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Angriff auf Friedensprozeß

Der schmerzliche Preis des kurdischen Friedens: Erinnerung an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez, die vor einem Jahr in Paris ermordet wurden

Von Nilüfer Koc *

Am 9. Januar 2013 wurden drei kurdische Politikerinnen im Herzen Europas, in Paris, ermordet. Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez mußten sterben, da dunkle Kräfte des türkischen Staates in internationaler Zusammenarbeit die anstehende Offensive in der kurdischen Friedenspolitik verhindern wollten.

Ein kurzer Rückblick auf das Jahr 2012 kann helfen, die Hintergründe der Morde in der französischen Hauptstadt besser zu verstehen. Im Frühjahr hatte die kurdische Guerilla gegen geplante Militäroperationen mit einer Offensive in Semzinan (Semdinli) im türkisch-iranisch-irakischen Grenzdreieck geantwortet. Dadurch wurde die AKP-Regierung in Ankara in einen regelrechten Schockzustand versetzt. Um die über ein Jahr andauernde Total­isolation des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, zu durchbrechen, begann im September 2012 ein Hungerstreik von 10000 politischen Gefangenen, welcher bei der kurdischen Bevölkerung und den türkischen Medien auf große Resonanz stieß. In Kurdistan herrschten Widerstand und Aufruhr. Die türkische Regierung sah sich daher Ende Oktober gezwungen, erneut Gespräche mit Abdullah Öcalan aufzunehmen. Der brachte dabei ein Konzept zur dauerhaften Lösung der kurdischen Frage auf die Agenda. Während die Gespräche auf der Gefängnisinsel Imrali voranschritten, kam es zu den Morden an Sakine, Fidan und Leyla. Die Botschaft war eindeutig: Der neue Friedensprozeß sollte verhindert werden.

2012 wurden von der türkischen Regierung offen Konzepte diskutiert, die PKK durch Gefangennahme oder extralegale Hinrichtungen ihrer führenden Persönlichkeiten in den Bergen zu schwächen. Die Anregung dazu kam, als Bin-Laden-Taktik benannt, vom US-Botschafter in Ankara, Francis Ricciardone, der dafür die Unterstützung der Geheimdienste der Vereinigten Staaten anbot. Das türkische Innenministerium setzte vier Millionen Lira (ca. 1,35 Millionen Euro) Kopfgeld auf 50 führende PKK-Aktivisten aus, von denen sich 20 in Europa befanden. Dieses Konzept konnte in den kurdischen Kandilbergen aufgrund der Verteidigungsbereitschaft der Guerilla nicht umgesetzt werden. Daher wurden die Anstrengungen auf Europa verlagert. Sakine Cansiz hatte als Gründungsmitglied der PKK politisches Asyl in Frankreich und arbeitete in Europa für die friedliche Beilegung des kurdischen Konfliktes. Als bekannteste PKK-Aktivistin in Europa wurde sie ausgewählt und getötet. Ihre Ermordung sollte eine Drohung an die PKK-Führung und Öcalan sein.

Ein weiteres Ziel dieser Morde war es, den kurdischen diplomatischen Erfolgen einen Rückschlag zu verpassen. Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen im Nahen Osten, vor allem in Syrien seit 2011, stieß die kurdische Politik auf positive internationale Resonanz. Die »dritte Linie« der Kurden in Syrien, sich aus den Kämpfen zwischen der Assad-Regierung und den islamistischen Oppositionsgruppen herauszuhalten und statt dessen Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, hatte Erfolg. Das praktizierte Miteinander unterschiedlicher Ethnien und Religionsgruppen in den Selbstverwaltungsgebieten erwies sich als mögliches Modell für die ganze Region. Fidan Dogan hatte es trotz aller systematischer Bemühungen, die kurdische Freiheitsbewegung in Europa zu diskreditieren, geschafft, in Frankreich ein breites Solidaritätsnetzwerk aufzubauen. Im Europäischen Rat in Strasbourg hatte sie als Vertreterin des Kurdischen Nationalkongresses (KNK) intensive Lobbyarbeit geleistet. Ihre Ermordung sollte vor allem im Exil arbeitende Aktivisten einschüchtern. Leyla Saylemez war eine dynamische junge Frau, die sich in der kurdischen Jugendbewegung in Europa engagierte.

