Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogans Tränen rühren seine Gegner kaum

Am 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980 wird in der Türkei über Verfassungsänderungen abgestimmt

Von Jan Keetman, Istanbul *

Die Türkei nähert sich dem 30. Jahrestag des Militärputsches von 1980. Am gleichen Tag, dem 12. September, soll über eine Verfassungsänderung abgestimmt werden. Um dieses Datum rankt sich auch der Wahlkampf.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan möchte den Jahrestag des Militärputsches und das Referendum über die Verfassungsänderung bewusst miteinander verbinden, schließlich gehe es um eine Änderung des von Putschgeneral Kenan Evren in Auftrag gegebenen Grundgesetzes. In einer von zahlreichen Fernsehkanälen übertragenen Rede vor seiner Fraktion las Erdogan Dokumente vor, die drei von den Putschisten hingerichtete Jugendliche betreffen. Dem Ministerpräsidenten brach die Stimme, Tränen traten ihm in die Augen. Tatsächlich berichtete er von ergreifenden Geschichten: Die Eltern Mustafa Pehlivanoglus beispielsweise hatten ihren Sohn im Gefängnis besuchen wollen, erfuhren dort aber nur, dass er drei Tage zuvor hingerichtet worden war.

Der 12. September 1980 war wahrlich ein schwarzer Tag in der Geschichte der Türkei. Hunderttausende wurden inhaftiert und gequält, viele starben unter der Folter oder wurden hingerichtet. Doch die Türkei blieb NATO-Mitglied, die Bundesrepublik verdreifachte sogar ihre Militärhilfe.

Bleibt die Frage, inwiefern das Referendum etwas mit der Bewältigung der Putschfolgen zu tun hat. Nicht zum ersten Mal wird die »Putschverfassung« verändert, und es handelt sich auch nicht um die umfassendste Novellierung. Zwar fällt ein Artikel, mit dem sich die Militärs selbst Straffreiheit garantierten, doch wegen Verjährung sind die damaligen Drahtzieher und ihre Helfershelfer ohnehin wohl nicht mehr zu belangen. Die Opposition hatte angeboten, die Verjährungsfristen ebenfalls zu ändern, doch das lehnte die Regierung ab.

Die Opposition wirft der Regierung deshalb Unaufrichtigkeit vor. Die Vorsitzende der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Gültan Kisanak sprach gar von »Krokodilstränen«. Erdogan mache Politik mit dem Leid anderer. Kisanak saß nach dem Putsch zwei Jahre im Gefängnis.

Doch der Symbolkraft des Datums kann sich niemand entziehen. So ziehen denn Befürworter wie Gegner der Verfassungsänderung mit Erinnerungen an den Putsch in die Schlacht um das Referendum. Erdogan sieht ein Ja als eine »Abrechnung« mit den Putschisten. Oppositionsführer Kemal

Kilicdaroglu von der Republikanischen Volkspartei (CHP) brandmarkt die Änderung als eine »Fortführung« der Verfassung des Putschgenerals Kenan Evren. Die BDP wirbt mit der Parole »Wir wollen weder die Verfassung von Kenan Evren noch die von Tayyip Erdogan« für einen Boykott.

Die Kontrahenten bemühen auch deshalb die Geschichte, weil es ihnen an anderer Munition für den Abstimmungskampf mangelt. Viele der vorgesehenen Änderungen sind technischer Natur und eignen sich schlecht zur Mobilisierung der Wähler. Sicher ist, dass der Einfluss der Regierung auf die Justiz zunehmen wird, wenn die Novelle durchgeht. Doch nachdem das Verfassungsgericht das Paket mit kleinen Änderungen durchgewinkt hat, ist es schwer, einen eklatanten Verstoß gegen die Gewaltenteilung zu behaupten. Auch der Regierung fällt es schwer zu erklären, warum sie genau diese Änderungen will. Da kommt der Symbolgehalt des 12. September gerade recht.

Enttäuscht sind vor allem die Kurden: Weder fällt die undemokratische 10-Prozenthürde für Parlamentswahlen noch wird der Begriff »Türke« - wie sie fordern - durch »türkischer Staatsbürger« ersetzt. Überhaupt ist von der »demokratischen Initiative« der Regierung, durch die Türken und Kurden miteinander versöhnt werden sollten, um der PKK den Boden zu entziehen, so gut wie nichts geblieben. Stattdessen droht die Verschärfung des militärischen Konflikts im Südosten. Die Meldungen über Tote in Gefechten zwischen der Armee und der PKK-Guerilla häufen sich. Bilder weinender Mütter, die sich an die mit Fahnen bedeckten Särge klammern, dringen tief ins öffentliche Bewusstsein. Auf der anderen Seite werden gefallene PKK-Kämpfer in kurdischen Dörfern und Städten als Märtyrer betrauert.

Tayyip Erdogan will die Verluste der Armee nun durch die Aufstellung von Spezialeinheiten senken. Statt Wehrpflichtiger, die nach kurzer Ausbildung in die Berge geschickt werden, um gegen trainierte, motivierte und erfahrene PKK-Kämpfer vorzugehen, sollen längerfristig verpflichtete und gut bezahlte Spezialisten in den Südosten entsandt werden. Beobachter schätzen jedoch, dass für den Schutz der Region an den Grenzen zu Irak und Iran mindestens 20 000 Soldaten notwendig wären. Der Plan dürfte also mit erheblichen Kosten verbunden sein. Und die einheimische Bevölkerung fürchtet schon jetzt, dass sich aus der Spezialarmee wieder Todesschwadronen entwickeln, die wie zu Beginn der 90er Jahre Furcht und Schrecken in den Kurdengebieten verbreiten. Den Gedanken an eine politische Lösung des Konflikts scheint die Regierung jedenfalls aufgegeben zu haben. Das Projekt liegt in Scherben.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2010


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage