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Erdogan setzt auf Sieg bei Referendum

Türkei: Abstimmung über Verfassungsänderung dürfte sich kaum auf die Politik auswirken

Von Jan Keetman, Istanbul *

Am Sonntag (12. Sep.) wird in der Türkei über eine Verfassungsreform abgestimmt. Dabei geht es unter anderem um eine Stärkung der zivilen Kontrolle über die Militärs und eine Neustrukturierung wichtiger Institutionen der Justiz.

In letzter Zeit wurde die »Ja«-Kampagne der Regierung vor dem Referendum an diesem Sonntag selbst Nazli Ilicak zu viel. Man solle sich nicht wundern, wenn sie demnächst in Istanbul an ein paar Stellen Plakate für ein »Nein« aufhängen würde, nur wegen der Ausgewogenheit. »Überall, in allen Straßen, in allen Gassen ›Ja!‹«, so die Kolumnistin der regierungsnahen Massenzeitung »Sabah«.

Dabei ist Nazli Ilicak über jeden Verdacht der Sympathie für das Militär oder für andere Gegner der Regierung erhaben. In den neunziger Jahren saß Ilicak für Erbakans islamische Wohlfahrtspartei im Parlament und war eine mutige Kritikerin des Militärs. Damals hat das Verfassungsgericht ihr Abgeordnetenmandat aufgehoben und ein Politikverbot über sie verhängt.

Ilicak selbst will mit »Ja« stimmen, zugleich kritisiert sie aber den Druck, den die Regierung in den vergangenen Wochen auf Organisationen und Einzelpersonen ausübte, damit sich diese öffentlich für die Annahme des Referendums einsetzen. Der Druck ist wirklich enorm. Berühmt-berüchtigt geworden ist die Äußerung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, dass jeder, der keine Wahlempfehlung abgeben wolle, wie der Unternehmerverband TÜSIAD, aus dem Wege geräumt werde.

Auch die Opposition glänzte nicht gerade mit Sachlichkeit. Deren Führer, Kemal Kilicdaroglu, hat sich offenbar entschlossen, die Abstimmung in ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu verwandeln. Bei seinen Auftritten ging es ihm nicht mehr um einzelne Punkte der Verfassungsänderung, sondern um Dinge wie das »Ver-Recepen« der Türkei, eine Wortschöpfung, die sich auf Regierungschef Erdogan bezieht. Das Regierungslager konterte mit ebenso unsachlichen »Argumenten«. Kilicdaroglu wurde dafür attackiert, dass er ein teures Hemd eines italienischen Herstellers trägt. Der Angegriffene reagierte prompt und trägt nun nur noch Hemden mittlerer Preisklasse eines türkischen Herstellers.

Dabei hat Kilicdaroglu auch bessere Momente. Der 61-jährige pensionierte Beamte, der erst vor kurzem zum Politiker wurde, setzt nicht wie sein Vorgänger Deniz Baykal auf totale Blockade, sondern ist zu Kompromissen bereit. Auch Erdogan hatte kurz vor der Abstimmung seinen Ton wenigstens etwas zu gemildert. Auf einer Kundgebung vor einer Millionen Menschen in Istanbul räumte er immerhin ein, dass die »Nein«-Sager keine »Vaterlandsverräter« seien. Aber eine Ablehnung des Verfassungsreferendums würde denen helfen, die »den Horizont des Landes verdunkeln wollen«.

Grob gesagt will die eine Seite mit ihrem »Ja« die antidemokratische Macht alter Eliten brechen, die sich nicht zuletzt in der Justiz manifestiert. Indessen fürchtet die andere Seite, dass Erdogans gemäßigt islamische AK-Partei zu mächtig werden könnte und so auf leisen Sohlen eine neue Diktatur kommen könnte.

Wie das Referendum ausgeht, ist offen. Nach jüngsten Umfragen liegen die von Erdogan angeführten Unterstützer der Reform vorn. Die Befragung des Instituts Genar ergab einen Anteil von 53,8 Prozent »Ja«-Stimmen gegenüber 46,2 Prozent »Nein«-Anhängern. Die Börse jedenfalls setzt mit einem Höhenflug auf Zustimmung.

Dabei kann man gar nicht so leicht sagen kann, über was am Sonntag genau abgestimmt wird. So geht es unter anderem auch um einen Zusatz zum Gleichheitsgrundsatz der Verfassung, der spezielle Förderung benachteiligter Gruppen ermöglichen soll. Pläne der Regierung, etwa zur Einführung von Frauenquoten, sind aber nicht bekannt. Es ist auch schwer nachzuvollziehen, dass man, wenn man mehr Möglichkeiten für die Frauenförderung will, zugleich schwer durchschaubaren Änderungen in der Zusammensetzung juristischer Gremien zustimmen soll. Zudem klingen viele Änderungen gut, bewirken aber nichts. Welchen Gewinn haben Arbeitnehmer, wenn sie nun auch Mitglied mehreren Gewerkschaften sein dürfen? Rein symbolisch ist auch die auf Drängen der Opposition nachträglich aufgenommene Abschaffung von Paragrafen, mit denen sich die Putschisten vom 12. September 1980 selbst Immunität gewährten. Passieren wird wohl kaum etwas, denn die Verjährungsfristen wurden nicht geändert.

