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Staat gegen Parallelstaat

Türkei: Erdogan geht gegen Gülen-Anhänger vor. Stärkung der Geheimdienste

Von Nick Brauns *

Man müsse die Gülen-Bewegung »aufkochen oder in ihre Bestandteile zerlegen«, um sie »zu sterilisieren«. Mit solchen markigen Worten kündigte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende vor Mitgliedern seiner »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) in Afyonkarahisar eine neue Runde im Kampf gegen die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen an.

Nach der Ausschaltung ihrer gemeinsamen laizistischen Gegner in der Staats- und Militärbürokratie durch fingierte Terrorismusprozesse ist im vergangenen Herbst der Machtkampf um Posten und Pfründe zwischen den einstigen Verbündeten im Lager des politischen Islam ausgebrochen. Erdogan beschuldigt die lange von ihm protegierte Gülen-Bewegung, einen »Parallelstaat« errichtet zu haben und ihren Einfluß zur Destabilisierung seiner Regierung durch Korruptionsermittlungen und Lauschangriffe gegen AKP-Politiker zu nutzen.

Die zur Gülen-Gemeinde gehörende Tageszeitung Todays Zaman beklagt eine »Hexenjagd« gegen tatsächliche und vermeintliche Anhänger des Imam. Seit Bekanntwerden des Korruptionsermittlungsverfahrens am 17. Dezember 2013 hat die Regierung demnach 15000 Polizisten versetzen lassen. Hochrangige Experten für die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Terrorfahnder fanden sich plötzlich bei der Verkehrspolizei wieder. Auch Hunderte Staatsanwälte, Richter und Ministerialbürokraten wurden abgelöst. Oppositionsabgeordnete kritisierten, daß in keinem Fall eine Verbindung zu Gülen oder illegale Handlungen nachgewiesen wurde.

Während neu eingesetzte regierungsnahe Juristen Anfang Mai die Korruptionsermittlungen gegen 60 Beschuldigte kassierten, leitete die Justizaufsicht ein Dienstaufsichtsverfahren gegen Staatsanwälte und Richter ein, die das Ermittlungsverfahren angestoßen hatten. Gegen Polizisten und Mitarbeiter der Telekommunikationsbehörde wird zudem wegen Spionage ermittelt – sie sollen Daten aus der Telefonüberwachung in die USA weitergeleitet haben.

Gegen Gülen selber zieht eine Staatsanwaltschaft in Ankara Erkundigungen ein wegen Bildung einer staatsfeindlichen Organisation. Dieser Vorwurf war bereits in den 90er Jahren von der damals noch kemalistisch dominierten Justiz gegen den Prediger erhoben worden, der daraufhin 1998 in die USA floh, wo er mit Hilfe früherer CIA-Kontakte eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bekam. In einem Interview mit dem US-Sender PBS forderte Erdogan zwar Ende April die Auslieferung seines in Pennsylvania lebenden Rivalen, ein offizielles Auslieferungsersuchen an die US-Behörden wurde offenbar bislang nicht gestellt.

Da die Militärführung sich aus dem laufenden Machtkampf herauszuhalten scheint und die Polizei von Gülen-Kadern durchsetzt ist, baut Erdogan beim Kampf gegen die »Parallelstruktur« auf den Geheimdienst MIT. Gegen heftigen Widerstand der Opposition wurde im April eine Geheimdienstreform mit weitreichenden Befugnissen für den dem Ministerpräsidenten unterstellten Nachrichtendienst beschlossen. MIT- Agenten müssen selbst bei schwersten Verbrechen keine Strafverfolgung mehr fürchten, wenn die Taten im Auftrag des Staates begangen werden. Dagegen drohen Journalisten und Informanten, die solche Taten öffentlich machen, langjährige Haftstrafen. So beantragte eine Staatsanwaltschaft in Adana bereits Haftstrafen bis zu 20 Jahren wegen »Verrats von Staatsgeheimnissen« gegen 13 Militärpolizisten, die im Januar Lastwagen mit geheimen Waffenlieferungen des MIT an syrische Aufständische gestoppt hatten. Die Regierung rechtfertigte das Geheimdienstgesetz auch mit den zuvor mehrfach durch die Gülenisten sabotierten Friedensgespräche von MIT-Chef Hakan Fidan mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. PKK-Leitungsmitglied Duran Kalkan wies dies in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Firat zurück. »Der MIT ist nun mit dem Recht ausgerüstet, politische Gegner überall zu liquidieren. Es stellt sich also die Frage, ob sie das Gesetz für den Friedensprozeß oder für den Kampf gegen uns erlassen haben«, sagte Kalkan.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 13. Mai 2014


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