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"Sie werden uns nicht zum Schweigen bringen"

Grup Yorum feiert 2015 dreißigsten Geburtstag: Aller Repression zum Trotz hat die türkische Band große Pläne für die Zukunft. Ein Gespräch mit Caner Bozkurt *


Caner Bozkurt ist Mitglied von Grup Yorum, einer 1985 gegründeten türkischen Musikgruppe. Mit ihrem revolutionären Liedgut genießt die Band weit über die Grenzen der Türkei hinaus Bekanntheit, auch auf der XIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz im Januar 2014 trat sie auf. In der Türkei sind die Musiker wieder staatlichen Repressalien ausgesetzt, und auch in Deutschland wird es für die Gruppe zunehmend schwerer.

Grup Yorum feiert dieses Jahr 30. Geburtstag. Was waren die wichtigsten Erfolge der Band?

Mit unseren Liedern haben wir von Anfang an eine sehr breite Masse der Bevölkerung erreicht. So konnten wir Menschen verschiedensten Alters und mit den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Hintergründen revolutionäre Gedanken und Ideen näherbringen. Außerdem haben wir es geschafft, eine Art »gemeinsamer Nenner« für die linke Bewegung in der Türkei zu sein. Für all die verschiedenen Strömungen und Gruppierungen sind wir ein gemeinsamer Wert.

Musikalisch hat sich in der Zeit natürlich auch einiges getan, und wir haben vieles erreicht. Wir haben die traditionelle Musik Anatoliens mit eher westlichen Stilen vermischt und so einen neuen, progressiven Musikstil erschaffen. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren Tausende Konzerte gegeben und 22 Alben veröffentlicht. Unseren revolutionären Vorstellungen sind wir dabei bis heute treu geblieben. Wir machen so seit 30 Jahren aufrechte, revolutionäre Musik. Das macht uns weltweit fast einzigartig.

Wahrscheinlich auch wegen dieser unverändert revolutionären Haltung waren Sie immer wieder von heftigen Repressalien betroffen. Zuletzt wurde Ihr traditionelles Konzert »für eine unabhängige Türkei« verboten, zu dem im vergangenen Jahr noch eine halbe Million Menschen gekommen war. Es gab Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Was bedeutet es für Ihre Band, solch extremen Maßnahmen ausgesetzt zu sein?

Ein Grund dafür ist natürlich die aktuelle Zunahme an bewaffneten Aktionen gegen den Staat. Es gab Angriffe gegen die AKP, Polizeistationen, das US-Konsulat und zuletzt gegen den Staatsanwalt im Ca?layan-Gerichtsgebäude. Wegen dieser Aktionen haben sich die Angriffe des Staates gegen alle revolutionär-demokratischen Organisationen, die auf legalem Boden kämpfen, verstärkt. Grup Yorum ist da kein Einzelfall.

Das zeigt jedoch besonders eins sehr deutlich: die AKP-Regierung ist in einer tiefen Krise und sieht ihr Ende schon kommen. Sie versucht ihre Regierungsfähigkeit mit immer mehr Gewalt und Unterdrückung zu erhalten.

Sie wird uns aber nicht zum Schweigen bringen, und wir werden nicht einen Schritt zurückweichen. Im Gegenteil, wir müssen unseren demokratischen Kampf noch verstärken und ihn auf immer neue Ebenen tragen.

Die Repression gegen Grup Yorum ist nicht auf die Türkei beschränkt, auch in EU-Ländern wird die Band zunehmend kriminalisiert. Woran, denken Sie, liegt das?

Wir glauben, dass es in Europa zwei Gründe für eine Zunahme der Repression gibt. Zum ersten ist es ein Angriff gegen Organisationsprozesse von Immigranten. Darauf, dass sie zusammenkommen und ihre demokratischen Rechte einfordern. Zum Beispiel sind wir, eine Musikgruppe aus der Türkei, zum NSU-Prozess nach München gereist und haben eine Pressekonferenz vor dem Gerichtsgebäude abgehalten. So etwas ist den Herrschenden natürlich ein Dorn im Auge. Des weiteren unterhält die AKP-Regierung gute Beziehungen zu diversen europäischen Ländern wie Deutschland, den Niederlanden oder Österreich und übt Druck auf sie aus, den demokratischen Massenbewegungen Steine in den Weg zu legen.

Der eigentliche Grund ist jedoch, dass sich mit der stetigen Intensivierung der Krisen in den kapitalistischen Ländern, ja der Krisen des Kapitalismus, auch die Angriffe auf Revolutionäre intensivieren.

Trotz alledem machen Sie immer weiter und spielen überall auf der Welt. Zum Tag der Befreiung vom Faschismus waren Sie mit »Banda Bassotti« im Donbass, was zieht Sie dorthin?

Wir glauben an den Internationalismus, er ist seit unserer Gründung eines unserer wichtigsten Prinzipien. Der Kampf um den Sozialismus findet schließlich nicht nur in einem Land statt.

Wir werden immer dorthin gehen, wo wir gebraucht werden, also natürlich in die Ukraine, wo die Angriffe durch den Imperialismus und Faschismus momentan besonders heftig sind. Genauso werden wir in den Nahen Osten gehen, um die Menschen in ihrem antiimperialistischen Kampf zu unterstützen.

Auch nach Europa, wo Rassismus immer stärker wird, wo Arbeiterrechte beschnitten werden, werden wir selbstverständlich gehen. Das ist der Weg, den wir bis zum Ende gehen werden. Bis der Sozialismus auf der ganzen Welt aufgebaut ist. Wenn nötig, werden wir dafür von Land zu Land ziehen und die Menschen mit unserer Solidarität unterstützen.

Welche größeren Projekte stehen an?

Wir organisieren im Moment riesige Konzerte anlässlich unseres 30. Geburtstags. Diese werden auf den größten Plätzen von fünf Städten – unter anderem Izmir, Ankara und Istanbul – stattfinden.

Außerdem arbeiten wir an einem neuen Album, genaugenommen an zwei Alben, von denen eins noch diesen Monat erscheint, das andere kommt Ende des Jahres.

Unser momentan größtes Projekt, welches wir langfristig verfolgen wollen, ist die Gründung von Grup-Yorum-Schülerchören in verschiedenen Städten Anatoliens. Die Schüler werden in Grup-Yorum-Musikschulen unterrichtet, einmal im Monat auch von Mitgliedern der Band. Das Ziel dabei ist natürlich, neue Mitglieder für unsere Band zu gewinnen und neue Bands und Künstlergruppen zu schaffen. Wir werden aus Grup Yorum eine große Schule machen.

Wie schätzen Sie die türkische Linke in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen und der Schwäche der traditionell eigentlich starken Demonstrationen am 1. Mai ein?

Die Linke in der Türkei erlebt unter der AKP-Regierung tatsächlich eine lange nicht dagewesene Repression. Es gab jedoch auch schon Lichtblicke gegen diese Unterdrückung, zum Beispiel die Erfahrungen vom Gezi-Aufstand im Sommer 2013.

Wir sind der Meinung, dass ein Hauptproblem der Linken darin besteht, keine Verbindung zum Volk zu haben und sich von der Bevölkerung zu entfremden, anstatt ein Teil von ihr zu sein. Die Opportunisten und die reformistische Linke haben gleich überhaupt keine Beziehung zur Bevölkerung mehr, das nützt natürlich nur der Oligarchie und der Bourgeoisie.

Heißt das, die Linke ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um wirkungsvollen Widerstand zu leisten?

Nein, es gibt wirkungsvollen Widerstand. Viele Linke haben praktische Erfahrungen mit den verschiedensten Widerstandsformen. Aber lass uns über die allgemeine Haltung von uns Linken sprechen. Lassen wir die revolutionären Organisationen einmal beiseite und sehen uns an, wie wir gegen die Repression der AKP ankämpfen können. Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir müssen die Masse der Bevölkerung hinter uns vereinen, um gegen das Regime anzukommen. Das ist ein sehr harter und anstrengender Prozess, aber es ist der einzig zielführende.

