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Aktuelle Bewertung

Demokratieoffensive?

Von Amed Dicle *

Am 28. Februar fand in Istanbul im Dolmabahçe-Palast, der ehemaligen Sultanresidenz, eine Pressekonferenz statt. Sie unterschied sich von herkömmlichen Konferenzen in der Politik. Denn es haben daran teilgenommen: der stellvertretende Ministerpräsident der türkischen Republik, der Innenminister, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei und der Staatsminister für öffentliche Ordnung, der den Staat repräsentieren soll. Letzterer mit besonderer Bedeutung, da sein Amt per Gesetz mit der Lösung der kurdischen Frage beauftragt ist.

Auf der anderen Seite nahmen an der Konferenz drei Parlamentsabgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) teil. Diese Abgeordneten arbeiten als die »İmralı-Delegation«. Sie trifft sich mit dem Vorsitzenden der kurdischen Bewegung, Abdullah Öcalan, der auf der Insel İmralı gefangen ist, übermittelt seine Botschaften an die PKK sowie den Staat und organisiert diese Kommunikation. Das ist eine wichtige und historische Aufgabe. Beide Seiten erkennen die Rolle der HDP an und empfangen sie.

Diese technischen Vorabinformationen sind wichtig. Was das Treffen im Dolmabahçe-Palast noch wichtiger machte, waren allerdings nicht nur diese Personen und der Inhalt dieses Treffens, sondern die Tatsache, dass Öcalans Botschaft verlesen und von allen TV-Kanälen live übertragen wurde.

Wer ist Öcalan?

Öcalan wird vom Staat und dessen Medien als Terrorist tituliert. Bei den KurdInnen und den DemokratInnen in der Türkei aber wird er als Anführer der kurdischen Bewegung gesehen, der sein gesamtes Leben der Freiheit und dem Frieden widmet. Aber sieh mal eineR an: Der Staat sitzt mit VertreterInnen dieses Terroristen, den er zu lebenslanger Haft verurteilt hat, in einem Bild, verschickt dessen Botschaft live und akzeptiert ihn als Gesprächspartner zur Lösung der kurdischen Frage.

In dieser Hinsicht sind die gegenwärtigen Entwicklungen – egal wie sie weitergehen – und diese Versammlung wichtig. Insbesondere für die KurdInnen und die vom System ausgeschlossenen demokratischen Strukturen sind sie ein Gewinn. Der türkische Staat hat zum ersten Mal in seiner Geschichte eine von ihm ausgegrenzte Gesellschaftsgruppe anerkannt und sich mit ihr an einen Tisch gesetzt.

Öcalan stellte in dieser Pressekonferenz zehn Punkte vor und forderte, dass darüber zur Lösung der kurdischen Frage und der Demokratisierung der Türkei verhandelt werde. Im Falle einer Einigung über diese Punkte würde er zur Entwaffnung aufrufen. Er äußerte seinen Willen zur Beendigung des bewaffneten Kampfes.

Der Staat hat das Verhandeln über diese Artikel wohl akzeptiert, sodass er die Pressekonferenz inszenierte. In diesem Rahmen schickte Öcalan auch zu Newroz eine Botschaft: Wenn die Verhandlungen beginnen und eine Wahrheitskommission gegründet wird, werde ich zur Beendigung des bewaffneten Kampfes gegen die Türkei aufrufen. All diese Initiativen wurden nach Gesprächen und Verhandlungen zwischen VertreterInnen des Staates und Öcalan auf der Gefängnisinsel Imralı ergriffen. Der geplante Ablauf: Zuerst wird ein Fahrplan bestimmt. Dafür präsentierte Öcalan einen Rahmen in Form von zehn Punkten. Falls vorhanden, macht auch der Staat Vorschläge. Dann sollen sich Delegationen, die beide Seiten vertreten, auf Imralı an einen Tisch setzen. An diesem Tisch soll eine weitere Delegation sitzen, ein Beobachtungskomitee. Das war ein Vorschlag Öcalans. Dieses Komitee soll die Diskussionen beider Seiten anhören und aufzeichnen, Zeuge sein und an Punkten, an denen sich die Seiten nicht einigen, eigene Vorschläge machen und dabei die Verhandlungen erleichtern. Wenn eine der Seiten die Regeln missachtet, greift das Komitee ein. Für dieses Gremium sollen schon einige Namen festgelegt worden sein.

