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Erdogans Sieg

Mehrheit der Türken stimmt für Verfassungsreform. Boykott des Referendums in kurdischen Städten

Von Nick Brauns *

Mit 58 Prozent Ja-Stimmen sind Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative AKP-Regierungspartei der große Wahlsieger beim türkischen Verfassungsreferendum am Sonntag. Lediglich in den traditionellen Hochburgen der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP entlang der Mittelmeer- und Ägäis-Küste lag das Nein-Lager vorn. Die Gegner des Reformpakets kritisieren, daß die Regierungspartei mehr Einfluß auf die Zusammensetzung der oberen Justiz­organe bekommt, während Erdogan seinen Kritikern Sympathien mit der Militärjunta unterstellte, die nach dem Putsch vor 30 Jahren die gültige autoritäre Verfassung vorgelegt hatte. Daß der Sieg des Reformlagers keineswegs automatisch zu mehr Demokratie in der Türkei führen muß, hatte Erdogan noch am Tag vor der Abstimmung gegenüber dem Sender CNN Türk deutlich gemacht. Er werde nach dem Referendum die Einführung eines Präsidialsystems auf die Tagesordnung bringen, kündigte Erdogan an. »Wenn das Volk uns seinen Segen gibt, kann dies im Rahmen einer völlig neuen Verfassung diskutiert werden.« Die Reform der Justizorgane diente damit offensichtlich vor allem dem Ziel, Hürden auf dem Weg zu einer solchen autoritäreren Regierungsform zu beseitigen.

Großer Verlierer des Referendums ist die faschistische MHP. Nachdem bereits in den letzten Wochen Hunderte Funktionäre und Bürgermeister die Partei verlassen hatten, weil sie im Unterschied zu ihrer Parteiführung für die Verfassungsreform stimmen wollten, überwogen jetzt auch in den mittelanatolischen Hochburgen der zweitstärksten Oppositionspartei die Ja-Stimmen.

Einen historischen Erfolg konnte dagegen die linke prokurdische Partei für Frieden und Demokratie BDP in den kurdischen Landesteilen feiern. Weil die Regierung sich geweigert hatte, in das Reformpaket von der kurdischen Bewegung geforderte Punkte wie eine Senkung der Zehnprozenthürde bei Wahlen aufzunehmen, hatte die BDP zum Boykott aufgerufen. In fast allen kurdischen Städten blieb die türkeiweit trotz Abstimmungspflicht nur bei 77 Prozent liegende Wahlbeteiligung unter 50 Prozent. Lediglich 6,8 Prozent der Wähler beteiligten sich etwa in Hakkari am Referendum. In der Millionenstadt Diyarbakir, wo fast 70 Prozent der Wähler den Boykott unterstützt hatten, feierte die BDP ihren Erfolg am Abend mit einem Feuerwerk. »Der Teil der Bevölkerung, der nicht zur Wahl ging, hat seine Unterstützung für die BDP-Politik unter Beweis gestellt, deren wichtigster Punkt das Angebot einer demokratischen Autonomie ist«, erklärte der BDP-Abgeordnete Sirri Sakik am Wahlabend. Nachdem es bereits in den letzten Tagen in vielen kurdischen Städten zu Straßenschlachten der Polizei mit Anhängern der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK gekommen war, ging die Polizei am Referendumstag in den türkischen Städten Istanbul, Adana und Mersim gewaltsam gegen BDP-Anhänger vor, denen sie die Behinderung von Wahlwilligen vorwarf.

* Aus: junge Welt, 14. September 2010


Klares Ja zu Erdogans Verfassungsreform

Zustimmung zu Änderungen am türkischen Grundgesetz international begrüßt

Von Jan Keetman, Istanbul **


In einem Referendum haben die türkischen Wähler die umfassendste Verfassungsreform in ihrem Land seit Jahrzehnten gebilligt. Das von der Regierung Recep Tayyip Erdogans vorgelegte Änderungspaket hatte am Sonntag etwa 58 Prozent der Stimmen erhalten; die Beteiligung lag zwischen 77 und 78 Prozent. International wurde das Ergebnis der Abstimmung begrüßt.

Mit Autokorsos wie nach einem gewonnenen Fußballspiel feierten in der Nacht zum Montag in Istanbul Anhänger des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ihren Sieg bei dem Referendum am Sonntag. Der Gewinner der Abstimmung sei die Demokratie, sagte Erdogan in der Stadt am Bosporus vor jubelnden Anhängern. Mit der Reform ende das »Vormundschaftssystem« in der Türkei. Der Regierungschef dankte auch Unterstützern aus anderen Parteien. Mit Blick auf die traditionell mächtige Rolle des Militärs zeigte sich Erdogan offen für parteiübergreifende Gespräche über eine völlig neue Verfassung.

Mit den insgesamt 26 Änderungen an der Verfassung erhalten die türkischen Bürger mehr Rechte, zum Beispiel erstmals die Möglichkeit von Individualklagen vor dem Verfassungsgericht. Zugleich wird die zivile Kontrolle über die Armee gestärkt, Putschgeneräle können erstmals vor Gericht gestellt werden. Umstritten ist eine in dem Paket enthaltene Justizreform, die Präsident und Parlament mehr Einfluss auf die Auswahl hoher Richter einräumt.

