Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Arbeitsschutz unter Erdogan per Gesetz abgeschafft

Das Grubenunglück von Soma ist vor allem ein Ergebnis des neoliberalen Umbaus der türkischen Wirtschaft

Von Murat Çakır *

Die Trauer der Hinterbliebenen ist unermesslich, die Wut über die Regierung wächst, denn diese Bergwerkskatastrophe ist nicht zuletzt ein Produkt der Türkei als Labor des Neoliberalismus.

Die Katastrophe von Soma hat der Weltöffentlichkeit die elendige Realität der türkischen Arbeitswelt auf fatale Weise vor Augen geführt. Das Grubenunglück ist, auch wenn es durch einen explodierenden Trafo ausgelöst wurde, ein Ergebnis des neoliberalen Umbaus der Türkei, welcher seit 2002 von der Regierung mit aller Wucht fortgeführt wird. Die Türkei ist nicht mehr »nur« ein Labor des Neoliberalismus, sondern ein Land der Privatisierungen, Liberalisierungen und Deregulierungen par excellence.

Als die heute regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) 2002 die Regierung übernahm, hob sie als eine ihrer ersten wirtschaftlichen Maßnahmen die sogenannten Arbeitsschutzgesetze auf. Mit dem neuen Arbeitsgesetz Nr. 4857 vom 22. Mai 2003 wurden der Arbeitsmarkt flexibilisiert, die Rechte der Beschäftigten auf ein Minimum reduziert, eine Beschäftigung »auf Abruf« eingeführt, befristete Arbeitsverhältnisse und der Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet. Fortan konnten die Arbeitgeber ihre Beschäftigten untereinander so oft verleihen, wie sie es für notwendig hielten. Das war übrigens der Startschuss für das heute in der Türkei ausufernde Subunternehmertum.

Die Subunternehmen wurden in nahezu allen Bereichen eingesetzt – auch im öffentlichen Dienst. Die Zahlen der türkischen Statistikbehörde (TUIK) sprechen für sich: Während rund 16,7 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und nur knapp 700 000 Beschäftigte nach einem – wie auch immer gearteten – Tarif bezahlt werden, arbeiten rund elf Millionen Menschen im informellen Sektor ohne Absicherung.

Durch die Privatisierungen, die übrigens schon 1980 unter der damaligen Militärjunta begannen, wurden vor allem die Bergwerke zu Todesfallen für die Arbeiter. Laut TUIK kamen zwischen 2002 und 2012 rund 10 600 Beschäftigte bei Arbeitsunfällen ums Leben. Alleine in den ersten vier Monaten dieses Jahres starben 396 Beschäftigte – darunter 23 Arbeiterinnen. Gewerkschaften und zahlreiche Initiativen bemängeln seit Jahren die völlige Vernachlässigung der Sicherheitsbestimmungen und des Arbeitsschutzes. Seit 19 Jahren verweigern die türkischen Regierungen zum Beispiel internationalen Verträgen zum Schutz in den Bergwerken ihre Unterschrift.

Nach dem Verfassungsreferendum von 2010 konzentrierte die AKP-Regierung, nachdem sie die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgehöhlt hat, sämtliche Entscheidungen über Lizenzvergabe und Bergwerkskontrollen bei einer bestimmten Abteilung des Ministeriums für Naturressourcen und Energie. Die Folge war, dass die Kontrollen über Sicherheitsbestimmungen in den Bergwerken vernachlässigt wurden und – wie von verschiedenen türkischen Zeitungen berichtet wird – die Kohle fördernden Unternehmen mit Gefälligkeitsberichten versorgt wurden.

Zudem ermöglichte die Regierung den Einsatz von zahlreichen Subunternehmen, deren Beschäftigungspraxis undurchsichtig war. Dieser Missstand ist übrigens einer der Gründe, warum die genaue Zahl der eingeschlossenen Kumpel in der Unglückszeche Soma nicht genannt werden kann.

