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Erdogans Amoklauf

Der türkische Staatspräsident betätigt sich als Kriegsbrandstifter. Der Westen, Berlin eingeschlossen, unterstützt ihn dabei

Von Ulla Jelpke *

Zwei Monate nach den türkischen Parlamentswahlen, bei denen die Ambitionen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf eine Präsidialdiktatur am Wählervotum gescheitert sind, hat das Land immer noch keine neue Regierung. Statt dessen nutzt Erdogan das Machtvakuum für einen Amoklauf, der sein Land und den ganzen Nahen Osten in ein blutiges Chaos zu reißen droht. Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu haben mutwillig den Friedensprozess mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK aufgekündigt und sind dabei, das Land in einen neuen Krieg gegen die Kurden, aber auch gegen die syrische Regierung zu treiben.

Der offene Chauvinismus und die Angriffe auf die kurdische Freiheitsbewegung in der Türkei, im Irak und in Syrien zielen vor allem auf die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP): Diese hofft Erdogan als Unterstützerin einer Minderheitsregierung der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gewinnen oder ihr im Falle vorgezogener Neuwahlen Wählerstimmen abluchsen zu können. Vor allem soll die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) wieder unter die Zehnprozenthürde gedrängt werden, damit die AKP wieder alleine regieren kann. Dafür wird die HDP als Befehlsempfängerin der PKK diffamiert, ihren Parlamentariern die Aberkennung ihrer Immunität angedroht. Landesweit sind schon fast 1.000 HDP-Mitglieder inhaftiert worden, von einem Parteiverbot ist bereits die Rede.

Offenbar sind Erdogan und die AKP-Führer bereit, zum eigenen Machterhalt selbst das Risiko eines Bürgerkrieges einzugehen, um sich dann als Garanten von Stabilität und Sicherheit zu präsentieren.

Wird die demokratisch nicht mehr legitimierte Übergangsregierung der AKP dabei nicht durch Druck aus der eigenen Bevölkerung und dem Ausland gestoppt, droht der Türkei eine Rückkehr in die blutigen 90er Jahre – mit dem Unterschied, dass die Gewalt dann nicht mehr vor den westtürkischen Metropolen haltmachen wird.

Die AKP-Regierung gehörte bislang zu den wichtigsten Unterstützerinnen des »Islamischen Staates« (IS). Zum einen sollte der IS gegen die syrische Regierung aufgerüstet und zum anderen mit Hilfe der Dschihadisten die Etablierung einer kurdischen Selbstverwaltungsregion im Norden Syriens (Rojava) verhindert werden. Dafür gibt es mittlerweile unzählige Nachweise. Völlig offen konnten der IS und andere islamistische Gruppen in der Türkei agieren und rekrutieren. Die AKP stellte Krankenhäuser für verwundete Dschihadisten und Trainingscamps zur Verfügung und hielt die Grenze nach Syrien jahrelang für die aus aller Welt zusammenströmenden Kämpfer offen. Militärpolizisten stoppten mehrfach Lastwagenladungen mit Waffen und Munition für den IS und Al-Qaida – doch die Fahrer der Lkw entpuppten sich als Angehörige des Geheimdienstes. Vor Gericht stehen jetzt aber nicht diejenigen, die die illegalen Transporte organisierten, sondern diejenigen Juristen und Polizisten, die sie auffliegen ließen. Dokumente, die ein US-Spezialkommando bei einem getöteten IS-Führer erbeutete, beweisen die enge Zusammenarbeit zwischen Vertretern der türkischen Regierung und dem IS etwa beim Handel mit geschmuggeltem Öl.

Zu einer scheinbaren Wende im Verhältnis Ankaras zum IS-Kalifat kam es nach dem Selbstmordanschlag eines IS-Anhängers auf eine sozialistische Solidaritätsbrigade in Suruc, die sich beim Wiederaufbau von Kobani engagieren wollte. Über 30 junge Sozialisten starben bei diesem Anschlag am 20. Juli. Tatsächlich scheint der nach Suruc vollmundig verkündete Krieg der Türkei gegen den IS seitdem weitgehend virtuell abzulaufen, vor allem aber als Vorwand für eine gleichzeitige massive Angriffswelle auf die kurdische Freiheitsbewegung zu dienen.

Innerhalb von knapp zwei Wochen dieses türkischen »Krieges gegen den Terror« wurden bei türkeiweiten Razzien gerade einmal 140 mutmaßliche IS-Aktivisten festgenommen, während gleichzeitig über 1.000 Anhänger der HDP, der kurdischen Jugendbewegung und sozialistischer Gruppierungen inhaftiert wurden. Während gegen den IS innerhalb von zwei Wochen gerade einmal drei Luftangriffe geflogen wurden, ging auf PKK-Camps im Nordirak und in der Türkei ein fast tägliches Bombardement nieder. Dabei wurde auch ein ausschließlich von Zivilisten bewohntes Dorf in den Kandil-Bergen weitgehend zerstört, mindestens neun Bewohner fanden dabei den Tod. Die PKK kämpft im Nordirak mit ihrer Guerilla Seite an Seite mit den Peschmerga gegen den IS und verhindert dessen weiteres Vordringen auf kurdische Siedlungsgebiete. Die Luftangriffe schwächen diesen Kampf gegen den IS unmittelbar. In den Augen vieler Kurden erscheint die türkische Luftwaffe somit de facto als Luftwaffe des IS.

Mit den USA hatte sich die Türkei als Gegenleistung für die Öffnung des Luftwaffenstützpunktes Incirlik für die Anti-IS-Allianz auf die Errichtung einer von Dscharablus ausgehenden, 90 Kilometer langen und 40 Kilometer tiefen Flugverbots- und Pufferzone im Norden Syriens geeinigt. Dieses Gebiet wird bislang vom IS und anderen dschihadistischen Gruppierungen kontrolliert. Mit dieser seit Jahren geforderten »Schutzzone« verbindet Ankara gleich drei Intentionen. Zum einen soll so ein weiteres Vordringen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und ihrer arabischen Verbündeten auf das vom IS kontrollierte Gebiet verhindert werden. Denn die türkische Regierung befürchtet die Entstehung eines durchgängigen, von den kurdischen Milizen kontrollierten Gebietes entlang ihrer Grenze – nach Auffassung Ankaras wäre dies ein kurdischer Staat, dessen Errichtung wiederholt als rote Linie für einen Militäreinmarsch bezeichnet wurde.

Zum zweiten soll die Schutzzone zum Aufmarschgebiet sogenannter gemäßigter Rebellen sowohl gegen den IS als auch gegen die syrische Regierung werden. Hinter ihnen verbirgt sich eine Allianz radikal-islamischer Gruppierungen um die Al-Qaida-Filiale Al-Nusra-Front. Da der IS nicht über Flugzeuge verfügt, richtet sich die Flugverbotszone, die die USA nun auch militärisch durchsetzen wollen, unmittelbar gegen die syrischen Regierungstruppen. Und zum dritten will die türkische Regierung in dieser »Schutzzone« die rund zwei Millionen in die Türkei geflohenen und dort seit Jahren in Flüchtlingslagern lebenden Syrer ansiedeln.

Als besonders perfide erscheint die Rolle der USA. Erst förderten sie wissentlich den Aufstieg der Terrororganisation »Islamischer Staat« mit Hilfe ihrer Verbündeten – der Türkei und der Golfstaaten –, um Assad zu stürzen. Als der IS daran scheiterte und immer weiter aus dem Ruder zu laufen begann, gingen die USA dazu über, die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG in Rojava als schlagkräftigste Truppe gegen den IS mit Luftangriffen zu unterstützen. Diese Luftunterstützung war dabei keineswegs mit einer politischen Akzeptanz des in Rojava geschaffenen demokratischen Gesellschaftssystems durch Washington verbunden, die kurdischen Milizen sollten lediglich als Fußtruppen gegen den IS dienen. Jetzt sind die USA wieder umgeschwenkt: Um türkische Flugplätze im Anti-IS-Kampf nutzen zu können, gaben die USA ihren türkischen Verbündeten grünes Licht für erneute Luftangriffe auf die PKK, die von der NATO als legitime Selbstverteidigung gegen »Terrorismus« bezeichnet werden. Zwar beteuerten die USA, weiter die YPG gegen den IS zu unterstützen. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für die Festigung ihres Bündnisses mit Ankara ihre kurdischen Verbündeten geopfert haben. Unter dem Vorwand, IS-Stellungen in Syrien anzugreifen, beschossen türkische Panzer bereits Stellungen der YPG und ihrer arabischen Verbündeten in Rojava.

Mit der geplanten Flugverbotszone in Nordsyrien riskieren Türkei und USA mutwillig die Auslösung des NATO-Bündnisfalls. Es droht so die Verwicklung Deutschlands, das »Patriot«-Raketen in der Südosttürkei stationiert hat, in einen Krieg gegen Syrien. Die Bundesregierung sollte diese Raketen sofort abziehen, anstatt Kriegsbrandstifter Erdogan damit Rückendeckung zu geben. Waffenlieferungen an die Türkei, die jetzt erneut gegen Kurden und bald womöglich gegen Syrien zum Einsatz kommen, müssen endlich gestoppt werden.

Die Mahnung der Bundesregierung an Ankara, doch den Friedensprozess mit den Kurden nicht aufs Spiel zu setzen, erscheint unglaubwürdig, solange Berlin hier nicht mit gutem Beispiel vorangeht. Die Bundesregierung sollte endlich das seit 22 Jahren bestehende PKK-Verbot aufheben und sich für die Streichung der PKK von der EU-Terrorliste einsetzen. So ließe sich zugleich Druck auf Ankara machen, sich doch wieder mit der PKK an den Verhandlungstisch zu setzen. Das fortgesetzte repressive Vorgehen gegen politisch aktive Kurden in Deutschland erscheint dagegen als Ermutigung Ankaras bei seinem blutigen »Antiterrorkampf«.

Die Partei Die Linke und die Linken in Deutschland müssen jetzt praktische Solidarität mit der HDP und den für Frieden und Demokratie in der Türkei eintretenden Kräften zeigen. Mit ihnen gemeinsam gilt es, eine breite und wirkungsvolle Friedensbewegung aufzubauen – in der Türkei, in Kurdistan und in Deutschland. Fallen wir dem Kriegsbrandstifter Erdogan in den Arm. Schluss mit der Kumpanei der Bundesregierung mit den Kriegstreibern in Ankara und Washington!

* Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.

Aus: junge Welt, Freitag, 7. August 2015



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