* Aus: Neues Deutschland, 11. September 2010


Vor dem Referendum

Zum 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980 ist die türkische Gesellschaft nicht nur in Sachen Verfassungsänderung tief gespalten

Von Nick Brauns **


An diesem Sonntag entscheiden die Wähler in der Türkei zwischen »Juristokratie« und »Zivildiktatur«. Diesen Eindruck erwecken zumindest die führenden Politiker der islamisch-konservativen AKP-Regierung und der laizistisch-nationalistischen Opposition. Zum symbolträchtigen 30. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980, auf den die gültige autoritäre Verfassung zurückgeht, stellt die Regierung ihre bislang umfangreichste Verfassungsreform zur Abstimmung.

Das aus 26 Artikeln bestehende Paket beinhaltet eine Reihe auch von seinen Gegnern grundsätzlich befürworteten Reformen wie die Möglichkeit, Offiziere vor Zivilgerichte zu bringen, und das Recht auf Tarifverhandlungen für Beamte, nicht aber deren Streikrecht. Aufgrund von Verjährungsfristen lediglich symbolisch ist die Aufhebung eines Verfassungsartikels, der den Putschisten von 1980 Immunität zusichert.

Der Kern des nur komplett zur Abstimmung stehenden Reformpakets betrifft Änderungen, die den Einfluß des – von der AKP dominierten – Parlaments auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte stärken. Aus Sicht der AKP hat die Justiz das Militär als wichtigste Bastion des laizistischen Lagers ersetzt. So kassierten die obersten Gerichte regelmäßig Gesetze der Regierung und Urteile der bereits von islamischen Kräften unterwanderten Gerichte.

Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP, deren Klientel im Staatsapparat um ihre Pfründe fürchtet, sieht in den Verfassungsänderungen eine »Politisierung der Justiz«. Wenn die Reform in Kraft trete, werde sich die Türkei schnell in ein autoritäres, von der AKP dominiertes System verwandeln, warnte Kilicdaroglu vor einer »Gesellschaft der Angst«. Für die CHP geht es auch darum, der seit acht Jahren allein regierenden AKP vor den Parlamentswahlen im nächsten Sommer eine Schlappe beizubringen.

Wer mit »Nein« stimme, sei ein Verteidiger des Putsches von 1980, beschuldigte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag im Fernsehsender NTV pauschal seine Kritiker. Unterstützung bekam er von der Europäischen Kommission, deren Generaldirektor für Erweiterung, Michael Leigh, die Verfassungsreform einen »Schritt in die richtige Richtung« nannte. Auch Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, Popsängerin Sezen Aksu und die Industrie- und Handelsverbände werben für ein Ja, während der Vorsitzende des linken Gewerkschaftsbundes DISK, Suleyman Celebi, ebenso wie Vertreter der Aleviten die Nein-Kampagne unterstützen.

Zum Zünglein an der Wage könnten die Wähler in den kurdischen Landesteilen werden. Die dort dominante linke Partei für Frieden und Demokratie BDP hat zum Boykott des Referendums aufgerufen, weil sich die Regierung weigerte, substantielle Verbesserungen für die Kurden wie eine Senkung der Zehnprozenthürde bei Parlamentswahlen zur Abstimmung zu stellen. Die BDP verbindet die Boykottkampage mit der Propagierung ihres Projektes demokratischer Autonomie durch den Aufbau kurdischer Selbstverwaltungsstrukturen. Während Erdogan Ende voriger Woche in der kurdischen Metropole Diyarbakir geschützt von Tausenden Soldaten und Polizisten vor einigen zehntausend Anhängern für ein Ja warb, versammelte die BDP kurz darauf über 100000 Demonstranten auf ihrer zentralen Boykottkundgebung. Die Kurden würden niemals eine Verfassung akzeptieren, die ihre Existenz nicht anerkenne und ihre Rechte nicht garantiere, sprach sich die BDP-Vorsitzende Gülten Kisnak für eine neue, demokratische Verfassung aus. Wie die Zeitung Radikal am Mittwoch berichtete, hat der Hohe Wahlausschuß beschlossen, den Boykott des Referendums mit einer Geldstrafe von umgerechnet 11,40 Euro zu sanktionieren – für viele Menschen in den armen kurdischen Landesteilen eine empfindliche Strafe.

** Aus: junge Welt, 11. September 2010


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