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Kurdenpartei droht mit Boykott

Türkei: AKP versucht, durch Parlamentsausschlüsse absolute Mehrheit zu schaffen

Von Nick Brauns *

Nach der Aberkennung des Abgeordnetenmandates eines kurdischen Politikers und der fortdauernden Inhaftierung weiterer Oppositionsabgeordneter befindet sich die Türkei zwei Wochen nach den Parlamentswahlen in einer schweren politischen Krise. 35 Abgeordnete des aus prokurdischen und sozialistischen Parteien gebildeten »Blocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit« wollen das Parlament so lange boykottieren, »bis die Regierung konkrete Schritte zur Aufhebung dieser rechtswidrigen und undemokratischen Entscheidung unternimmt«, hieß es in einem Ende vergangener Woche veröffentlichtem Statement.

Auch ihrer Vereidigung auf der konstituierenden Parlamentssitzung am Dienstag wollen die Abgeordneten fernbleiben, weil der Hohe Wahlrat ihrem mit rund 78000 Stimmen in der Stadt Diyarbakir gewählten Kollegen Hatip Dicle das Mandat entzogen hat. Dicle, der bereits in den 90er Jahren aus dem Parlament heraus verhaftet und für zehn Jahre inhaftiert worden war, befindet sich seit anderthalb Jahren wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans PKK erneut in Untersuchungshaft. Grund für die Aberkennung seines Mandats ist eine dem Wahlrat schon bei Zulassung seiner Kandidatur bekannte Verurteilung Dicles aus dem Jahr 2009 wegen »terroristischer Propaganda«.

In kurdischen Städten sowie in Istanbul gingen in den vergangenen Tagen Zehntausende für Dicle auf die Straße. Mehrfach kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sollte der Staat seine Entscheidung bezüglich Dicle nicht rückgängig machen, käme dies einer »Kriegserklärung« gleich, drohte unterdessen PKK-Führungsfunktionär Murat Karayilan aus dem Rebellen-Hauptquartier in den nordirakischen Kandil-Bergen. Auf Initiative ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan hatte die PKK ihren einseitigen Waffenstillstand nach der Wahl verlängert, um eine politische Lösung der kurdischen Frage im Rahmen einer neuen Verfassung zu ermöglichen.

Am Wochenende lehnte ein Gericht zudem die Haftentlassung der Block-Abgeordneten Selma Irmak, Faysal Sariyldiz und Kemal Aktas ab. Sie sitzen gemeinsam mit Dicle im Gefängnis von Diyarbakir in Untersuchungshaft wegen angeblicher PKK-Unterstützung. Auch zwei für die kemalistische Oppositionspartei CHP gewählte Abgeordnete, der Journalist Mustafa Balbay und der Hochschuldozent Mehmet Haberal, sowie der Abgeordnete der faschistischen MHP, General Engin Alan, müssen aufgrund ihrer mutmaßlichen Verstrickung in Putschpläne in Untersuchungshaft bleiben. CHP und MHP kündigten rechtliche Schritte an, da die Inhaftierten nicht an der Abgeordnetenvereidigung teilnehmen können.

Bei der Wahl hat die regierende islamisch-konservative AKP-Partei von Premier Recep Tayyip Erdogan ihr Ziel einer für die Änderung der Verfassung notwendigen Mehrheit von 330 Sitzen mit 326 Mandaten nur knapp verfehlt. Der Verdacht liegt nah, daß durch den Ausschluß von Oppositionsabgeordneten nun nachträglich diese Mehrheit geschaffen werden soll. So wurde Dicles Sitz bereits an die zweitplazierte Kandidatin seines Wahlkreises, eine AKP-Politikerin, vergeben.

* Aus: junge Welt, 27. Juni 2011


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