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Milliardengeschäft Wehrdienstfreikauf

Hintergrund. Die Türkei hat mit einem Gesetz über den »Freikauf vom Militärdienst« seit 1995 über eine Milliarde Euro verdient. Gegenwärtig entziehen sich schätzungsweise 600000 Fahnenflüchtige dem System

Von Gürsel Yildirim und Julian Irlenkäuser *

Mit der Parole »Wir sind niemands Soldaten« wandten sich Antimilitaristen während der Massenproteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz gegen den – auch von Teilen der Opposition hochgehaltenen – Kult des Soldatentums in der Türkei. Mit den Protesten, die vom Gezi-Park auf das ganze Land ausstrahlten, verschaffte sich erstmals eine große Gruppe von Menschen Gehör, die sich bislang eher im Hintergrund gehalten hatten und als unpolitisch galten. Viele von ihnen hatten zuvor eher im Privaten protestiert, beispielsweise indem sie sich dem Ableisten des Militärdienstes entzogen haben. Darum kann die Zahl derer, die sich bisher in der Türkei dem Wehrdienst verweigerten, nur geschätzt werden – und zwar auf 600000.

Ein anderes Protestpotential liegt allerdings noch brach. Seit Jahrzehnten verdient die Türkei an im Ausland lebenden männlichen Staatsbürgern jährlich Millionen von Euro, indem sie diese vor die Wahl stellt: entweder neuerdings 6000 Euro zu bezahlen oder 15 Monate Militärdienst abzuleisten. Die Erpressung bleibt von Politik und Medien in Deutschland weitgehend unbeachtet, und das, obwohl sie im Zusammenhang mit der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft relevant ist.

Anfang dieses Jahres hat die Antwort der türkischen Regierung auf eine parlamentarische Anfrage von Sebahat Tuncel, einer militärkritischen Abgeordneten der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), dazu erstmals konkrete Zahlen geliefert. Demnach hat die Türkei in den Jahren 1995 bis 2012 über 2,7 Milliarden Türkische Lira (gut eine Milliarde Euro) an Devisen durch Zahlungen von im Ausland lebenden Wehrpflichtigen eingenommen.

Wehrpflicht in der Türkei

In der Türkei herrscht für alle Männer ab dem 20. Lebensjahr Wehrpflicht, eine Alternative dazu gibt es nicht. Wie die Europäische Kommission in ihrem letzten Turkey Progress Report von 2012 kritisch anmerkt, ist »die Türkei das einzige Land des Europarats, welches das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt«. Es besteht auch keine Altersgrenze für die Einberufung.

So wurde zum Beispiel im Jahre 2011 der 80jährige fahnenflüchtige Rentner Ali Celiker in einem Altersheim nahe Antalya vom türkischen Militär aufgespürt. Er hatte im Jahre 1953 die Militärkaserne verlassen, um von seiner verstorbenen Mutter Abschied zu nehmen. Da er Sanktionen seines Vorgesetzten fürchtete, der ihm zuvor den Freigang nicht genehmigt hatte, kehrte er nicht wieder dorthin zurück. Die Quittung des türkischen Militärs erhielt der als »Opa Ali« bekannt gewordene knapp 60 Jahre später: Die Polizei führte ihn ab und brachte ihn in die Zentralstelle der Militärkommandantur in Antalya. Dort mußte der Rentner eine Nacht verbringen. Am nächsten Tag wurde er für die Musterung in ein Militärkrankenhaus in einem anderen Bezirk überstellt und anschließend symbolisch zu einem Tag Wehrdienst gezwungen.

