ebenfalls genannt. Eines soll bei Sinop an der Schwarzmeerküste entstehen und für 22 Milliarden US-Dollar (17 Milliarden Euro) von einem japanisch-französischen Gemeinschaftsunternehmen gebaut werden. Ein zweites ist am Mittelmeer in der Nähe von Akkuyu geplant. Dort sollen ab 2016 vier Reaktoren aus russischer Produktion errichtet werden.

Ob das allerdings eine wirtschaftlich sinnvolle Entscheidung ist, darf bezweifelt werden, insbesondere im Falle Sinop, wo ein neuer Reaktortyp gebaut wird, mit dem es bisher kaum Erfahrungen gibt. Erst Anfang dieser Woche hatte der französische AKW-Bauer Areva, der auch in Sinop beteiligt sein wird, aus Finnland erneute Bauverzögerungen gemeldet. Dort baut das Unternehmen gemeinsam mit Siemens seit 2005 das AKW Olkiluoto 3. 2009 sollte es fertig sein, nun wird es wohl erst 2018 ans Netz gehen. Die Baukosten liegen bislang 3,9 Milliarden Euro über den geplanten. Aber auch diese werden von den Statistikern in das finnische Bruttoinlandsprodukt eingerechnet, woran deutlich wird, wie zwiespältig dessen Wachstum sein kann.

In Istanbul haben Zehntausende Men­­schen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten den Boom der vergangenen Jahre mit ihrer Vertreibung bezahlen müssen. Und in den Kohlebergwerken von Soma starben erst am 13. Mai 301 Bergleute, weil der private Betreiber an Sicherheitsvorkehrungen gespart hatte. Gewerkschafter aus der Stadt berichten, daß bisher weder die Verantwortlichen zur Rechenschaft noch Lehren aus dem Unfall gezogen wurden. Statt dessen seien gewerkschaftliche Proteste und Gedenkveranstaltungen verboten worden.

** Aus: junge Welt, Freitag 5. September 2014


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