Die Ermordung von drei politisch selbstbewußten Frauen war aber auch eine deutliche Botschaft an die kurdische Frauenbewegung. Die Frauenfreiheitsfrage ist bekanntlich eine wesentliche Grundlage der kurdischen Freiheitsbewegung. Sakine Cansiz galt als die Erste im Freiheitskampf der Kurdinnen. Ihr Widerstand gegen die Folter im Gefängnis in den 80ern, aber auch ihre Überzeugung, daß die Freiheitsfrage der Frauen der Schlüssel zu Demokratie und gesellschaftlicher Freiheit ist, machten sie zu einer lebenden Legende unter den Kurdinnen. In diesem Zusammenhang waren die Morde an Sakine, Fidan, Leyla eine Drohung an politisch aktive Kurdinnen, nicht länger die treibende Kraft der kurdischen Revolution zu sein.

Der dreifache politische Mord ist natürlich nicht nur eine kurdische, französische oder türkische Angelegenheit. Er ist ein internationales Werk dunkler Kräfte, die nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa aktiv sind. Diese Kräfte verfügen über internationale Bewegungsfreiheit und agieren verdeckt in staatlichen Strukturen. Diese Strukturen ans Licht zu bringen, ist eine internationalistische Verantwortung. Solidarität kann helfen, Gerechtigkeit zu schaffen für Sakine, Fidan, Leyla und all die anderen großartigen Menschen, die wie schon Rosa Luxemburg aufgrund ihres Freiheitskampfes in den Straßen Europas ermordet worden sind.

* Nilüfer Koc ist Kovorsitzende des Kurdistan-Nationalkongresses (KNK).

Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Januar 2014



Blutspur aus dem Tal der Wölfe

Für Pariser Morde könnten Hardliner verantwortlich sein, die eine Lösung der kurdischen Frage verhindern wollen

Von Nick Brauns **


Nach dem Mord an drei Kurdinnen in Paris vor einem Jahr hatten die französischen Ermittler anfangs ebenso wie die türkische Regierung und die Presse über eine PKK-interne Abrechnung spekuliert. Diese These ist nach Angaben eines Anwalts der Ermordeten längst vom Tisch. »Es gibt viele Hinweise, die auf eine Verantwortung der Türkei hindeuten«, erklärte Rechtsanwalt Antoine Comte gegenüber der Nachrichtenagentur Firat.

Bereits rund zwei Wochen nach den Morden präsentierte die Staatsanwaltschaft den durch Überwachungskameras identifizierten 30jährigen Ömer Güney als dringend Tatverdächtigen. Güney war 2011 einem kurdischen Kulturverein in Paris beigetreten, wo er sich durch Übersetzungsdienste das Vertrauen der Vereinsmitglieder erschlich. Wie kurdische Journalisten später herausfanden, stammt Güney aus einer türkischen Familie in Sivas, die den faschistischen Grauen Wölfen nahestand. Gegenüber seinen Arbeitskollegen in Oberbayern, wo er mehrere Jahre gelebt hatte, machte Güney aus seiner eigenen nationalistischen Einstellung kein Geheimnis. Auch jetzt in Haft trägt er nach Angaben Comtes einen Ring mit den drei Halbmonden – dem Symbol der Grauen Wölfe. Auf seiner Facebookseite outete sich Güney, gegen den in Bayern wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz ermittelt wurde, als Fan des türkischen James Bond, des mordenden Geheimagenten Polat Alemdar aus der beliebten türkischen Fernsehserie »Tal der Wölfe«. In den zwölf Monaten vor den Morden war Güney achtmal nach Ankara gereist, ohne seine in der Türkei lebenden Verwandten zu kontaktieren.

Der nach seiner Enttarnung im Schweizer Exil lebende ehemalige V-Mann des türkischen Geheimdienstes MIT, Murat Sahin, identifizierte Güney Ende Januar 2012 gegenüber der Tageszeitung Yeni Özgür Politika als »unseren Mann in Paris«. Seine Führungsoffizierin aus Ankara habe ihm einmal ein Bild Güneys vorgelegt und erklärt, dieser werde in Paris zu einem »Heval« – so das kurdische Wort für Genosse. Für die Pariser Morde seien Hardliner verantwortlich, die eine Lösung der kurdischen Frage verhindern wollten. Sahin sieht also einen Flügelkampf innerhalb des Geheimdienstes als Tatmotiv.

