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Massenfestnahme von Anwälten

Kurdische Politiker starten Selbstanzeigenkampagne

Von Nick Brauns *

Die türkische Polizei hat am Dienstag (22. Nov.) bei landesweiten Razzien mindestens 100 Personen unter Terrorverdacht festgenommen. 48 der Betroffenen, denen eine Mitgliedschaft in dem der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehenden Dachverband Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) unterstellt wird, sind Rechtsanwälte. In Istanbul stürmten Hunderte Polizeibeamte die Kanzlei der Anwälte des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Mindestens eine Anwältin Öcalans, Aye Batumlu, wurde inhaftiert.

Auch mehrere Büros der prokurdischen linken Partei für Frieden und Demokratie (BDP) und die Redaktionen der Tageszeitung Özgür Gündem und des Theoriemagazins Demokratik Modernite wurden durchsucht. Neben zahlreichen BDP-Funktionären waren auch Mitglieder der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (ESP) der westtürkischen Provinz Izmit von der Festnahmewelle betroffen. Bei ihnen wurden unter anderem Ausgaben des »Kommunistischen Manifests« beschlagnahmt.

Seit dem Kommunalwahlerfolg der vor zwei Jahren verbotenen BDP-Vorgängerpartei DTP im Frühjahr 2009 wurden im Rahmen der sogenannten KCK-Operationen rund 8000 kurdische Politiker und Aktivisten festgenommen, 4000 von ihnen befinden sich weiterhin in Haft. Kürzlich waren auch der renommierte türkische Menschenrechtsaktivist und Verleger Ragip Zarakolu und die Universitätsdozentin und Verfassungsrechtlerin Büsra Ersanli unter Terrorverdacht verhaftet worden, weil sie an Parteischulen der BDP unterrichtet hatten. Der Vorsitzende der BDP, Selahattin Demirtas, seine Stellvertreterin Filiz Kocali und andere Parteivorstandsmitglieder haben sich unterdessen bei der Istanbuler Sonderstaatsanwaltschaft selbst angezeigt, um gegen die Massenverhaftungen zu protestieren. »Bei den KCK-Operationen wurden vor allem Teile der Parteispitze, Abgeordnete, Bezirks- und Gemeindevorsitzende und Mitglieder aus allen Bereichen der Partei, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Akademiker festgenommen. Ich habe an den Veranstaltungen, die diese Personen initiierten, teilgenommen. Wenn die Veranstaltungen eine Straftat darstellen, dann habe ich dieselben Straftaten wie sie begangen. Ich zeige mich hiermit selbst an«, erklärte Demirtas.

Tatsächlich wird keinem der Inhaftierten eine Gewalttat vorgeworfen. Die angebliche PKK-Unterstützung leitet sich aus der kommunalpolitischen Arbeit, der Schaffung basisdemokratischer Stadtteilräte, dem Eintreten für Frauenrechte und kurdischsprachigen Schulunterricht und der Forderung nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage ab. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat in den letzten Tagen mehrfach bekräftigt, daß die Verhaftungen gegen mutmaßliche KCK-Mitglieder weitergehen werden. »Wie kann eine Organisation, die einen Parallelstaat schaffen will, unschuldig sein«, bezichtigte Erdogan die KCK, mit dem Aufbau rätedemokratischer Selbstverwaltungsstrukturen in den kurdischen Landesteilen das Land zu spalten.

* Aus: junge Welt, 23. November 2011

Dokumentiert:

Pressemitteilung [23.11.2011]
  • Heidrun Dittrich, MdB DIE LINKE
  • Andrej Hunko, MdB DIE LINKE, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats
  • Ulla Jelpke, MdB DIE LINKE
  • Ingrid Remmers, MdB DIE LINKE
  • Harald Weinberg, MdB DIE LINKE
  • Jürgen Klute, MdEP DIE LINKE
  • Hamide Akbayir, MdL NRW, DIE LINKE
  • Ali Atalan, MdL NRW, DIE LINKE
  • Bärbel Beuermann, MdL NRW, DIE LINKE
  • Barbara Cárdenas, MdL Hessen, DIE LINKE
  • Marion Padua, Stadträtin Nürnberg, Linke Liste
  • Yilmaz Kaba, Landesvorstand Niedersachsen, DIE LINKE
  • Michael Knapp, Historiker
  • Martin Dolzer, Soziologe
  • Dr. med. Gisela Penteker IPPNW

Graue Eminenz der AKP Fethullah Gülen ruft zur Vernichtung der KurdInnen auf

Die graue Eminenz der AKP Fetullah Gülen, der u.a. Ehrenvorsitzender des in Berlin ansässigen Forum für Interkulturellen Dialog ist und zurzeit in den USA lebt, kritisierte in einer jüngst ausgestrahlten Videobotschaft die „Erfolglosigkeit“ im 30-jährigen Kampf gegen die PKK und schlug menschenverach-tende Auswege vor.

