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Viele Türken sprechen von Mord

Über 230 Bergleute starben bei Grubenunglück: Proteste gegen Betreiber und AKP *

Es ist eine der größten Bergwerkskatastrophen der jüngeren türkischen Geschichte, vielleicht sogar die schlimmste: Mindestens 238 Bergleute hat ein Brand in der Kohlegrube in Soma im Westen des Landes gefordert, etwa 120 Kumpel waren am Mittwochabend noch unter Tage eingeschlossen und vermisst. Auslöser des verheerenden Feuers soll ein Defekt in einer Trafoanlage gewesen sein.

In die Trauer um die Opfer mischte sich am Mittwoch landesweit Wut und Empörung. In vielen Städten der Türkei protestierten Menschen spontan gegen die ihrer Ansicht nach politisch mitverursachte Katastrophe, in Ankara ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor.

Der Betreiber der Kohlegrube in Soma rühmte sich vor anderthalb Jahren, die Kosten nach der Privatisierung drastisch gesenkt zu haben. Noch vor wenigen Tagen hatte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP eine schützende Hand über die Betreiberholding gehalten und einen Antrag der Opposition für eine Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen der Grube in Soma im Parlament abgelehnt. Nicht nur Angehörige werfen der Betreibergesellschaft nun vor, Profit über Menschenleben gestellt zu haben – viele Menschen, so berichten Agenturen, sprechen von »Mord«. Der linke Gewerkschaftsbund Disk kritisierte, in Gruben wie in Soma seien Ketten von Subunternehmern am Werk, Sicherheitsvorschriften würden nicht beachtet. Für Donnerstag haben Gewerkschaften zu Proteststreiks aufgerufen, auch der größte türkische Dachverband Türk-Is ist darunter. Mit schwarzen Bändern wollen die Menschen der toten Kollegen gedenken. Solidarität erfahren sie unter anderem von der deutschen IG BCE. Die Linkspartei warf der AKP-Regierung »eine Mitverantwortung für das furchtbare Bergbauunglück« vor.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014


Grubenkatastrophe mit Ansage

Oppositionsvertreter im türkischen Parlament fordert Untersuchungsausschuss

Von Jan Keetman **


Die Türkei trauert um die Opfer eines Bergwerkunglücks: Die Flaggen im Land hängen auf halbmast, während die Zahl der Opfer weiter steigt. Eine Gewerkschaft spricht von Massenmord in der Zeche.

Bei dem möglicherweise schwersten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei galt bis zum Mittwochnachmittag der Tod von mindestens 238 Arbeitern unter Tage als gewiss. Mindestens 80 weitere Kumpel sind verletzt. Ausgelöst hatte die Katastrophe ein Trafo, der in 400 Meter Tiefe explodiert war. In der Grube bei Soma, nahe Denizli in der Westtürkei sollen noch Hunderte Bergleute in bis zu 2000 Meter Tiefe eingeschlossen sein.

Energieminister Taner Yildiz verbreitete am Mittwoch wenig Optimismus. »Die Zeit läuft uns davon«, sagte Yildiz. Es sollen sich zwei Luftblasen unter der Erde gebildet haben, zu einer davon haben die Rettungskräfte Zugang, eine unbekannte Zahl von Arbeitern ist in der anderen Luftblase völlig abgeschnitten.

Außer durch die Explosion sollen Arbeiter auch durch Kohlenmonoxid vergiftet oder schwer geschädigt worden sein. Im türkischen Fernsehen waren Bilder von Arbeitern zu sehen, die noch Stunden nach der Explosion wie benommen aus der Grube wankten. Andere mussten weggetragen werden. Insgesamt sollen laut Energieminister Yildiz 363 Arbeiter gerettet worden oder aus eigener Kraft entkommen sein. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül haben sich noch am Mittwoch nach Soma begeben.

Der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei Özgür Özel übte indessen harte Kritik sowohl an der Betreiberfirma, Soma Kömür Isletmeleri, als auch an der Regierung von Ministerpräsident Erdogan. In der Grube sei immer wieder etwas passiert, erklärte Özel im türkischen Parlament. Nach zehn Unfällen sei sie sogar vorübergehend geschlossen worden. Es habe sich aber dennoch an den Sicherheitsvorkehrungen nichts geändert.

Daraufhin habe er einen Untersuchungsausschuss gefordert, sagte Özel. Der von allen Oppositionsparteien unterstützte Antrag sei indes vor drei Wochen von der Regierungsmehrheit abgelehnt worden. Laut dem türkischen Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit wurde die letzte Sicherheitsüberprüfung in Soma am 17. März durchgeführt und blieb angeblich ohne Beanstandungen.

Die Türkei ist bekannt für eine große Zahl tödlicher Arbeitsunfälle. Erst zu Wochenbeginn war eine Statistik veröffentlicht worden, wonach im Jahr 2013 in der Türkei 1235 Personen bei Arbeitsunfällen umkamen. Unter ihnen waren 18 Kinder. Am häufigsten sind tödliche Arbeitsunfälle in Istanbul, sowohl auf den Baustellen der mit allem ökonomischen Ehrgeiz wachsenden Metropole als auch auf den Werften.

Nicht zuletzt kommt es immer wieder zu tödlichen Grubenunfällen. Mehrfach gab es in den vergangenen Jahren Verfahren nach Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen oder weil veraltete Arbeitsgeräte eingesetzt worden waren. Das folgenschwerste Unglück der vergangenen Jahrzehnte ereignete sich 1992 in einem Bergwerk in der Provinz Zonguldak. Dort starben bei einer Gasexplosion 263 Menschen.

Ein großer Teil der tödlichen Grubenunfälle ereignet sich bei Subunternehmern, zu denen Arbeit möglichst billig ausgelagert wird. Die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften, einer der drei großen Gewerkschaftszusammenschlüsse in der Türkei, sprach im Zusammenhang mit dem Unfall in Soma von einem Massaker.

Unter den Toten des Grubenunglücks ist möglicherweise ein 15-jähriger Junge. Die Zeitung »Hürriyet« zeigte am Mittwoch ein Video, auf dem ein Mann beklagt, er habe seinen 15 Jahre alten Neffen bei dem Unglück in der Zeche Soma verloren. Energieminister Yildiz sagte dagegen laut »Hürriyet«, es könne nicht sein, dass ein 15-Jähriger in einem Bergwerk arbeite.

Die deutsche Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie kritisierte am Mittwoch Sicherheitsmängel im Bergbau in der Türkei. »Die Katastrophe in Soma ist das jüngste Glied in einer langen Kette schrecklicher Grubenunglücke in der Türkei«, sagte der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis. Er monierte, dass es immer wieder Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen gegeben habe. Mindestvorschriften im Arbeits- und Gesundheitsschutz würden häufig nicht eingehalten.

Nach der Katastrophe in Soma protestierten in Istanbul und anderen türkischen Städten Menschen wegen der wiederkehrenden Unfälle in den Bergwerken des Landes. Das Parlament in Ankara legte eine Schweigeminute für die Opfer ein. Für das ganze Land wurde eine dreitägige Staatstrauer angekündigt. Mehrere Staaten boten der Türkei Hilfe an, darunter Deutschland, Griechenland und Israel.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014


Arbeitsmord

Türkei: Hunderte Tote in Bergwerk

Von Ihsan Çaralan ***


Es ist der größte Arbeitsunfall in der türkischen Geschichte. Als dieser Text geschrieben wurde, lag die offizielle Zahl der Todesopfer bei 232. Unter den Todesopfern sind 15jährige Arbeiter und »inoffiziell Beschäftigte«, deren Zahl unbekannt ist.

Wir haben es nicht mit einem Grubenunglück zu tun, sondern mit einem Massenmord an Arbeitern wie wir ihn aus dem 18. Jahrhundert kennen.

Man kann viele Aspekte dieser Katastrophe erläutern, aber die erste Frage muß sein: Welcher Kampf ist zu führen, was ist zu tun, damit sich Ähnliches nicht wiederholt?

Die Gewerkschaftskonföderationen DISK (Konföderation Revolutionärer Arbeitergewerkschaften) und KESK (Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes) sowie die Berufsverbände von Ingenieuren, Architekten und Ärzten haben zu einem eintägigen Streik aufgerufen. Jugendorganisationen haben sich ihnen angeschlossen und zu Solidaritätsstreiks an Universitäten und Schulen mobilisiert. Nach anfänglichem Zögern hat sich auch Türk-Is, der größte Gewerkschaftsdachverband, zum Ausstand entschlossen. Es ist zu erwarten, daß viele lokale gewerkschaftliche Bündnisse dem folgen werden.

Die Katastrophe hat solche Dimensionen, daß die Türkei auf der Liste der Arbeitsunfälle mit Todesfolge, die von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO geführt wird, vom dritten auf den zweiten Platz geklettert ist. Was sind die Gründe dafür? Erstens: Privatisierungen; zweitens: Ausweitung von Flexibilisierung, Werkverträgen und Leiharbeit; drittens: Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen; viertens: Profitgier.

Wie apokalyptische Reiter sind diese vier in den meisten Bergwerken und Werften, auf Baustellen, in Häfen, Fabriken und kleineren Betrieben unterwegs. Manchmal treten sie einzeln, zumeist aber gemeinsam auf, und sie haben Gesichter und Namen: Vertreter der Regierung und der bürgerlichen Parteien, die sich für Privatisierung und Leiharbeit einsetzen; Unternehmer, die für Gewinnmaximierung Bestimmungen für Arbeitsschutz und -sicherheit außer Kraft setzen. Aber das Blut der Getöteten klebt auch an den Händen der Gewerkschaftsführer, die die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung und der Bosse unterstützen. Ihre moralische Verantwortung ist am größten.

Bis heute wurde kein einziger Verantwortlicher für die zahlreichen »Arbeitsmorde« in der Türkei vor Gericht gestellt oder verurteilt. Dem muß ein Ende gesetzt werden. Es geht nicht um einige wenige Beauftragte für Arbeitssicherheit, sondern um die Unternehmensführungen, um die staatlichen Behörden, die ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen, und um die Politiker, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Sie müssen gezwungen werden, nicht nur juristisch, sondern auch politisch Rechenschaft abzulegen. Nur so können weitere Morde an Arbeitern verhindert werden.

*** Der Autor ist Herausgeber der in Istanbul erscheinenden türkischen Tageszeitung Evrensel.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. Mai 2014 (Gastkommentar)



Unterirdische Machtarroganz

Roland Etzel zum Bergwerksunglück in der Türkei ****

Die Reaktionen nach dem Grubenunglück von Dienstagnacht in der Westtürkei sind nicht allein von Schrecken und Trauer geprägt, sondern auch von Wut und Protest. Es ist kein altkluges Räsonieren, wenn man schon jetzt, lange vor der Klärung der Unglücksursachen, in der Türkei ziemlich sicher weiß: So wie die wiederholten Brandkatastrophen in bengalischen Textilfabriken keinesfalls mit einer Verkettung unglücklicher Umstände erklärt werden dürfen, ist auch die Lebensgefahr im Job gerade eines türkischen Kumpels nicht bloß den üblichen Unwägbarkeiten des Bergbaus geschuldet.

Man muss die Toten von Soma nicht dem unmittelbaren persönlichen Schuldkonto von Ministerpräsident Erdogan zuordnen. Sehr wohl aber der zuallererst von ihm geprägten Attitüde der Selbstherrlichkeit seiner Partei im Parlament und dem von ihm immer mehr in Anspruch genommenen Nimbus der Unfehlbarkeit. Dies rückt jeden Antrag der Opposition zur Verbesserung in welcher Angelegenheit auch immer in den Ruch von Majestätsbeleidigung – Ablehnung ist unausweichliche Folge. Wer das Procedere der Abstimmungen im Bundestag kennt, dem dürfte das alles sehr bekannt vorkommen.

So scheiterte im Parlament von Ankara im April auch ein Antrag, die Bergbaugesellschaft in Soma staatlichen Kontrollen zu unterwerfen, an dieser unterirdischen Form von Machtarroganz bei Erdogans Partei. »Kein Unfall, Massenmord«, sagen die Gewerkschaften nun sehr zu recht.

**** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 15. Mai 2014 (Kommentar)


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