Bei diesen Hardlinern könnte es sich um die Anhänger des pensionierten Imams Fethullah Gülen handeln, die innerhalb der türkischen Sicherheits- und Justizbehörden einen Parallelstaat geschaffen haben und sich derzeit einen offenen Machtkampf mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan liefern. Das jedenfalls behauptet der Exekutivratsvorsitzende des PKK-Dachverbandes »Union der Gemeinschaften Kurdistans« (KCK), Cemil Bayik, in einem zu Jahresende in der Tageszeitung Özgür Gündem erschienenen Beitrag. Bayik verwies dabei auf »organische Beziehungen« zwischen der Gülen-Bewegung und der im Graue-Wölfe-Milieu angesiedelten islamisch-faschistischen »Partei der Großen Einheit« (BBP), aus deren Reihen auch der Mörder des armenischen Journalisten Hrant Dink stammte. Über seinen Anwalt ließ Gülen eine Verwicklung in die Pariser Morde zwar dementieren. Doch Kommentatoren der Gülen-nahen Presse hatten sich in der Vergangenheit für eine »tamilische Lösung« der kurdischen Frage durch militärische Vernichtung der Guerilla ausgesprochen. Und in der Tageszeitung Zaman warnt der bekannte Gülenist Emre Uslu regelmäßig vor einer Stärkung der PKK durch die von MIT-Geheimdienstchef Hakan Fidan in Erdogans Auftrag aufgenommenen Verhandlungen mit dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 9. Januar 2014

Frankreichs Mitverantwortung

Aus dem Aufruf »Wir fordern Gerechtigkeit« von CENI–Kurdisches Frauenbüro für Frieden e.V. in Düsseldorf nach dem Mord an Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez:

Von Anfang an erklärten diverse Experten, darunter dem türkischen Staat nahestehende Journalisten, die Morde werden niemals aufgeklärt, da es sich um eine politische Tat handele, bei der verschiedene Kräfte ihre Finger im Spiel hätten. Auch wenn der Anschlag die Handschrift der Türkei trägt, kann er nicht ohne internationale Unterstützung durchgeführt worden sein. Wenn die französische Polizei, die seit Jahren Kurden und ihre Institutionen überwacht, behauptet, sie hätte keine Hinweise, dann kann es nur darum gehen, die eigene Verantwortung zu vertuschen. Somit stellt sich die Frage, ob die Polizei oder Geheimdienste »ein Auge zugedrückt« haben. Die Regierung Frankreichs hat am 7. Oktober 2011 ein »Sicherheitsabkommen« gegen die PKK mit der Türkei unterzeichnet. Dieses Abkommen sieht eine »operationelle Zusammenarbeit im Antiterrorkampf« vor und ermöglicht den Sicherheitsbehörden beider Länder ein gemeinsames Vorgehen.

Der Anschlag fand im Kurdistan-Informationszentrum (CIK) statt – einem Ort, der von französischen und türkischen Nachrichtendiensten observiert wird. In Frankreich laufen immer noch neun Gerichtsverfahren gegen Kurden, denen bei ihren Verhören Bilder vorgelegt wurden, auf denen sie das Gebäude, in dem sich das CIK befindet, betreten oder verlassen. Politisch aktive Kurden in Frankreich werden abgehört und observiert. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden im Rahmen des abgeschlossenen Sicherheitsabkommens dem türkischen Nachrichtendienst übermittelt. Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse darüber, ob oder inwieweit Frankreich eine Rolle bei den Morden gespielt hat. Aber es sind viele Fragen bezüglich der Rolle der Regierung, der Nachrichtendienste, der Polizei- und Justizbehörden offen. Selbst wenn keine direkte Tatbeteiligung vorliegen sollte, besteht eine Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Türkei. Frankreich unterstützt und ermutigt die Türkei bei ihren Verbrechen gegen Kurden – mit dem Anschlag in Paris auch noch auf eigenem Territorium.

(Quelle: jW, 9.01.2014)




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