Nachdem sich die Seiten über diese zehn Punkte geeinigt haben, soll eine Wahrheitskommission eingerichtet werden. Öcalan will eine unabhängige Kommission, die die Fehler und Verbrechen beider Seiten in den Kämpfen und Auseinandersetzungen der dreißig Jahre des Krieges untersucht. Die Idee lehnt sich an die Erfahrungen aus Südafrika an. Seine Bitte war, dass diese Kommission zuerst ihn befragt. Öcalan betonte, dass er vor dieser Kommission aus ParlamentarierInnen und unabhängigen Persönlichkeiten zum Niederlegen der Waffen aufrufen werde.

Wer diese Entwicklungen ein bisschen genauer verfolgt, wundert sich sehr schnell, wie ein so tiefgreifender Konflikt mit solch einfachen Methoden gelöst werden kann. Das ist eine Verhandlungsmethode, die von allen, die einen Willen zur Lösung dieser Frage zeigen, akzeptiert wird. Am Anfang dieser Verhandlungsphase stehen auch keine inakzeptablen Forderungen. KurdInnen und ihr Repräsentant Abdullah Öcalan wollen nur, dass sie als Volk anerkannt werden. Sie wollen vom bewaffneten Kampf zum politischen Kampf übergehen und setzen dafür einfach nur gesetzliche Rahmenbedingungen voraus. Der Staat in seiner Einheit wird gar nicht angetastet. Die Hauptforderungen sind lediglich die Stärkung der kommunalen Verwaltung und die Einführung einer demokratischen Verfassung.

Aber leider ist der von Öcalan entworfene Rahmen nicht realisiert worden – noch nicht. Der Staatspräsident der Türkei begrüßte schon einige Stunden später die Pressekonferenz vom 28. Februar. Zehn Tage später jedoch äußerte er mehrmals, dass diese Konferenz ein Fehler gewesen und ein Beobachtungskomitee nicht notwendig sei und es ohnehin keinen KurdInnen-Konflikt in der Türkei gebe. Das nahm ihm natürlich niemand ab. Es sind die veränderten Umstände, die Erdoğan zu diesen unglaublichen Aussagen drängten. Er hatte nicht erwartet, dass die kurdische Seite diesen Prozess so unkompliziert machen würde, nicht gedacht, dass dieser Prozess einen so ernsthaften Verlauf nehmen könnte. Er hatte nämlich nicht die Lösung, sondern nur so tun gewollt, als ob. Nun gibt er sich so, als hätte er nichts mit dem Prozess zu tun gehabt – frei nach dem Motto: »Ich war nicht daheim.«

Warum?

Weil es im Juni in der Türkei Parlamentswahlen gibt, die das Schicksal der AKP Erdoğans bestimmen werden. Wenn er im Rahmen der Vorschläge Öcalans agiert, dann wird er keine Stimmen mehr von nationalistischen TürkInnen bekommen, die inzwischen als seine einzige Klientel übrig geblieben sind. Dass er in Kurdistan weniger Stimmen bekommen wird, sagen sogar die Umfragen voraus. Sein Ziel sind 330 Abgeordnete und über ein Referendum das Präsidialsystem in der Türkei einzuführen. Dafür muss die HDP aber unter der Wahlhürde von zehn Prozent bleiben, unterhalb derer die Parteien nicht in die Nationalversammlung einziehen dürfen. Die HDP liegt derzeit an der Grenze. Sie hat versichert, wenn sie ins Parlament kommt, sich gegen das Präsidialsystem zu verhalten, da es einem diktatorischen System gleichkomme. Laut Erdoğans Rechnung wird die HDP die Zehnprozenthürde überwinden, falls sie ihre Politik im Rahmen der von Öcalan vorgelegten Schritte betreibt. Wenn die Hürde überwunden wird, dann ist sogar die ganze Herrschaft Erdoğans gefährdet. Er wird deshalb keinen Lösungsprozess akzeptieren, der seine Herrschaft in Gefahr bringt. Deshalb ist dieser Prozess, wohl bis zur Wahl, auf Eis gelegt.

Die Wahl findet am 7. Juni statt. Alle politischen Kräfte in der Türkei und natürlich auch die KurdInnen rechnen alle möglichen Wahlausgänge durch. Es gibt sehr viele, die dem politischen Projekt der HDP distanziert gegenüberstehen, aber auch auf gar keinen Fall Erdoğan als Präsidenten der Türkei sehen wollen. Und sie werden, um Erdoğan aufzuhalten, die HDP unterstützen. Die HDP hat ihre 550 KandidatInnen bekannt gegeben. Darunter sind 268 Frauen, genauso wie KurdInnen, TürkInnen, AlevitInnen, ÊzîdInnen und etliche andere Gesellschaftsgruppen. Alle, die vom System ausgegrenzt werden, haben sich unter dem Dach der HDP versammelt. Als ein demokratisches Modell bestimmt die HDP als Systemopposition derzeit die gesamte politische Tagesordnung. Wenn sie die Zehnprozenthürde überwindet, wird sie im Zentrum des gesamten politischen Geschehens des Landes stehen und ihren Beitrag dazu leisten, die Türkei zu normalisieren.

Erdoğans AKP kalkuliert, im Parlament die für eine Verfassungsänderung notwendige Mehrheit zu erlangen. Mit der dafür nötigen Stimmenzahl wird sie der kurdischen Bewegung ihr eigenes Projekt aufdrängen. Es war die gleiche AKP, die in einer Friedensphase zur Wahl antreten wollte. Sie wollte vor der türkischen Bevölkerung als Partei auftreten, die den bewaffneten Kampf der PKK beendet hat. Sie wollte als Partei auftreten, die den vierzigjährigen Krieg beendet hat und somit Stimmen von KurdInnen und TürkInnen bekommen sollte. Durch die Offensiven der KurdInnen ist sie aber nun ins Hintertreffen geraten und hat Punkte verloren.

Die Politik akzeptiert keine Absolutheiten. Alle werden nach den Wahlergebnissen von Neuem ihre Rechnungen anstellen. Aber die kurdische Bewegung und die HDP werden aktiv und prinzipientreu an ihrer Politik einer demokratischen Lösung und des Friedens festhalten, der Erfolg der HDP bedeutet die Schwächung der AKP. Eine schwache AKP kann niemandem den Krieg und eine antidemokratische Politik aufzwingen. Sie muss die Lösung akzeptieren. Doch wenn die HDP nicht ins Parlament einzieht, gibt es nicht mehr viele politische Plattformen. Wie der Prozess dann weitergeht, werden wir am Morgen des 8. Juni sehen.

Ein weiterer Faktor, der sowohl die Entwicklungen in der Türkei beeinflusst als auch von ihnen beeinflusst wird, ist Rojava. Der türkische Staat hat mit Beginn der Syrienkrise aus zwei ausschlaggebenden Gründen die KurdInnen in Rojava politisch, wirtschaftlich, diplomatisch und militärisch Angriffen ausgesetzt:

Die Türkei wollte nicht, dass die KurdInnen in Syrien so wie im Irak einen Status erlangen. Sie ging davon aus, dass das dann die KurdInnen im eigenen Land beflügeln und eine neue kurdische Dynamik vom Zaun brechen würde. Erdoğan hat sich deshalb offen gegen einen solchen Status in Syrien ausgesprochen.

Wenn sich zusätzlich dieser eventuelle Status um die Ideen Öcalans herum formen sollte, hätte das einen unkalkulierbaren Einfluss auf ganz Syrien und würde aus Sicht der Türkei insbesondere ihr Grenzgebiet zum Nachbarland gefährden. Wobei letztere Bedenken unbegründet sind, denn die Rojava-Administration hat stets für friedliche nachbarschaftliche Beziehungen zur Türkei plädiert.

Doch Fakt ist, dass ein erstarkter Widerstand der KurdInnen in Syrien auch dem Freiheitskampf der KurdInnen in der Türkei Kraft gibt. Eben das ist auch eingetreten. Die Türkei hingegen wollte auf der einen Seite scheinbar Frieden mit dem kurdischen Widerstand schließen, auf der anderen Seite war sie Aktivposten im Kampf gegen Rojava. Die ganze Welt wurde Zeuge, wie die Türkei dem Islamischen Staat (IS) bei seinem Großangriff auf Kobanê (Ain al-Arab) unter die Arme gegriffen hat. Allein die unzähligen Videoaufzeichnungen von den Spaziergängen der IS-Kämpfer über die türkisch-syrische Grenze belegen das. Selbst nach dem Sieg in Kobanê hat die Türkei äußerst unwillig und in unzureichendem Maße die Grenze für humanitäre Hilfe geöffnet. Sie ist zwar der internationalen Anti-IS-Koalition beigetreten, erklärte aber zugleich, die Bombardierung von IS-Stellungen nicht wirklich nachvollziehen zu können. All das zeigt, wie sehr die Regionalpolitik der Türkei gegen die Wand gefahren ist.

Doch die Türkei kalkuliert weiterhin mit einer Wende in ihrem Sinne in Rojava. Das ist auch ein Grund dafür, dass sie derzeit die Gespräche mit Öcalan in die Länge zieht und konkreten Ergebnissen ausweicht. Sie erhofft sich, gestärkt in die Verhandlungen gehen zu können, wenn sie zuvor dem Selbstverwaltungssystem in Rojava einen schweren Schlag versetzt hat. Doch die Entwicklungen dort machen deutlich, dass es wohl eine verlorene Hoffnung ist, an die sich die VertreterInnen des türkischen Staates klammern.

Aus der Spirale der Gewalt in Syrien zeichnet sich zumindest kurzfristig kein Ausweg ab. Dafür hat auch niemand ein Rezept zur Hand. Solange das Chaos dort anhält, wird es sich in Rojava wohl oder übel negativ auswirken. Aber in Rojava wurde auch ein Gesellschaftsmodell etabliert, das für ganz Syrien richtungsweisend sein kann. Denn selbst, wenn diese Gewaltspirale noch hundert Jahre anhält, wird im Endeffekt die einzige Lösung in einem Modell zu finden sein, in dem sich alle gesellschaftlichen Gruppen gleichberechtigt und frei wiederfinden können. In Rojava wird dieses Modell derzeit umgesetzt. Außerhalb Rojavas gibt es aktuell leider kein anderes Beispiel in Syrien, das ebenfalls Mut zur Hoffnung macht. Die Türkei hingegen, wie auch der Iran, versucht in Syrien im Sinne ihres eigenen Hegemoniestrebens Einfluss zu nehmen. Ein demokratisches Gesellschaftssystem, das sich den Willen der Bevölkerung zum Maßstab nimmt, ist deswegen für diese Staaten ein rotes Tuch, weshalb sie sich bis auf Weiteres auch nicht auf das Modell Rojava einlassen werden.

Zusammengefasst haben die Entwicklungen in Rojava und Syrien großen Einfluss auf die Entwicklungen in der Türkei. Ein Erfolg der KurdInnen in Rojava wird unausweichlich auch den KurdInnen in der Türkei Kraft spenden. Und die Wahlergebnisse am 7. Juni werden auch nicht nur die Richtung der Entwicklung der Türkei bestimmen, sondern auch auf die Entwicklungen in der gesamten Region ausstrahlen. Denn eine demokratische Lösung in der Türkei wird die Demokratiebestrebungen im gesamten Mittleren Osten beflügeln, wohingegen Stagnation und Chaos in der Türkei sich ebenfalls negativ auf die Entwicklungen in der Region auswirken werden.

Eine ähnliche Entwicklung wie Rojava macht derzeit auch Südkurdistan durch, wobei es sich durch einige Eigenheiten auszeichnet. Wenn sich das Chaos im Irak auch nicht mit der Situation in Syrien vergleichen lässt, so ist der Irak doch ebenso weit von politischer Stabilität entfernt. Angefangen bei Şengal (Sindschar) kontrolliert der IS weiterhin eine Vielzahl von Regionen im Land. Und auch die Beziehungen zwischen der kurdischen Regionaladministration und der irakischen Zentralregierung mögen zwar nicht so angespannt sein wie unter dem ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Al-Maliki, doch gut sind sie gegenwärtig keineswegs.

Großes Interesse der Bevölkerung hat die Unterstützung der PKK-Guerillakräfte bei der Verteidigung Südkurdistans nach den Angriffen des IS geweckt. Gestört von dieser Sympathie in der Bevölkerung für die PKK fühlt sich hingegen die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) von Barzanî. Deren Haltung ist auch der Grund dafür, dass derzeit keine gemeinsame Befreiungsaktion für Şengal durchgeführt werden kann. Sie will keine Schlagzeilen über die Befreiung Şengals durch die PKK. Aber zugleich will sie auch nicht, dass die Guerillakräfte der PKK ihre Stellungen in Südkurdistan verlassen, weil sie dort gegen den IS gebraucht werden. Ein schwieriger Spagat, den die PDK also derzeit zu meistern versucht.

Die PDK hat sich entschieden, im Irak und in Südkurdistan politisch vor allem mit der türkischen AKP-Regierung zusammenzuarbeiten. Ein Grund dafür sind die gegenseitigen wirtschaftlichen Interessen. Der zweite Grund ist die Sorge beider vor einem Erstarken der PKK in Südkurdistan. Das würde unausweichlich den Machtanspruch der PDK in Frage stellen. Und die einzige Kraft, welche die PKK schwächen kann, ist die Türkei, so das Kalkül der PDK. Der Gegenvorschlag der PKK dazu ist der kurdische Nationalkongress. Dadurch soll das Verhältnis zwischen den kurdischen politischen Kräften zumindest entspannt werden. Eingebunden werden in diesen innerkurdischen Verständigungsprozess soll auch die Patriotische Union Kurdistans (YNK), die im Gegensatz zur PDK gute Beziehungen zum Iran pflegt. Zwischen YNK und PDK zeichnet sich ohnehin ein weiteres Streitthema ab. Die Präsidentschaft von Masud Barzanî läuft diesen Sommer aus. Das war sie eigentlich bereits vor zwei Jahren, doch nach langer Zankerei wurde sie schließlich doch noch mal um zwei Jahre verlängert. Wie es diesen Sommer ausgehen wird, ist derzeit unklar. Alle Streitparteien erwarten dabei auch die Unterstützung der PKK. Doch die hat erklärt, dass sie in dieser Frage unabhängig bleiben will, und vorgeschlagen, die Entscheidung der Bevölkerung zu überlassen. Aktuell sieht es so aus, als sei ohne eine Lösung dieses Streits auch kein kurdischer Nationalkongress zu erwarten.

Bereits oben ist angeklungen, dass der Iran auch eines der Machtzentren der Region darstellt. Er ist gegen eine türkisch-kurdische Verständigung. Ein Frieden zwischen ihnen liegt nicht in seinem Sinne. Denn wenn die Türkei mit den KurdInnen Frieden schließt, dann werden Letztere in der Türkei einen Status erlangen, gleichzeitig auch in Syrien ihren Status festigen. Damit wären gleich drei Beine des Vertrages von Lausanne weggebrochen. Und für den Iran wäre es dann eine Sache der Unmöglichkeit, die Verleugnung der KurdInnen allein aufrechtzuerhalten. So müsste er sich entscheiden: entweder sich mit den KurdInnen im Iran einigen oder ihnen den Krieg erklären. Im Falle einer Einigung müssten die Rechte der KurdInnen anerkannt werden. Doch das lässt das politische System des gegenwärtigen Iran nicht zu. Ein Krieg gegen die KurdInnen innerhalb der eigenen Staatsgrenzen könnte allerdings auch eine gefährliche Dynamik im Land entfachen, was nicht unbedingt im Sinne des iranischen Staates wäre. Um weder das eine noch das andere machen zu müssen, greift er deshalb derzeit auf eine klassische Methode aus der politischen Trickkiste zurück – die politischen Gegner sich außerhalb des eigenen Territoriums bekriegen zu lassen. Er versucht derzeit, erneut bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK zu provozieren. Und instrumentalisiert das Regime in Syrien gegen die Selbstverwaltung von Rojava. Das ist ein sehr riskantes Spiel des Iran, das am Ende allen schaden könnte.

Derselbe Iran hat auch regionalpolitische Ziele. Das Regime verfolgt politische Projekte im Irak, in Syrien, im Libanon und nun auch in Jemen. Zwischen dem Iran und Saudi-Arabien herrscht eine große politische Rivalität. Um seine regionalen Machtansprüche zu verwirklichen, wird er sich deshalb auch die KurdInnen an seiner Seite wünschen. Aus dieser Sicht betrachtet liegt sowohl ein Dialogangebot als auch eine Kriegserklärung des Iran an die KurdInnen im Bereich des Möglichen.

Als Ergebnis können wir festhalten:

Alle Entwicklungen in der Region gleichen ineinandergreifenden Zahnrädern. Keine Entwicklung verläuft unabhängig von anderen. Aus kurdischer Sicht spielen die Geschehnisse in Nordkurdistan eine Schlüsselrolle. Mit den Wahlen am 7. Juni wird entweder ausgehend von der Türkei ein Demokratisierungsvorstoß in der Region unternommen oder das genaue Gegenteil wird eintreten. Die Auswirkungen der Parlamentswahlen werden jedenfalls in der gesamten Region zu spüren sein.

Der Wunsch der KurdInnen ist eine demokratische Lösung. Ihr politisches Gewicht in den vier Staaten, auf die sie aufgeteilt sind, also Türkei, Iran, Irak und Syrien, ist groß. Und sie wollen sich nicht von diesen vier Ländern abspalten, sie wollen sie demokratisieren und dort frei und gleichberechtigt leben. Das ist ein schwieriger Weg bis dorthin, doch einen anderen gibt es nicht. Je nach den Umständen und Gegebenheiten wachsen der politische und der militärische Widerstand der KurdInnen auf diesem Weg.

* Aus: Kurdistan-Report, 179/2015 (Mai-Juni), S. 4-7; www.kurdistan-report.de


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