Gülen forderte die Regierung im Verlauf der ca. 45minütigen Videobotschaft bezüglich der KurdInnen unter Beschwörung der nationalen Einheit im Namen Allahs auf, die Kurden zu vernichten: „Lokalisiert sie, umzingelt sie (...) zerschlagt ihre Einheiten, lasst Feuer auf ihre Häuser regnen, überzieht ihr Klagegeschrei mit noch mehr Wehgeschrei, schneidet ihnen die Wurzeln ab und macht ihrer Sache ein Ende!“ In Bezug auf die Guerilla forderte Gülen ebenfalls deren Vernichtung durch militärische Übermacht und ergänzte: „Ob 500, ob 5000, lass es 50.000 (gemeint sind die Guerillas) sein, du hast eine Million (gemeint sind Soldaten).“

Unter diesen Vorzeichen lassen sich die aggressive Kurdenpolitik der AKP und die Forderung nach einer tamilischen Lösung der kurdischen Frage seitens regierungsnaher Kräfte besser verstehen. Mit diesen Aussagen lenkt und bestimmt Gülen die aktuelle Politik gegenüber KurdInnen und anderen fortschrittlichen Bewegungen in der Türkei.

Die Bewegung Gülens betreibt in der Türkei mehrere Stiftungen sowie ein Medienimperium mit der regierungsnahen und auflagenstärksten Zeitung Zaman und mehreren Fernsehsendern. Unter dem Dach der Stiftungen befinden sich zahlreiche Privatuniversitäten, mehr als 200 Privatschulen, sowie 1.000 „Lichthäuser“ für den Religionsunterricht. Sämtliche Eliten des Landes samt der AKP werden von Anhängern der Gülen-Bewegung dominiert. Internationale Experten sprechen diesbezüglich von einer destruktivieren und gefährlicheren Kraft als dem „Tiefen Staat“ in den neunziger Jahren. Auch in der Bundesrepublik betreibt die Bewegung das Internet Nachrichtenportal „Deutsch-Türkische Nachrichten“ und in vielen Städten Moscheen und Nachhilfeinstitute.

„Dass die AKP Regierung unter den Vorzeichen eines Aufrufs zum Massenmord durch ihren Vordenker, seitens der Bundesregierung und weiteren Kräften immer noch als bestmögliches „Rollenmodell“ zur Demokratisierung der Türkei und des Mittleren Ostens gesehen wird ist vom menschenrechtlichen Standpunkt aus inakzeptabel. Wir verurteilen den Aufruf zum Massenmord durch Fethullah Gülen und sind mehr als besorgt über die aggressive Politik der AKP gegenüber der kurdischen Bevölkerung,“ so die UnterzeichnerInnen der Pressemitteilung.

Seit 2009 wurden mehr als 4000 legal agierende PolitikerInnen und MenschenrechtlerInnen inhaftiert - darunter 6 ParlamentarierInnen, 16 BürgermeisterInnen und mehrere FrauentherapeutInnen. Erst gestern wurden in der Türkei 70 AnwältInnen festgenommen. Zudem mehren sich die Berichte über Kriegsverbrechen bis hin zu Chemiewaffeneinsätzen seitens der türkischen Armee. Vor einigen Tagen wurde in Deutschland eine Strafanzeige nach dem Völkerstrafgesetzbuch wegen Kriegsverbrechen u.a. gegen Ministerpräsident Erdogan gestellt (www.kriegsverbrechen-tuerkei.info).

„Sämtliche demokratischen Kräfte sind aufgefordert Druck auf die türkische Regierung auszuüben, sich von den Äußerungen und Absichten Fethullah Gülens zu distanzieren auf die Freilassung der Inhaftierten hinzuwirken. Die kurdische Frage kann nur auf friedlichem und demokratischem Weg gelöst werden. Dazu bedarf es allerdings eine Politik der Verständigung und des Dialogs.“




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