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Die Rückkehr der Angst

Der Jahrestag der Gezi-Proteste markiert einen Wendepunkt der Bewegung in der Türkei

Von Peter Schaber und Willi Berg, Istanbul *

Mit einem massiven Polizeiaufgebot ließ Regierungschef Recep Tayyip Erdogan wieder einmal die Muskeln spielen, um in Istanbul Kundgebungen von Regierungsgegnern zu unterbinden.

»Ihr werdet jene Plätze, auf denen ihr letztes Jahr gewesen seid, nicht erreichen. Die Polizei hat eindeutige Anweisungen. Sie werden alles Nötige tun.« Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan hielt Wort. Die Demonstrationen zum ersten Jubiläum jenes Aufstandes, der im Mai und Juni 2013 die Türkei erschütterte wie kaum ein anderes Ereignis in der jüngeren Geschichte des Landes, erreichten weder den Istanbuler Gezi-Park noch den angrenzenden Taksim-Platz.

Etwa 25 000 Polizisten unterstützt von Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und Hubschraubern riegelten Istanbul ab, die Einsatztaktik war dieselbe wie zuvor bei der traditionellen 1.Mai-Demonstration: Die Cops greifen mit brutaler Gewalt an, bevor sich größere Menschenmassen sammeln können, die Versammlungsfreiheit ist außer Kraft gesetzt. Die Wege vom asiatischen in den europäischen Teil sind gesperrt, öffentlichen Verkehr gibt es so gut wie keinen. Dennoch sammeln sich Tausende Menschen an verschiedenen Punkten, in Sisli, in Besiktas, auch in der Nähe der Einkaufsmeile Istiklal. Zueinander finden können sie nicht. Rasch werden sie massiv mit Tränengas, Pepperballs und Wasserwerfern angegriffen, es gibt viele Verletzte und dutzende Verhaftungen. Der regierungskritische Anwaltsverband CHD berichtete von zeitweise 203 Festnahmen; der Istanbuler Polizeichef Selami Altinok gab die Zahl mit etwa 120 an. In anderen Städten, vor allem in Ankara, verläuft der Samstagabend ähnlich.

Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates, Nils Muiznieks, kritisierte das Vorgehen der Polizei gegen die Proteste scharf. Es habe eine »exzessive Gewaltanwendung« gegen Demonstranten und Journalisten gegeben, erklärte er. Die Ereignisse verlängerten die Liste von Fällen, die »ernsthafte Sorgen hinsichtlich der Menschenrechte« beim Umgang der türkischen Behörden mit Protesten aufkommen ließen.

Nicht nur das Vorgehen der im Vergleich zum Vorjahr spürbar »professioneller« gewordenen Polizei fällt auf. Es sind auch politische Faktoren. Die Kritik an der neoliberalen Stadtumstrukturierung, dem autoritären Stil der Regierungspartei AKP, der Repression gegen jede Opposition und vielem mehr ist geblieben. Aber die Bewegung schafft es nicht mehr, Millionen Menschen auf die Straße zu bringen. »Wir haben immer gesagt, das Wichtigste an Gezi war, dass es den Menschen die Angst vor dem Staatsapparat genommen hat. Aber diese Angst kehrt jetzt zurück durch die andauernden Angriffe des Staates. Viele fürchten sich wieder«, sagt ein Aktivist kurz nach dem Angriff auf die Demonstration in Besiktas.

Das bedeutet nun zwar nicht, dass Gezi »vorbei« wäre. Doch Premierminister Erdogan und seine AK-Partei werten die nach wie vor hohe Zustimmung zu ihrer Politik in einem Teil der Gesellschaft nun als Auftrag, mit den »Terroristen« und »Marodeuren« abrechnen zu sollen. Und diese Situation erfordert auch ein Umdenken der Gezi-Aktivisten. Der Bewegungskrieg ist einem lang dauernden Stellungskrieg gewichen. Die Hoffnung, sich die zentralen Plätze wieder aneignen zu können, um mit der »Kommune vom Taksim« da weiterzumachen, wo man vergangenes Jahr aufgehört hat, ist spätestens seit vergangenem Samstag passé. Allerdings muss die Bewegung das auch nicht unbedingt. Die Linke hat in zahlreichen Fabriken, in Armenvierteln wie Gazi, Okmeydani und Kücük Armutlu, und in einigen gesellschaftlichen Sektoren wie in der LGBT-Szene Stellungen erkämpft, die nun zum Keim eines zweiten Gezi werden könnten. Dieses »zweite Gezi« wäre dann allerdings kein spontanes Ereignis, sondern ein lang dauernder Prozess zur Schaffung gesellschaftlicher Gegenmacht.

* Aus: neues deutschland, Montag, 2. Juni 2014


Im Keim erstickt

Massives Polizeiaufgebot verhindert Demonstration zum Jahrestag der Gezi-Park-Proteste in der Türkei. Bundesregierung lobt Erdogan-Regime für Modernisierung des Landes

Von Nick Brauns **


Panzerfahrzeuge, 50 Wasserwerfer und 25000 Polizisten hat die türkische Regierung in Istanbul aufgeboten, um Demonstrationen zum ersten Jahrestag der landesweiten Gezi-Park-Proteste bereits im Keim zu ersticken. »Um die Welt daran zu erinnern, daß wir unsere Forderungen und Erfolge nicht vergessen haben, wird die Taksim-Solidarität auf den Straßen am Taksim-Platz sein«, hatte ein Bündnis aus Bürgerinitiativen, Gewerkschaften und linken Aktivisten Proteste für Samstag angekündigt. Die Polizei habe »eindeutige Anweisungen«, keinerlei Demonstrationen am Taksim-Platz zuzulassen, drohte derweil Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wenige Stunden vor der geplanten Demonstration ein hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte an. Um zu verhindern, daß Demonstranten in die Innenstadt gelangten, wurde der Fährverkehr über den Bosporus ausgesetzt, die Metro-Station am Taksim geschlossen und das Stadtgebiet von Polizeihubschraubern überwacht.

Aufgrund der massiven Polizeipräsenz gelangten lediglich einige Hundert Demonstranten in die zum Taksim führende Fußgängerzone Istiklal Caddesi. Die Polizei löste selbst kleinste Versammlungen hier und in anderen Teilen der Stadt mit Wasserwerfern, Gasgranaten und Plastikgeschossen auf, zahlreiche Menschen wurden verletzt. Nur der Abgeordnete der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), Sirri Süreyya Önder, der den letztjährigen Widerstand im Gezi-Park angeführt hatte, konnte auf dem Taksim-Platz einen Blumenstrauß zum Gedenken an die Opfer der Polizeibrutalität niederlegen.

Rund 120 Menschen wurden nach Polizeiangaben bis Samstag abend in Istanbul festgenommen. Auch ein Team des US-Senders CNN wurde während einer Liveschaltung auf dem Taksim-Platz von der Polizei abgeführt. In der Haupstadt Ankara und weiteren Orten der Türkei kam es ebenfalls zu Auseinandersetzungen. Nahe der kurdischen Stadt Lice attackierten Soldaten mit scharfen Schüssen Dorfbewohner, die seit Tagen mit Straßenbesetzungen gegen den Bau eines Militärstützpunktes protestieren. Parolen wie »Lice grüßt den Gezi-Widerstand« zeigen das zunehmende Zusammenwachsen der Protestbewegung gegen Erdogan in der Westtürkei und dem kurdischen Osten.

Das brutale Vorgehen der Polizei gegen Umweltschützer, die die Bebauung des Gezi-Parks am Taksim-Platz mit einem Einkaufszentrum verhindern wollten, hatten vor einem Jahr landesweite Proteste von mehreren Millionen Menschen gegen die autoritäre AKP-Herrschaft ausgelöst. Neun Demonstranten wurden bei Polizeiübergriffen getötet oder starben später an den Folgen exzessiven Reizgaseinsatzes oder Verletzungen durch Gasgranaten. Bislang wurde keiner der verantwortlichen Polizisten zur Rechenschaft gezogen. Dagegen wurden rund 5600 Demonstranten wegen ihrer Beteiligung an den letztjährigen Protesten verurteilt. Am 12. Juni beginnt in Istanbul ein Prozeß gegen 31 Mitglieder der Taksim-Solidaritätsplattform. Ihnen wird Rädelsführerschaft bei der Bildung einer kriminellen Vereinigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworfen.

»Die Türkei ist weiter als ein Drittel der EU«, lobte unterdessen der deutsche Europa-Staatsminister Michael Roth am Samstag in Istanbul Fortschritte bei der »Modernisierung« des Landes. Von einem Schlag ins Gesicht aller freiheitsliebenden Menschen sprach angesichts dieser Äußerungen Sevim Dagdelen, Obfrau der Linksfraktion im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages.

** Aus: junge Welt, Montag, 2. Juni 2014


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