Dass Erdogan die Abstimmung über die Verfassungsänderungen mit 58 Prozent klar gewinnen würde, hatte kaum jemand vermutet. Das bei den vorangegangenen Wahlen stets zuverlässige Meinungsforschungsinstitut A & G hatte ihm lediglich einen hauchdünnen Vorsprung prophezeit. Den überwältigenden Sieg muss man zum größten Teil Erdogan selbst zuschreiben, nicht dem Inhalt des Referendums. Einer Umfrage zufolge kannte beinahe die Hälfte der Wähler keinen einzigen der geänderten Paragrafen. Es wird erwartet, dass die Regierung nun gelassen an die Parlamentswahlen im nächsten Jahr geht und nicht versucht, mit Wahlgeschenken Stimmen zu kaufen.

Vertreter der türkischen Wirtschaft waren mit dem Ergebnis ebenfalls zufrieden. »Die Türkei kann nun alles meistern«, sagte Mehmet Büyükeksi, Vorsitzender des Rates der türkischen Exporteure. Trotzdem wünsche er sich mehr Veränderungen, die Türkei brauche eine ganz neue Verfassung.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle hält einen Beitritt des Landes zur EU nun ausdrücklich für möglich. Auch die Europäische Union begrüßte die Annahme der Verfassungsänderungen, forderte zugleich jedoch weiterreichende Reformen. Die Neuerungen seien »ein Schritt in die richtige Richtung«, hieß es in einer Erklärung von EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle. Die tatsächliche Bedeutung für die Lebenswirklichkeit in der Türkei werde von der Umsetzung der Verfassungsänderungen abhängen. Noch am Sonnabend hatten die EU-Außenminister trotz laufender Verhandlungen eine klare Beitrittsperspektive für die Türkei abgelehnt und Ankara vorerst nur einen »strategischen Dialog« angeboten.

US-Präsident Barack Obama sagte nach Angaben des Weißen Hauses in Washington Ministerpräsident Tayyip Erdogan in einem Telefongespräch, die Beteiligung an der Abstimmung sei ein Zeichen für die Lebendigkeit der türkischen Demokratie.

** Aus: Neues Deutschland, 14. September 2010


Referendum in der Türkei: Chance vertan

Von Sevim Dagdelen ***

Das Referendum über die Verfassungsreform in der Türkei ist in zweierlei Hinsicht eine vertane Chance. Das angegebene Ziel der Regierungspartei AKP, durch die Verfassungsreform mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erreichen zu wollen, wird nicht erreicht. 30 Jahre nach dem letzten Militärputsch in der Türkei wird die damals von der Junta dem Land und der Bevölkerung aufgezwungene Verfassung im wesentlichen beibehalten. Zwar werden die Rechte von Kindern, Frauen, Menschen mit Behinderungen und Senioren gestärkt, doch die von den Militärs damals verankerten antidemokratischen Institutionen wie der Nationale Sicherheitsrat, der Oberste Hochschulverwaltungsrat oder der Fernseh- und Rundfunkrat bleiben unangetastet. Die uneingeschränkte Wahrung der Gewerkschaftsrechte, das Streikrecht und das Recht auf Kollektivverhandlungen werden mit dem Referendum nicht sichergestellt. Und die dringend notwendigen kulturellen Rechte von Minderheiten werden ebenfalls nicht verfassungsrechtlich verankert. Große Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effektivität der Justiz bleiben weiterhin, und mit den neuen Kompetenzen des Präsidenten sind die Sorgen und Ängste bezüglich einer zunehmenden Islamisierung der Türkei nicht von der Hand zu weisen.

Neben den größten Oppositionsparteien, der republikanischen CHP und der nationalistischen Rechten MHP, die zur Ablehnung des Referendums aufriefen, hatte sich ein breites linkes Bündnis aus Parteien und Organisationen, Berufsverbänden und Gewerkschaften gebildet, die eine gemeinsame Nein-Kampagne führten. Mit 42 zu 58 Prozent unterliegen die – unterschiedlich motivierten – Gegner der Verfassungsreform. Daß sie es nicht geschafft haben, den Osten des Landes für ein Nein zu gewinnen, offenbart die Schwäche der Linken in der Türkei. Mit einer zwar niedrigen Wahlbeteiligung, aber im Durchschnitt fast 90prozentigen Zustimmung in den vor allem als kurdische Provinzen bekannten Gebieten hat sich die Boykottkampagne der kurdischen Partei BDP negativ auf das Nein-Lager und somit das Endergebnis ausgewirkt. Ein Blick auf die Wahlkarte ergibt das Bild, daß der Osten für die Verfassungsreform gestimmt hat, obwohl der Boykott dort teilweise sogar befolgt wurde. Der BDP-Boykott wurde unterschiedlich begründet. Unter anderem hieß es, man wolle sich nicht in einem Lager mit der rechten MHP befinden. Bleibt die Frage, wem diese Haltung mehr genutzt hat?

Zur Erinnerung: Daß nationalistische oder rechte Parteien in Frankreich zum Nein-Lager beim Referendum über die EU-Verfassung 2005 gehörten, tat der politischen Linken in Frankreich, die ebenfalls zum Nein aufriefen, keinen Abbruch. Und dem Ergebnis, der Ablehnung der EU-Verfassung, schon gar nicht.

*** Die Autorin ist stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und für die Linksfraktion Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages.

Aus: junge Welt, 14. September 2010 (Gastkommentar)


Lesen Sie hierzu eine Replik von Murat Cakir:

Die vertane Chance der türkischen Linken
Eine Replik von Murat Cakir auf Sevim Dagdelens Gastkommentar "Chance vertan" (19. September 2010)




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