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Gasgranaten und Sexvideos

Türkei: Regierungspartei will absolute Mehrheit bei Juni-Wahlen mit allen Mitteln

Von Nick Brauns *

Bei den Parlamentswahlen am 12. Juni hofft der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf eine absolute Mehrheit für seine seit 2002 allein regierende, islamisch-konservativ ausgerichtete AKP. Mit einer solchen verfassungsändernden Mehrheit könnte Erdogan sein Lieblingsprojekt eines autoritären Präsidialsystems umsetzen. Während Erdogan im Wahlkampf Reizthemen wie das Kopftuchverbot meidet, wirbt der offenbar an Cäsarenwahn leidende Ministerpräsident mit Projekten wie dem Neubau einer erdbebensicheren Millionenstadt neben Istanbul und eines »zweiten Bosporus « zur Entlastung der Meerengen. Zusätzliche Wählerstimmen hofft die AKP mit einer strikt nationalistischen Rhetorik vor allem im rechtsnationalistischen Spektrum zu gewinnen.

Auch schmutzige Methoden werden angewandt, um die hier als Konkurrenz begriffene faschistische MHP unter die Zehnprozentwahlhürde zu drücken. So tauchten im Internet mit geheimdienstlichen Mitteln angefertigte Videomitschnitte verheirateter »Grauer Wölfe« bei Treffen mit jungen Frauen im Schlafzimmer auf. Erdogan wies aber eine Verantwortung der AKP an den Filmen zwar zurück, erklärte aber, Ehebruch sei in einem Land mit 99 Prozent Muslimen keine Privatangelegenheit. Zehn MHP-Führer sind bislang aufgrund der Filme von ihren Ämtern zurückgetreten.

Die unter ihrem Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu wieder stärker sozialdemokratisch ausgerichtete kemalistische Hauptoppositionspartei CHP umwirbt neben ihren traditionell laizistischen Hochburgen an der Ägäisküste insbesondere die religiöse Minderheit der Aleviten in Kilicdaroglus Heimatprovinz Tunceli (Dersim), die eine weitere Islamisierung des Lands unter der AKP befürchten. Bei seiner Wahlkampftour durch die kurdischen Landesteile hat sich Kilicdaroglu die Forderung kurdischer Verbände nach kommunaler Selbstverwaltung, der Senkung der Zehnprozentwahlhürde sowie der Einrichtung einer Wahrheitskommission zu eigen gemacht. Erdogan wirft der CHP, die in den kurdischen Landesteilen über kaum eine Basis verfügt, daher vor, sich mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK gegen die AKP verschworen zu haben.

Konnte Erdogan aufgrund scheinbarer Gegnerschaft zum Militär vor vier Jahren noch eine Mehrheit der Wähler in den kurdischen Landesteilen für sich gewinnen, so wurde ihm hier in den letzten Tagen ein kühler Empfang bereitet. Viele Läden blieben aus Protest gegen seinen Besuch geschlossen. In der Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung Hakkari fanden sich nur knapp tausend Anhänger Erdogans, vor allem vom Staat bezahlte Dorfschützer, zur Kundgebung ein. Dem Ministerpräsidenten wurde von vielen Kurden nicht verziehen, daß er mit Blick auf die umworbenen türkischen Nationalisten erklärte hatte: »Es gibt kein kurdisches Problem mehr, sondern nur Probleme kurdischer Bürger. «

Um die Zehnprozenthürde zu umgehen, hat die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie BDP mit 18 kleineren kurdischen und sozialistischen Parteien einen »Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit« gebildet, der landesweit 60 Direktkandidaten unterstützt. Der Linksblock tritt für eine Lösung der kurdischen Frage durch »demokratische Autonomie «, für Arbeiterrechte sowie eine neue freiheitliche Verfassung ein. In den kurdischen Landesteilen findet der Wahlkampf unter Bürgerkriegsbedingungen statt. Fast täglich greift die Polizei BDP-Kundgebungen mit Gasgranaten an. Rund 3000 BDP-Aktivisten wurden in den letzten zwei Monaten festgenommen. Bei landesweiten Razzien wurden zudem am Dienstag 53 Studenten verhaftet, denen eine PKK-Mitgliedschaft vorgeworfen wird.

* Aus: junge Welt, 26. Mai 2011


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