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Erdogan geizt nicht mit Versprechen

Türkische Opposition dagegen will verfassungsändernde Mehrheit der AKP verhindern

Von Jan Keetman, Istanbul *

Der Sieger der türkischen Parlamentswahlen am Sonntag (12. Juni scheint festzustehen: Recep Tayyip Erdogan, 57 Jahre alt, noch 1998 mit lebenslangem Politikverbot belegt, inzwischen seit acht Jahren Regierungschef. Doch er herrscht mit zunehmend autoritären Methoden.

»Den einen Weg sind gegangen wir… aus dem einen Wasser haben getrunken wir…«, dröhnt es aus dem Lautsprecherwagen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durchs Viertel. Aufgezählt werden Türken, Kurden, Alewiten, Roma – die ganze Türkei eine große Gemeinschaft. In Wirklichkeit ist das Land gespalten und polarisiert wie eh und je. Deshalb nehmen die Türken die Wahl auch so wichtig, als ginge es um Himmel oder Hölle. Da hört man Gespräche wie: »Was, du willst am Sonntag wegfahren? Aber da ist doch Wahl, jede Stimme ist wichtig!«

Keiner war so mächtig

Dabei zweifelt kaum jemand daran, dass Recep Tayyip Erdogan die Wahl wieder gewinnen wird. Umfragen sehen seine AKP bei Werten zwischen 45 und 50 Prozent. Einige Beobachter merken allerdings an, dass Erdogan bisher vom Ruf des in der Vergangenheit ungerecht Behandelten, politisch Verfolgten profitierte. Heute aber kann niemand mehr behaupten, Erdogan werde unterdrückt. Kein türkischer Ministerpräsident der jüngeren Geschichte war so mächtig wie er. Jetzt wandern Erdogan-Gegner ins Gefängnis.

Und doch ist er nach wie vor die Persönlichkeit, mit der sich ein großer Teil der türkischen Gesellschaft identifizieren kann. Seine Wahlveranstaltungen sind riesig. Freilich hilft die Partei mit Bussen aus dem Umland gehörig nach.

Das Volk drängt sich: voran im gesonderten Block Frauen, fast alle mit Kopftuch, dahinter bärtige Handwerker, Kleinhändler und ihre Gehilfen – Leute, die man beim Freitagsgebet in der Moschee sieht. Und Erdogan weiß sie zu nehmen: »Was ihr seht, ist nicht der Politiker Erdogan«, sagt er, »was ihr seht, ist nicht der Ministerpräsident Erdogan und nicht der Parteichef Erdogan, vor euch steht einer von euch!« Die Menge jubelt, als hieße das: »Endlich haben wir – die Rechtschaffenen, die Gläubigen, die von den laizistischen Eliten Gegängelten – die Macht.«

Der Ministerpräsident geizt nicht mit Versprechen. Überall plant er Großprojekte – einen Kanal vom Schwarzen Meer zum Marmarameer, zwei Millionenstädte neben Istanbul, einen riesigen Tierpark für Ankara, ein Flugzeug aus türkischer Produktion ... Die Botschaft: Mit einer stabilen Regierung, seiner Regierung, kann die Türkei bis zum 100. Jahrestag der Republik 2023 nach den Sternen greifen.

Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu zieht dagegen einen Zettel aus der Hosentasche, auf dem steht: »In den letzten acht Jahren starben 212 Menschen wegen ungenügender medizinischer Behandlung im Gefängnis, in der ersten Jahreshälfte 2010 wurden 596 Personen nur wegen Äußerung ihrer Meinung angeklagt…«

Der zunehmend autoritäre Regierungsstil Erdogans ist längst auch im Ausland aufgefallen. Das britische Wirtschaftsmagazin »The Economist«, das 2007 die Wahl der AKP empfahl, rät nun zur Wahl der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kilicdaroglus. Die »Financial Times« merkt an, dass es zumindest nicht gut wäre, wenn Erdogan mit großem Vorsprung gewänne.

Diese plötzliche Vorliebe internationaler Wirtschaftskreise für die Opposition wird nicht einmal dadurch getrübt, dass Kilicdaroglu seiner Partei ein durchaus sozialdemokratisches Programm verordnet hat. Sein Trumpf ist die Einführung einer Sozialhilfe für Familien als Ersatz für die bisher anlässlich religiöser Feste oder vor Wahlen verteilten Lebensmittelpakete. Das Geld will er auf die Konten der Frauen überweisen lassen. Werbung für diese Sozialhilfe macht Kilicdaroglu speziell bei konservativen Fernsehsendern, um die Hausfrauen – Erdogans größtes Wählerreservoir – zu erreichen.

Bei vorangegangenen Wahlen erhielt die CHP unter ihrem damaligen Chef Deniz Baykal rund 20 Prozent der Stimmen, unter Kilicdaroglu traut man ihr 25 bis 30 Prozent zu. Der Abstand ist zu groß, um Erdogan zu entthronen. Wichtig für die Opposition ist jedoch, dass die AKP keine verfassungsändernde Mehrheit erhält, die Erdogan die Einführung eines Präsidialsystems ermöglichte.

Wahl mit Eigenheiten

Das hängt auch vom Abschneiden der rechtsradikalen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ab. Im Mai, als Sex-Videos mit führenden MHP-Politikern auftauchten, drohte die Partei unter die 10-Prozent-Hürde zu fallen, die vor dem Parlamentseinzug steht. Dass ausgerechnet das Ergebnis der ultranationalistische MHP darüber entscheiden könnte, ob Erdogans AKP eine neue Verfassung ganz allein schreiben kann oder sich mit anderen Parteien wenigstens abstimmen muss, gehört zu den Eigenheiten dieser Wahl.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2011


Kurden hoffen auf den Tag danach

BDP sieht sich verfolgt und benachteiligt

Von Jan Keetman **


Eines der Rätsel bei diesen Wahlen ist das Verhältnis der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) zu Ministerpräsident Erdogan.

Recep Tayyip Erdogan hat die kurdische Frage für gelöst erklärt. Das erbittert die BDP. Dazu kommt Erdogans klare Absage an muttersprachlichen Unterricht für Kurden – einen Monat später forderte er aber muttersprachlichen Unterricht für Türken in Deutschland.

Und nicht nur das. Im Wahlkampf griff der Regierungschef die BDP aggressiv an. In der Kurdenhochburg Diyarbakir stellte er sie vor 20 000 Anhängern als eine Partei von Ungläubigen hin. Immer wieder werden BDP-Aktivisten verhaftet, weil sie angeblich einer Nebenorganisation der PKK angehören. Nach Schätzungen sind bereits 3000 kurdische Aktivisten in Untersuchungshaft.

Außerdem verdächtigt die BDP die Regierung, sie plane einen Wahlbetrug in den Kurdengebieten. Anzeichen dafür gibt es. So berichtete der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen in Diyarbakir, Ecevit Odabasi, anders als bei früheren Wahlen seien diesmal kaum Lehrer aus seiner Gewerkschaft als Wahlhelfer nominiert worden. Stattdessen werden Wahlhelfer aus der viel kleineren Lehrergewerkschaft Egitim-Bir-Sen eingesetzt, die dem pensionierten Prediger Fethullah Gülen nahesteht. Gülens religiöse Bewegung unterstützt Erdogan.

Kurz: Das Verhältnis von BDP und AKP ähnelt dem zwischen Erzfeinden. Trotzdem gibt es nicht wenige in der BDP, die darauf hoffen, dass Erdogan am Tag nach der Wahl wieder auf die Kurden zugeht. Grund für diese Hoffnung sind Gespräche, die die Regierung durch den Geheimdienst MIT mit dem gefangenen PKK-Führer Abdullah Öcalan führt. Öcalan hat der Regierung bis zum 15. Juni – drei Tage nach der Wahl – Zeit für einen Vorschlag zur Lösung der Kurdenfrage gegeben. Sonst droht er mit »Krieg«.

Erdogan braucht im Moment vor allem die nationalistischen Wähler. In den Kurdengebieten ist die BDP seine einzige ernst zu nehmende Konkurrenz. Da sie die 10-Prozent-Hürde landesweit nicht überwinden kann, bewerben sich die BDP-Kandidaten als Unabhängige um Direktmandate. Schafft es ein Unabhängiger nicht, sind seine Stimmen verloren. Bei den Wahlen 2007 brauchte die Vorgängerpartei der BDP daher jeweils 12 Prozent der Stimmen, um einen Kandidaten in Diyarbakir durchzubringen, der AKP reichten dafür – weil alle Stimmen zählen – 7 Prozent. Da das so leicht ist, lohnt es sich für Erdogan nicht, mit Zugeständnissen um kurdische Stimmen zu kämpfen und dafür nationalistische Wähler zu verlieren.

Derweil hinkt der Südosten hinter dem allgemeinen Aufschwung der Türkei zurück. In einem Park an der Stadtmauer Diyarbakirs sitzt ein alter Mann. Nach seiner Meinung zur Wahl gefragt, sagt er leise, er sei arbeitslos und sein Sohn sei arbeitslos. Und ohne Frieden mit denen »in den Bergen« könne es einfach keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben.

Zahlen und Fakten

DIE KURDEN: Etwa 20 Millionen Kurden leben in der Türkei, rund 20 Prozent der Bevölkerung. Am stärksten ist ihre Identität im Südosten des Landes ausgeprägt.

Im Parlament werden die Kurden derzeit durch die BDP vertreten, die Partei für Frieden und Demokratie. Um die hohe Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen, tritt die BDP im Bund mit einigen linken türkischen Gruppierungen in ihren Hochburgen mit nominell unabhängigen Einzelbewerbern an. Prominente Kandidaten sind die Menschenrechtsaktivistinnen Leyla Zana und Emine Ayna.

Der türkische Wahlrat hatte versucht, Zana und andere kurdische Bewerber aufgrund früherer Verurteilungen wegen Separatismus oder Beleidigung des Türkentums von den Wahlen auszuschließen. Nach parteiübergreifenden Protesten wurden sie jedoch wieder zugelassen. Nach Umfragen können die BDP und ihre Verbündeten mit bis zu 30 statt bisher 20 Sitzen im Parlament rechnen. AFP/ND



** Aus: Neues Deutschland, 11. Juni 2011


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