Bereits Kindern wird in der Grundschule beigebracht, daß »jeder Türke als Soldat geboren wird«. Für die Sozialisation der Jungen gilt der Militärdienst als »Schule der Männlichkeit«, als wesentlicher Initiationsritus auf dem Weg zur »Mannwerdung«. Sprüche wie »Wer seinen Wehrdienst nicht leistet, ist kein richtiger Mann« gelten als Leitgedanke für einen großen Teil der Gesellschaft, der nach wie vor die Ablehnung der Wehrpflicht als »Vaterlandsverrat« betrachtet. Diese Haltung wird vom Generalstab der Türkei als Argument gegen all jene benutzt, die das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einfordern: »Wie alle bereits wissen, stellen Traditionen und Normen nicht juristisch formulierte Quellen dar. Natürlicherweise ist auch unsere Rechtsprechung von unserer Kultur beeinflußt. Das nach europäischer Kultur als normal geltende Recht auf Kriegsdienstverweigerung steht im Widerspruch zu unserem Kulturverständnis und kann deshalb nicht Gegenstand einer Diskussion sein«, so der ranghohe türkische Offizier und Wissenschaftler Ersin Kaya. Als Beispiel dieses Kulturverständnisses nennt Kaya unter anderem folgende Einstellungen, die – laut ihm – innerhalb der türkischen Gesellschaft mehrheitsfähig sein sollten: »Wer seinen Militärdienst nicht hinter sich hat, verdient kein Frau«; dem, der seine Wehrzeit nicht absolviert hat, werde »die Muttermilch nicht gegönnt«.[1]

Mag auch für große Teile der türkischen Gesellschaft der Militärdienst als Höhepunkt der »Mannwerdung« angesehen werden, so formiert sich doch in den letzten Jahren Widerstand gegen diese hegemoniale Ideologie, die Militarismus und Männlichkeit eng miteinander verknüpft. Trotz des breiten gesellschaftlichen Drucks und der institutionalisierten Zwangsmechanismen entziehen sich inzwischen Hunderttausende Wehrpflichtige der Kontrolle durch das Militärsystem. Die geschätzten 600000 Fahnenflüchtige leben quasi wie Illegale ohne gültige Papiere im eigenen Land oder haben sich ins Ausland abgesetzt. Und in wachsender Zahl bieten diejenigen, die den Zwangsdienst kategorisch aus Gewissensgründen ablehnen, den Militärs auch offen die Stirn. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich ausgehend von der Stadt Izmir an der Ägäis, eine allmählich immer größer werdende Kriegsdienstverweigererbewegung herausgebildet. Diese setzt alles daran, den Status quo zu verändern. Zum diesjährigen Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung am 15. Mai haben sich Aktivisten im Verein für Kriegsdienstverweigerung (Vicdani Ret Dernegi) zusammengeschlossen und ihre Ziele formuliert: »Wir werden uns für ein Ende der Strafverfolgung von Hunderttausenden ›Wehrflüchtigen‹ und ›Deserteuren‹, gegen als Militärdrill und Disziplin verkleidete Folter in der Armee und für die Aufklärung fragwürdiger Todesfälle von Rekruten, die als Selbstmorde, Unfälle oder Märtyrertum dargestellt werden, einsetzen.«[2]

Militärdienst mit Devisenzahlung

Abgesehen von der Ausmusterung aufgrund von physischer oder psychischer Untauglichkeit bietet die derzeitige Gesetzeslage nur einen legalen Weg, die Wehrpflicht zu umgehen: die »Freikaufsregelung«, auf türkisch Dövizli Askerlik (wörtlich übersetzt »Militärdienst mit Devisenzahlung«). Diese besagt: Wer mindestens drei Jahre im Ausland gelebt hat und für diese Zeit eine gültige ­Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis vorweisen kann, erhält die Möglichkeit sich vom Militärdienst freizukaufen.

Die Regelung besteht seit Ende der 1970er Jahre und wurde seitdem mehrmals geändert. Die letzte entscheidende Änderung erfolgte zum 1. Januar 2012: Bis dahin mußten die betroffenen »Auslandstürken« noch einen Betrag von gut 5100 Euro zahlen, um sich vom Militärdienst freistellen zu lassen. Hinzu kam eine dreiwöchige Grundausbildung – eine Art »Militärdienst light« – in Burdur in der Westtürkei. Zum 1. Januar 2012 wurde der Freistellungsbetrag auf 10000 Euro beinahe verdoppelt, wobei nunmehr jegliche militärische »Grundausbildung« entfällt.

Bei vielen türkischen Gemeinden im Ausland löste die hohe Summe Kritik aus. Es brauchte aber eineinhalb Jahre, bis die regierungsnahen Interessenverbände einsahen, daß ein solcher Betrag nicht nur eine große Belastung für die Betroffenen bedeutet, sondern sich ebenso negativ auf das Prestige von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auswirkte. Die Reduzierung des Freikaufbetrags wurde somit am 17. Juni 2013 Thema auf einem Treffens zwischen Erdogan und Vertretern der »Auslandstürken« aus aller Welt. Anläßlich der Zusammenkunft hatten zahlreiche Delegierte (unter anderem aus Australien, Österreich, Belgien, Frankreich, Holland, Deutschland) ihre Bedenken bezüglich der Höhe der zu entrichtenden Summe geäußert. Die zentrale Forderung an die Regierung lautete: Der aktuelle Betrag von 10000 Euro sei ungerecht, weil zu hoch, und müsse wieder gesenkt werden. Die Diskussion nahm zunehmend skurrile Züge an, als ein Feilschen um die Höhe des Freikaufsbetrags begann. Eine grundsätzliche Kritik an der Regelung oder gar an der Wehrpflicht als solche äußerte niemand.

In Folge der anhaltenden Auseinandersetzungen beschloß der türkische Ministerrat am 15. Juli 2013 die Summe auf 6000 Euro zu reduzieren. Der Betrag ist bis zur Vollendung des 38. Lebensjahres in maximal drei Raten beim zuständigen Konsulat einzuzahlen. Zusätzlich muß der Nachweis erbracht werden, daß man sich für mindestens 1095 Tage (drei Jahre) legal im Ausland aufgehalten hat und dort einer Beschäftigung nachgegangen ist. Sprachkurse oder Studienaufenthalte können darauf nicht angerechnet werden. Ab der Altersgrenze von 38 Jahren gelten »Auslandstürken«, die der Wehrpflicht noch nicht nachgekommen sind, als fahnenflüchtig. Mit oft dramatischen Folgen für die Betroffenen: Wer dann in die Türkei reist, muß dort mit drakonischen Gefängnisstrafen von mehreren Monaten oder sogar Jahren rechnen. Die Höhe der Strafe ist davon abhängig, wie lange die Person fahnenflüchtig ist und ob sie sich freiwillig bei den zuständigen Autoritäten gemeldet hat oder aber von diesen aufgegriffen wurde. Der einzige Ausweg daraus ist, vor Antritt der Reise als Bittsteller beim türkische Konsulat den Betrag zu bezahlen.

Wer die Summe für den Freikauf nicht zahlen kann oder will, dem bleibt meist nur übrig, die Türkei zu einem »weißen Fleck« auf der Weltkarte zu erklären. Dies bedeutet allerdings zugleich, dort lebende Freunde und Verwandte, gegebenenfalls auch den eigenen Heimat- bzw. Geburtsort, nie wieder besuchen zu können, ohne Gefahr zu laufen, festgenommen und inhaftiert zu werden. Männer mit türkischem Paß sehen sich gezwungenermaßen früher oder später mit dem türkischen Militär konfrontiert.

Allerdings soll nun, nach der Entscheidung des Ministerrats vom 15. Juli, zumindest einmalig auf eine Bestrafung verzichtet werden. Wer also demnächst als »fahnenflüchtig« die türkische Grenze passiert, wird einmalig von Verhaftung oder Kasernierung verschont bleiben. Voraussetzung ist, daß der Betroffene beweist, mit gültiger Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis im Ausland zu leben und zu arbeiten. Anschließend erhält er eine dreimonatige Frist zur Regelung des Freikaufs. An dem Grundproblem ändert dies allerdings nichts: daß alle Männer mit türkischem Paß der Wehrpflicht unterliegen. Eine Tatsache, die auch in der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft eine wichtige Rolle spielt.

Doppelstaater und Optionskinder

Wer einen deutschen und einen türkischen Paß – einen sogenannten Doppelpaß – besitzt, unterliegt in der Türkei der Wehrpflicht. Die Wehrpflicht türkischer Doppelstaater, die in Ländern leben, in welchen auch eine Wehrpflicht gilt, wird meist mittels gegenseitiger Anerkennung geregelt. Wer zum Beispiel in Österreich lebt und den dortigen Zivildienst leistet, für den entfällt die Wehrpflicht in der Türkei. Das heißt zugleich, daß mit der Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland im Jahr 2011 die Möglichkeit entfällt, sich mittels eines hierzulande geleisteten Zivildienstes vom türkischen Militärdienst befreien zu lassen.

Nach der jetzigen Gesetzeslage sehen sich die wehrpflichtigen »Auslandstürken« vor die Wahl gestellt: Entweder sie sparen bzw. leihen sich 6000 Euro, dienen 15 Monate im türkischen Militär, verzichten ab dem Alter von 38 auf die Einreise in die Türkei, oder sie beantragen die Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft. Nach der Erhöhung des Freistellungsbetrags auf 10000 Euro war eine entsprechende Tendenz festzustellen. Laut Süddeutscher Zeitung vom 29. Januar 2013 haben in München »von 199 Betroffenen inzwischen 188 eine Entscheidung gefällt. Nur vier von ihnen haben sich bisher gegen den deutschen Paß entschieden. Diese Quote deckt sich in etwa mit den bundesweiten Zahlen.« Wer möchte schon einen Paß, der zu dem Zeitpunkt 10000 Euro kostete? Dementsprechend sollte in der weiteren Debatte über die Doppelpaßfrage das Thema der türkischen Wehrpflicht nicht einfach ausgeblendet werden. Denn wenn sich die deutsche Position bezüglich doppelter Staatsbürgerschaft ändern sollte und es langfristig (und eigentlich erfreulicherweise) zu einer Zulassung eines deutsch-türkischen Doppelpasses käme, dann würden zugleich alle davon betroffenen Männer zu Wehrpflichtigen in der Türkei.

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, warum diese Tatsache in der Debatte um den Doppelpaß von der Mehrheit der Beteiligten übergangen wurde. Bisher haben weder jene Politikerinnen und Politiker, die für sich sonst gerne typische »Migrantenthemen« reklamieren, noch die einschlägigen Interessenverbände das Thema angesprochen. Immerhin scheint sich zumindest innerhalb der Türkischen Gemeinde in Deutschland allmählich etwas zu bewegen. Diese fordert inzwischen nicht nur die Reduzierung des Freikaufbetrags auf 2000 Euro, sondern auch eine grundsätzliche Neuregelung der Wehrpflicht für Migranten in Deutschland. Damit sollen vor allem junge Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft Alternativen zur obligatorischen Wehrpflicht erhalten, indem sie etwa statt des Wehrdienstes in der Türkei ein freiwilliges soziales Jahr in Deutschland absolvieren.

Milliarden durch Freikauf

Am 13. Dezember 2012 richtete, wie bereits erwähnt, die BDP-Abgeordnete Sebahat Tuncel eine parlamentarische Anfrage an das türkische Verteidigungsministerium. Sie wollte wissen, »wie hoch die Geldsumme« im Zusammenhang mit der Freikaufregelung sei, »die seit 1995 von männlichen türkischen Staatsbürgern im Ausland eingenommen wurde«. Am 9. Januar 2013 beantwortete der Minister die Anfrage mit einer Tabelle, in der die jährlichen Beträge aufgelistet sind.[3] Das Ergebnis läßt aufhorchen: Um der Wehrpflicht zu entgehen, haben türkische Staatsbürger demnach in den Jahren 1995 bis 2012 insgesamt 2777239378,80 Türkische Lira (eine gute Milliarde Euro) an den türkischen Staat gezahlt. Bereits 1995 nahm die türkische Staatskasse auf diesem Wege gut 60 Millionen Lira (22,5 Millionen Euro) ein. Auffällig ist, daß die Beträge über die Jahre hinweg bis hin zum Rekordwert im Jahr 2011 mit über 400 Millionen Lira (etwa 150 Millionen Euro) kontinuierlich gestiegen waren und sich erstmals 2012 auf knapp 180 Millionen Lira (knapp 68 Millionen Euro) verringerte. Die Erklärung dafür ist einfach und deckt sich mit der bereits erwähnten Änderung der Gesetzeslage. Bevor die neue Freikaufsregelung zum 1. Januar 2012 in Kraft trat, bildeten sich lange Schlangen vor den türkischen Konsulaten. Tausende versuchten sich damals noch, zum günstigeren Tarif von 5100 Euro freizukaufen. Laut Hürriyet waren von den insgesamt 50000 betroffenen »Auslandstürken« in Europa, die sich Ende Dezember 2011 in die Schlangen einreihten, 26000 dauerhaft in Deutschland lebende türkische Staatsbürger.

Vor allem diejenige, die einerseits die doppelte Staatsbürgerschaft für »Optionskinder« fordern und andererseits das Thema Wehrpflicht in der Türkei unerwähnt lassen, sollten die Zahlen des türkischen Verteidigungsministeriums genauer in Augenschein nehmen. Denn solange die Optionsregelung unverändert fortbesteht, bedeutet der türkische Paß für viele betroffene Männer mehr eine Last als ein Gewinn. In der Konsequenz wäre es sinnvoll, beide Debatten miteinander zu verknüpfen. Die Forderung nach dem Doppelpaß sollte auch mit den Auswirkungen für die betroffenen verbunden werden, da diese, wenn sie gleichzeitig den türkischen Paß hätten, zum Opfer der oben beschriebenen Erpressung werden würden: entweder 15 Monate militärischer Zwangsdienst, die Zahlung von 6000 Euro an die türkische Staatskasse oder der lebenslange Verzicht auf die geliebte »Heimat«.

Wie die Geschichte weitergehen wird, ist derzeit noch offen. Erfreulich ist allerdings, daß sich Bewegung abzeichnet. Einen entscheidenden Anteil daran hat die türkische Kriegsdienstverweigererbewegung in Verbindung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Seit 2006 konnten Kriegsdienstverweigerer, die die Türkei vor dem EGMR verklagt haben, bereits vier Siege erzielen. Inzwischen hat der Gerichtshof die Türkei explizit dazu aufgefordert, ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu schaffen. Seitdem rumort es in Regierungs- und Armeekreisen, und die Einführung eines zivilen Ersatzdienstes wird wahrscheinlicher. Die türkische Verfassung läßt diese Option zu, da sie nur sehr allgemein davon spricht, daß der »Militärdienst das Recht und die Pflicht eines jeden Türken« sei, wie dieser aber »geleistet wird oder als geleistet gelten soll, entweder in den Streitkräften oder im öffentlichen Dienst, wird per Gesetz geregelt«. Folglich bedürfte es nur eines entsprechenden Zivildienstgesetzes, um den Vorgaben des EGMR zu entsprechen. Denkbar wäre eine Regelung ähnlich der deutschen: Wer aus Gewissensgründen den Militärdienst ablehnt, erklärt seine Kriegsdienstverweigerung. Wird diese Erklärung als glaubhaft befunden, »darf« die entsprechende Person Zivil- anstatt Militärdienst leisten. Ob diese Regelung aber ausreichend sein wird, um den Forderungen der antimilitaristischen Bewegung in der Türkei zu genügen, ist anzuzweifeln.

Anmerkungen
  1. Ersin Kaya: »Vicdani Red Uygulamasi ve Türkiye« (Das Recht auf Totalverweigerung und die Türkei), in: Stratejik Arasatirmalar Dergisi. Eylül 2006, in: Zeitschrift für Strategische Untersuchungen, September 2006
  2. Siehe online: www.connection-ev.org/article-1835
  3. Online einzusehen unter: www2.tbmm.gov.tr/d24/7/7-13453c.pdf
* Gürsel Yildirim ist türkischer Kriegsdienstverweigerer und seit vielen Jahren in der antimilitaristischen Bewegung politisch aktiv. Julian Irlenkäuser ist Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), und promoviert zum Thema »Kriegsdienstverweigerung in der Türkei«.

Aus: junge welt, Montag, 26. August 2013



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