Eine wesentliche Begründung für die Privatisierung der Kohleförderung war, dass die privaten Firmen Kostensenkungen besser umsetzen können. In Soma wurden jährlich 2,5 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Der zuständige Minister und der Firmenchef strahlten, als sie bekanntgaben, dass jetzt »eine Tonne Kohle anstatt 135 Dollar nur noch 24 Dollar kostet«. Den eigentlichen Preis bezahlten die Bergleute mit ihrer Gesundheit oder gar wie jetzt mit ihrem Leben. Für den Ministerpräsidenten ist das »ein Risiko des Berufes«. Eine zynische Feststellung. Was die Angehörigen der Opfer davon halten, haben sie ihm ins Gesicht geschrien: »Mörder Erdogan!« Das ist wohl dem Schmerz geschuldet. Wahr ist, dass Erdogan mit seiner Politik eine Hauptverantwortung für diese Grubenkatastrophe trägt.

Erdogan hatte nichts Besseres zu tun, als die Opfer zu verhöhnen. Am Katastrophenort erklärte er: »Solche Unfälle passieren ständig. Ich schaue zurück in die englische Vergangenheit, wo 1862 in einem Bergwerk 204 Menschen starben.«

* Aus: neues deutschland, Freitag 16. Mai 2014


Erdogan läßt prügeln

Türkei: Regierungschef verhöhnt Opfer von Grubenunglück, sein Berater tritt auf Demonstrant ein. Polizei geht gegen Protestkundgebungen vor

Von Nick Brauns **


Die Trauer über Hunderte Tote durch den Bergwerksbrand in der westtürkischen Stadt Soma ist am Donnerstag immer mehr in Wut übergegangen. »Kein Unfall, sondern Mord«, skandierten Zehntausende Demonstranten, die in vielen Städten der Türkei den Rücktritt von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderten. In Izmir attackierte die Polizei eine Gewerkschaftsdemonstration mit 20000 Teilnehmern mit Wasserwerfern und Gasgranaten. Bereits am Abend zuvor waren die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Protestierende in Istanbul und Ankara vorgegangen. Vier Gewerkschaftsdachverbände hatten für Donnerstag zu Streiks aufgerufen. »Diejenigen, die die Privatisierungen vorantreiben und zur Kostenreduzierung das Leben von Arbeitern aufs Spiel setzen, sind die Schuldigen des Massakers von Soma und müssen zur Verantwortung gezogen werden«, heißt es in einer Erklärung der Gewerkschaftsföderation des öffentlichen Dienstes (KESK).

Auch zwei Tage nach dem schlimmsten Bergwerksunglück in der türkischen Geschichte war unklar, wie viele Menschenleben es gekostet hat. Energieminister Taner Yildiz nannte Donnerstag früh die Zahlen von 282 tot geborgenen und 363 geretteten Bergleuten. Doch Dutzende Kumpel galten noch als vermißt. Ihnen wurde, kilometertief unter Tage eingeschlossen, keine Überlebenschance eingeräumt. Die Gewerkschaft der Gesundheitsarbeiter (SES) geht daher von rund 350 Todesopfern aus.

Die islamisch-konservative AKP-Regierung hatte die staatseigenen Bergwerke vor einigen Jahren an ihr nahestehende Unternehmer verkauft. Staatliche Inspektoren stellten der Grube von Soma trotz fortgesetzter Klagen der Arbeiter über Sicherheitsmängel zuletzt im März ein gutes Zeugnis aus. Noch Ende April stimmte die AKP-Mehrheit im Parlament gegen einen Oppositionsantrag auf Untersuchung der wachsenden Zahl tödlicher Arbeitsunfälle in dieser Mine. Die Betreibergesellschaft Soma Holding hatte zur Kostensenkung die vor der Privatisierung von Facharbeitern gemachte Untertagearbeit an Subunternehmen mit schlecht ausgebildeten und oftmals nur für den gesetzlichen Mindestlohn schuftenden Leiharbeitern vergeben.

Solche Unfälle »passieren überall auf der Welt«, versuchte Erdogan am Mittwoch bei einer Pressekonferenz, das Bergwerksunglück als »gewöhnliche Sache« herunterzuspielen. Zum Beleg führte der Ministerpräsident, der sein Land sonst gerne unter den führenden Industrienationen des 21. Jahrhunderts sehen will, historische Bergwerksunglücke aus dem Großbritannien des 19. Jahrhunderts an. Aufgebrachte Einwohner von Soma verwüsteten nach Erdogans Rede das örtliche Büro der AKP, die hier vor sechs Wochen noch die Kommunalwahlen gewonnen hatte. Auch der Wagenkonvoi des Ministerpräsidenten wurde unter »Mörder«-Rufen attackiert. Seine Bodyguards brachten Erdogan in einen Supermarkt in Sicherheit. Auf einem Video ist zu sehen, wie der Ministerpräsident dabei mit der Hand in Richtung eines Protestierenden schlägt. Ein weiteres im Internet verbreitetes Bild zeigt Erdogans Berater Yusuf Yerkel, der in Soma auf einen von zwei Polizisten zu Boden gedrückten Demonstranten eintritt. Es habe sich um einen linken Militanten gehandelt, der ihn und den Ministerpräsidenten beleidigt habe, rechtfertigte sich der Krawatte tragende Schläger später.

** Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014


Grubenkatastrophe in der Türkei: Privatisierer

Von Sevim Dagdelen ***

Am 13. Mai kam es in einem Kohlebergwerk im türkischen Soma zu einer schrecklichen Katastrophe, bei der nach bisherigem Stand mehr als 280 Bergleute gestorben sind. Noch sind nicht alle toten Kumpel geborgen, da werden sie und ihre Hinterbliebenen schon vom türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan verhöhnt. Auf zynische Art und Weise bezeichnete er die Katastrophe als »normalen Unfall«. Doch das war kein Unfall, sondern ein Verbrechen. Denn der Tod der vielen Kumpel hatte seine Ursachen anscheinend in mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen. Genau jene hatten die privaten Eigner des Braunkohlenbergwerkes in der Vergangenheit aus reiner Profitgier nicht verbessert. Im Zuge der Privatisierung des Kohlenbergwerks in Soma wurden immer wieder Sparmaßnahmen durchgesetzt, um höhere Gewinne zu erreichen.

Noch vor zwei Wochen hatte die Oppositionspartei CHP im türkischen Parlament eine Sicherheitsüberprüfung aller Kohlengruben in der Türkei und speziell des Bergwerks in Soma beantragt. Mit Verweis auf die angeblich »vorbildlichen Sicherheitsvorkehrungen« gerade auch in der Mine Soma lehnte die AKP-Mehrheit diese Schutzmaßnahmen ab. Die Regierung trägt dadurch eine Mitverantwortung für das furchtbare Bergbauunglück. Die jüngst erfolgte Ablehnung jedweder Hilfe aus dem Ausland zeigt, wie gleichgültig der AKP-Spitze das Leben und die Gesundheit der Kumpel sind.

Auch wenn das AKP-Regime mit Erdogan sowie die Unternehmensspitze die Hauptverantwortlichen dieser tödlichen Katastrophe sind, können sich EU und Bundesregierung nicht von ihrer Verantwortung freisprechen. Sie sind Mittäter bei diesem Verbrechen. Denn Brüssel und Berlin fordern von der Türkei seit Jahren eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und Wirtschaftsliberalisierung. Sie haben die AKP-Regierung durch die Eröffnung weiterer EU-Beitrittskapitel stets ermuntert und immer wieder belohnt für deren Angriffe auf Gewerkschaftsrechte und ihre brutale Privatisierungs- und Ausverkaufspolitik. Das Resultat sind täglich Arbeitsunfälle mit Toten.

Jährlich kommt es in der gesamten Wirtschaft der Türkei zu rund 700000 Arbeitsunfällen. In den Jahren seit dem ersten Amtsantritt der AKP im März 2003 ist die Türkei mit 14000 tödlichen Arbeitsunfällen zum Spitzenreiter in Europa aufgestiegen. Die Unfallrate ist siebenmal höher als im EU-Durchschnitt. Weltweit ist die Türkei derzeit auf Platz 3 der ILO-Liste zu Unfällen am Arbeitsplatz. Trotzdem unterstützt auch die Bundesregierung den Krieg des AKP-Regimes gegen die oppositionellen Gewerkschaften und die Kritiker der katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Türkei. Notwendig wäre dagegen, sich dafür einzusetzen, daß die legitimen Proteste von Arbeitern nicht weiter kriminalisiert werden und die mörderische Privatisierungspolitik aufhört.

Die Linke-Abgeordnete Sevim Dagdelen ist stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe des Bundestags.

*** Aus: junge welt, Freitag 16. Mai 2014 (Gastkommentar)


Zurück zur Türkei-Seite

Zur Türkei-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage