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Auf Wachstumskurs

Die Türkei strebt den Sprung in die Gruppe der zehn größten Volkswirtschaften an. Kooperation mit anderen Schwellenländern ist dabei wesentlicher Faktor

Von Wolfgang Pomrehn, Istanbul *

Während in Deutschland das Wirtschaftswachstum immer noch knapp über Null herumdümpelt, nehmen viele Schwellenländer schon wieder richtig Fahrt auf. So auch die Türkei, die bereits im vergangenen Jahrzehnt eine ökonomische Erfolgsgeschichte erlebte. Im ersten Quartal 2010 legte die hiesige Volkswirtschaft um 11,7 Prozent im Vergleich zu den ersten drei Monaten 2009 zu. Beobachter bleiben allerdings noch vorsichtig in der Beurteilung der Lage. Gegenüber dem letzten Quartal 2009 hat die Wirtschaftsleistung nämlich nur gering zugenommen. Der hohe Zuwachs im Jahresvergleich ist eine Folge des Einbruchs um über 14 Prozent zu Jahresbeginn 2009. Unterm Strich läßt sich immerhin bilanzieren, daß die Volkswirtschaft die Verluste wieder wettgemacht hat und nun mit zunächst gedämpftem Tempo weiter wächst. Entsprechend ist die Stimmung unter den Verbrauchern so gut wie seit zweieinhalb Jahren nicht mehr.

Die Regierung in Ankara hat dem Land allerdings ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2023 soll es unter die zehn größten Volkswirtschaften aufrücken. Dafür müßte das Bruttoinlandsprodukt (BIP), so hat dieser Tage die türkische Zeitung Zaman vorgerechnet, jährlich um 8,2 Prozent wachsen. Das wären südkoreanische, taiwanische oder chinesische Verhältnisse. In Ostasien waren in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger kontinuierliche Wachstumsraten auf derart hohem Niveau nichts Ungewöhnliches. Außerhalb der Region hat das jedoch schon lange kein Land mehr geschafft.

Aber auch so kann sich die türkische Entwicklung sehen lassen, wenn man sie an den herkömmlichen Indikatoren mißt und für einen Augenblick die immer noch bedrückende Lage eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung vergißt. Nachdem die Wirtschaft am Bosporus in den 90er Jahren eine Berg-und-Talfahrt zwischen kräftigem Wachstum und mehreren schweren Einbrüchen erlebte, ging es ab 2002 stetig aufwärts. Mal schneller mit acht und neun Prozent im Jahr, mal langsamer mit fünf Prozent 2007, im letzten Vorkrisenjahr.

Sollten die Wachstumsträume der Regierung tatsächlich wahr werden, so wird die Türkei schon in knapp 15 Jahren in etwa das heutige Wirtschaftsniveau Deutschlands erreichen. Einer der Gründe, die die Erwartungen realistisch erscheinen lassen, sind die guten Wirtschaftsbeziehungen zu den anderen Schwellenländern und unter diesen insbesondere zu Rußland, das einer der wichtigsten Außenwirtschaftspartner ist. Rußland dürfte, solange die Gas- und Ölvorräte reichen, bei den anhaltend hohen und tendenziell steigenden Rohstoffpreisen über reichlich finanzielle Mittel verfügen, um weiter fleißig zu wachsen. Einiges spricht dafür, daß sich zwischen den Schwellenländern ein sich selbst tragender Aufschwung herausbildet, der auf die Nachfrage in den alten Industrieländern nur noch bedingt angewiesen ist.

Doch selbst wenn die durchschnittlich 8,2 Prozent Wachstum für die nächsten 13 Jahre zu hoch gegriffen sind, so wird das Wohlstandsgefälle zwischen der Türkei und Westeuropa in den nächsten Jahren weiter abflachen. Um so erstaunlicher sind die Widerstände konservativer Kräfte in vielen EU-Staaten gegen einen Beitritt des eurasischen Staates. Erst in der vergangenen Woche war die Vorsitzende des türkischen Unternehmerverbandes TÜSIAD - man stelle sich eine Frau an der Spitze des BDI vor - auf Werbetour in Brüssel. Außer Unverbindlichkeiten bekam sie dort allerdings vom EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy nichts zu hören.

Aktuell plagen die Wirtschaft jedoch andere Sorgen als die Frage, ob das Land nun in die EU aufgenommen werden wird oder nicht. Der Verband der Exporteure beklagte sich dieser Tage bitterlich über den hohen Wechselkurswert der einheimischen Währung, der Lira, die seit 2009 nicht nur gegenüber dem schwächelnden Euro, sondern auch dem US-Dollar zugelegt hat. Dadurch verteuern sich automatisch türkische Waren im Ausland. Im Juni seien deshalb nur Exporte im Umfang von 9,17 Milliarden US-Dollar möglich gewesen, gegenüber einem Volumen von zehn Milliarden US-Dollar, das bei den alten Kursen möglich gewesen wäre.

Davon abgesehen müssen türkische Unternehmen auch noch mit dem Amtsschimmel kämpfen, wenn sie mit dem Ausland Handel treiben wollen. Die EU-Staaten verlangen von türkischen Bürgern noch immer Visa, während ihre eigenen Bürger längst visafrei in die Türkei einreisen können. Hiesige Geschäftsleute klagen immer wieder über aufwendige und langwierige Prozeduren, wenn sie Partner oder potentielle Kunden in der EU besuchen wollen. Besonders die deutschen Konsulate scheinen sich oft sehr unkooperativ zu verhalten.

* Aus: junge Welt, 9. Juli 2010


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