Leider ist das Hauptproblem der Linken heutzutage, sich eben nicht in armen Nachbarschaften zu organisieren, nicht von Tür zu Tür zu gehen, um mit den Menschen über ihre Probleme zu sprechen. Die AKP aber macht das: Sie geht von Tür zu Tür und erzählt den Menschen genau, was sie hören wollen, und verleitet sie dazu, ihre Unterdrücker wiederzuwählen.

Was sind also unsere Handlungsoptionen? Sollen wir auf die Wahlen warten, darauf, dass die Regierung sich ändert, sollten wir es langsam angehen und die Dinge auf uns zukommen lassen? Sicherlich nicht. Wir müssen unseren Gegnern zuvorkommen und die Massen dort abholen, wo sie stehen. Wenn uns das nicht gelingt, wird uns der Faschismus auslöschen.

Interview: Willi Effenberger

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Mai 2015


Anschläge auf HDP-Büros

Terror in der Türkei **

Auf zwei Büros der prokurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker) im Süden der Türkei sind am Montag zeitgleich Anschläge verübt worden. Im HDP-Büro in Adana seien sechs Menschen verletzt worden, als ein verdächtiges Paket explodiert sei, sagte ein Parteivertreter der Nachrichtenagentur AFP. Am HDP-Hauptquartier in der nahegelegenen Stadt Mersin explodierte demnach nahezu simultan ein Sprengsatz.

Die HDP machte die islamisch-konservative Regierung für den Terror verantwortlich. »Einige von der Regierung unterstützte Kräfte versuchen, den Aufschwung und die Kampagne unserer Partei zu verhindern«, erklärte die linke Partei. HDP-Chef Selahattin Demirtas sprach bei einem Wahlkampfauftritt in Mersin wenige Stunden nach den Anschlägen von einer »Provokation«. Seine Partei werde sich »nicht beugen«.

Mit Blick auf die bevorstehende Parlamentswahl in der Türkei hatte die HDP in den vergangenen Wochen mehrmals über Angriffe auf Wahlbüros und Mitarbeiter geklagt. Nach Angaben der Partei waren es seit April 23 Angriffe. Einige Parteivertreter machten bereits zuvor die Regierungspartei verantwortlich. Bei der Wahl am 7. Juni spielt die HDP, der Umfragen um die zehn Prozent der Wählerstimmen voraussagen, eine Schlüsselrolle. Wenn die Partei den Sprung über die Zehnprozenthürde ins Parlament in Ankara schafft, sinken die Chancen für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, in der neuen Volksvertretung eine Mehrheit für Verfassungsänderungen zu erreichen. Mit den Verfassungsänderungen will die AKP den Übergang zu einem Präsidialsystem durchsetzen, das für Staatschef und Ex-AKP-Chef Recep Tayyip Erdogan weitreichende Vollmachten vorsieht.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verurteilte den doppelten Anschlag. Bei einem Wahlkampfauftritt im zentraltürkischen Karaman sagte er vor Tausenden Anhängern, er habe eine »klare Anweisung« für umfassende Ermittlungen gegeben. Mit Blick auf Anschuldigungen gegen seine Partei warnte er zugleich vor einer Kampagne zur Diskreditierung der AKP. »Wir sind von Anfang an gegen Gewalt eingetreten. Mit Gottes Willen werden wir in Frieden zum 7. Juni gehen«, sagte er.

Staatspräsident Erdogan schlug unterdessen schärfere Töne an. Bei einer Kundgebung in der Schwarzmeerstadt Samsun warf er der HDP deren Verbindungen zur – offiziell verbotenen – Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, vor. Er rief dazu auf, die HDP nicht zu wählen: »Ich sage allen in der Türkei (...) – wollen Sie, 78 Millionen, Ihre Stimme einer politischen Organisation geben, die von einer Terrororganisation geführt wird?« Gleichzeitig lässt Erdogan mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan Friedensgespräche führen.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 22. Mai 2015




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