Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Auf dem Weg, ein autoritärer Staat zu werden"

In der Türkei werden die Medien von Staatspräsident Erdogan zunehmend unter Druck gesetzt. 21 Journalisten in Haft. Ein Gespräch mit Murat Cakir *


Murat Cakir ist Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen.

Die Medien in der Türkei werden vor den Parlamentswahlen am 7. Juni vom Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan offenbar zunehmend unter Druck gesetzt und in der Wahrnehmung der Pressefreiheit behindert – in welcher Weise geschieht dies?

Die türkische Regierung setzt ihren autoritären Neoliberalismus und Islamismus so um, dass sie alle Lebensbereiche unter ihre Kontrolle zwingt. Insbesondere trifft das die Presse, sogar die Dogan-Mediengruppe, eines der größten bürgerlichen Medienunternehmen der Türkei und zugleich ein wirtschaftliches Konglomerat. Selbst sie steht mittlerweile derart unter Druck, dass ihr Erscheinen mitunter in Frage steht. Mal greift Erdogan einzelne Journalisten auf öffentlichen Veranstaltungen namentlich an, mal signalisiert er der Mediengruppe insgesamt: Mit euch werden wir schon fertig!

Das funktioniert auch auf wirtschaftlicher Ebene: Finanzbeamte werden zur Kontrolle vorbeigeschickt, Werbeanzeigen werden eingestellt; in anderen Bereichen erhält der Medienkonzern keine staatlichen Aufträge mehr. Insofern üben viele Medienvertreter vorsichtshalber Selbstzensur – bevor sie gemaßregelt werden.

Was geschieht Pressevertretern, die nicht vorauseilend gehorchen, sondern weiter kritisch berichten?

Entweder die Staatsanwaltschaft geht sie an und macht sie mürbe oder sie werden durch private Klagen der Verleumdung oder Verunglimpfung des Präsidentenamtes bezichtigt; dann werden sie vor Gericht gezerrt und verhaftet. Agenturen erhalten plötzlich keine Akkreditierung mehr für Pressekonferenzen. Wenn sie dennoch kommen, drängen Sicherheitskräfte und Bodygards von Erdogan sie vor laufenden Kameras gewaltsam heraus. Sie werden von der Zentrale seiner Partei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) persönlich bedroht – mitunter gar mit dem Tod! – oder in sogenannten sozialen Netzwerken, Facebook zum Beispiel, angegriffen.

Wie stellt sich das Klima einer unterdrückten Presse in der Türkei dar?

Kürzlich hatte die Justiz einen Jahrestag gefeiert – prompt hieß es, Journalisten seien nicht zugelassen. Daran ist zu ermessen, wie allumfassend das gesamte Staatswesen seiner Unabhängigkeit beraubt wird. Vor allem oppositionelle Medien und Kommentatoren trifft es, die Kritik an Erdogan und seiner AKP üben. Redaktionsleiter haben sich Bodygards zu ihrem persönlichen Schutz zulegen müssen. 21 Journalisten sitzen in Haft und werden bezichtigt – ohne einer Terrororganisation anzugehören – diese unterstützt zu haben; gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK. All das gehört zum Journalistenalltag. Regierungsnahe Medien hetzen derweil gezielt gegen gesellschaftliche Minderheiten und oppositionelle Politiker. Unwahre Behauptungen werden als Tatsachen dargestellt. Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), wurde kürzlich persönlich gleich in sechs Medien in großer Aufmachung diffamiert, um eine sunnitische, konservative Mehrheit gegen ihn aufzubringen: Er habe Schweinefleisch gegessen! Erdogan hat sogar einen kritischen Artikel über sich selbst in der New York Times als »schamlos« bezeichnet und das Blatt aufgefordert, sich des »ihm zustehenden Platzes zu besinnen«.

Jüngstes Beispiel ist eine von Erdogan bewusst inszenierte Auseinandersetzung mit der Tageszeitung Hürriyet. Worum ging es?

Es passt ihm nicht, dass auch in dieser dem Dogan-Konzern gehörenden Tageszeitung mitunter oppositionelle Journalisten beispielsweise die Korruption in der Türkei kritisieren. Also zitiert er sie vor Gericht, regierungsnahe Presse hetzt gegen sie.

Gewerkschafter vergleichen die aktuelle Situation der Unterdrückung der Meinungsfreiheit in den Medien mit Zuständen in Hitler-Deutschland. Ist das gerechtfertigt?

Ich bin der Meinung, diesen Vergleich mit dem deutschen Faschismus sollten wir nicht strapazieren; aber die Türkei ist auf dem Weg, ein autoritärer Staat zu werden. Deshalb sind mittlerweile auch liberale und bürgerliche Kräfte dafür, dass die HDP es schafft, die ihr aufgezwungene antidemokratische Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 27. Mai 2015


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Türkei-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage