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Erdogans Problemlösung

Türkische Antiterroreinheiten stürmen linke Hochburgen in Istanbul. Dutzende Festnahmen. Strategie der Regierung heizt Konflikt mit Aleviten an

Von Thomas Eipeldauer und Sandra Bakutz *

Um fünf Uhr morgens Ortszeit rückten am gestrigen Montag weit über 1000 Polizisten in mehrere Stadtteile von Istanbul ein. Bewaffnet mit Tränengasgewehren und scharfen Waffen gingen Beamte von Antiterroreinheiten, unterstützt von einem Helikopter, Wasserwerfern und gepanzerten Einsatzwagen gegen jene Viertel vor, in denen revolutionäre Gruppen in der Bevölkerung hohes Ansehen genießen. Okmeydani und Gazi Mahallesi, zwei Quartiere mit langer Widerstandstradition standen im Fokus der Operation, aber auch in Yenibosna, Kücük Armutlu, Alibeyköy und anderen Bezirken gab es Razzien. Unabhängigen Journalisten verweigerten die Polizeikräfte den Zutritt.

Die regierungsnahe Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi meldet 26 Verhaftungen mutmaßlicher Mitglieder der kurdischen Jugendorganisation YDG-H sowie zwölf Gefangennahmen angeblicher Angehöriger der revolutionären Organisation DHKP-C. Diese Zahlen dürften indes noch zu niedrig sein. Das linke Anwaltsbüro HHB veröffentlichte bereits am Montag abend die Namen von 20 Aktivisten, die wegen angeblicher Unterstützung der DHKP-C festgenommen worden waren. Augenzeugenberichten zufolge sollen einige der Verhafteten und ihre Angehörigen geschlagen und mißhandelt worden sein.

Hintergrund des massiven Angriffs ist der Versuch der Regierungspartei AKP von Premier Recep Tayyip Erdogan, mit den radikaleren Teilen der politischen Opposition im Land aufzuräumen. Bereits nach dem von Fälschungsvorwürfen begleiteten Sieg seiner Partei bei den Kommunalwahlen Ende März hatte Erdogan angekündigt, die Verfolgung jener, die »Chaos stiften« intensivieren zu wollen. Bei seiner Rede am vergangenen Samstag in Köln wiederholte er diese Drohungen und sprach im Hinblick auf Proteste in Okmeydani von »Terroraktionen« und kündigte an: »Auch dieses Problem wird gelöst. So oder so.«

Okmeydani, Gazi Mahallesi und einige andere Arbeiter- und Armenviertel geraten deshalb unter Beschuß, weil hier radikale linke Gruppen stark verankert sind. Wöchentlich gibt es Straßenschlachten, die Regierung versucht die Hegemonie des politischen Gegners mit polizeilicher Gewalt zu brechen. Erst vergangene Woche forderte diese erneut zwei Opfer: Der 30jährige Familienvater Ugur Kurt wurde mit scharfer Munition aus einer Polizeiwaffe durch einen Kopfschuß getötet, der 42jährige Ayhan Yilmaz starb, nachdem eine Schockgranate unmittelbar neben seinem Kopf explodiert war.

Erdogans Strategie der brutalen Unterdrückung könnte auch den Konflikt mit der Religionsgruppe der Aleviten weiter anheizen. Ugur Kurt starb, während er in Okmeydani vor einem alevitischen Gotteshaus einer Trauerfeier beiwohnte. Über 10000 Menschen nahmen später an seiner Beerdigung teil. Dazu kommt, daß alle acht durch Polizeigewalt getöteten Aktivisten seit Beginn der Gezi-Proteste im Mai 2013 Aleviten waren – ein Sachverhalt, der von vielen Angehörigen der diskriminierten Religionsgemeinschaft nicht als Zufall angesehen wird.

Die revolutionären Organisationen rüsten sich indes für weitere Angriffe des Staates. Verstärkt waren bereits in den vergangenen Tagen bewaffnete Milizen bei Demonstrationen zu sehen. »Unsere Viertel werden wir nicht den Dieben und Mördern überlassen. Wenn es sein muß, werden wir sie auch mit Blut verteidigen«, ließ die radikale linke Gruppe Halk Cephesi unmittelbar nach den Razzien verlauten.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 27. Mai 2014


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