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Rekordarbeitslosigkeit am Bosporus

Die türkische Wirtschaft reagiert mit Massenentlassungen auf die Krise

Von Jürgen Gottschlich *

In Istanbul gehen Arbeitslose und Gewerkschafter täglich auf die Straße. Sie protestieren gegen Massenentlassungen durch Staatsbetriebe. Die von der Regierung versprochenen Ersatzarbeitsplätze gibt es nicht.

Es waren schockierende Bilder, die in den letzten Tagen des alten Jahres über die Bildschirme der türkischen Nachrichtenstationen flimmerten. Ältere Männer lagen niedergeschlagen auf einem zentralen Platz in Ankara, andere standen mit zerrissenen Kleidern mitten im Winter knietief im Wasser. Was da gezeigt wurde, waren die Ergebnisse eines Polizeieinsatzes, bei dem Hunderte von Spezialeinsatztruppen erbarmungslos auf völlig friedliche Demonstranten eingeschlagen hatten und ihre Kollegen die Versammlung darüber hinaus aus Wasserwerfern traktierten. Die Opfer dieses Polizeieinsatzes waren zumeist gestandene Familienväter in den Fünfzigern, die einem Aufruf von Türk-Is, dem eher konservativen, staatstreuen Gewerkschaftsdachverband gefolgt waren, und in Ankara dafür demonstrierten, dass die Regierung früher gemachte Versprechen jetzt auch einhalten soll.

Hartnäckige Proteste

Allen Demonstranten gemeinsam ist, dass sie bis jetzt in einem staatlichen Betrieb im Tabak- oder Alkoholsektor beschäftigt waren. Dieses frühere Staatsmonopol TEKEL war vor Jahren von der Regierung aufgelöst und nach und nach privatisiert worden. Jetzt sind viele der früheren staatlichen Fabriken geschlossen und die Arbeiter auf die Straße gesetzt worden. Weil das bereits beim Verkauf der Fabriken absehbar war, hatte man die Beschäftigten mit dem Versprechen beruhigt, sie würden in anderen Staatsbetrieben Arbeitsplätze bekommen. Doch angesichts der Wirtschaftskrise kann oder will die Regierung die Zusagen nun nicht einhalten. Bei der derzeitigen Arbeitslosigkeit haben die ehemaligen TEKEL-Arbeiter indes keine Chance, auf dem normalen Arbeitsmarkt einen Job zu finden. Das erklärt die Hartnäckigkeit ihres Protestes. Seit fast einem Monat versammeln sie sich nun schon aus allen Landesteilen in der Hauptstadt. Auch die brutalen Polizeieinsätze konnten sie nicht vertreiben. Angebote der Regierung, die darauf hinauslaufen, dass sie zukünftig in Teilzeit für lediglich rund 600 Lira (280 Euro) arbeiten sollen, wollen sie nicht akzeptieren. »Davon kann man schließlich keine Familie ernähren«, sagte einer der Demonstranten.

Hohe Dunkelziffer



Eine Lösung ist nicht in Sicht, und die TEKEL-Arbeiter sind bei Weitem nicht die einzigen, die in der Türkei derzeit auf der Straße stehen. Die Weltwirtschaftskrise hat am Bosporus weniger die Banken, dafür umso mehr die Beschäftigten erwischt. Während die Börse fast schon wieder auf ihrem Höchststand von 2007 angekommen ist, sind jeden Monat mehr Menschen ohne Arbeit. Nach offiziellen Statistiken sind es 13,5 Prozent. Da mehr als die Hälfte der Beschäftigten aber ohne Sozialversicherung gearbeitet hat und deshalb gar nicht registriert war, dürften die realen Zahlen nach Schätzungen der meisten Ökonomen eher bei 25 Prozent liegen. Bei Schul- oder Universitätsabgängern, die neu einen Job suchen, ist die Zahl noch höher. Der größte Teil der Industriearbeitsplätze hängt in der Türkei, wie in Deutschland, vom Export ab. Textil, Autobau, Haushaltswaren und Schiffsbau sind die wichtigsten Sektoren, die vor allem in den letzten zehn Jahren enorm zugelegt hatten. Überall dort ist der Export brutal eingebrochen, auch wenn im Dezember 2009 die Zahlen wieder nach oben gingen.

Schiffbau bricht ein

Besonders dramatisch ist der Einschnitt im Schiffsbau. Die Werftgelände im Istanbuler Vorort Tuzla, auf denen sich die gebaute Tonnage in den letzten acht Jahren mehr als verdreifacht hatte, sehen heute völlig verwaist aus. Etliche Betriebe haben die Tore geschlossen, in anderen werden mit einer kleinen Stammbelegschaft Restaufträge abgearbeitet. Cem Kaya, Generalsekretär von Limter Is, einer kleinen Gewerkschaft für Werftarbeiter, die zum linken Gewerkschaftsdachverband DISK gehört, hat die Zahlen alle im Kopf. Von den 40 000 Arbeitern, die hier noch im Frühjahr 2008 beschäftigt waren, sind jetzt höchstens noch 15 000 übrig, sagt er. Da rund 80 Prozent der Arbeiter über Subunternehmen als Zeitarbeitskräfte in die Werften kamen, konnten sie sofort gefeuert werden. Eine soziale Absicherung gibt es nicht. Die Leute, meint Kaya, gehen zurück in ihre Dörfer und versuchen dort von der Subsistenzwirtschaft zu leben. Das gilt nicht nur für Werftarbeiter. Das Dorf und die Großfamilie sind nach wie vor die primären sozialen Auffangstationen. Einige Istanbuler Bezirke zahlen gestrandeten Arbeitsuchenden aus Anatolien sogar den Umzug zurück aufs Dorf, wenn sie nur bereit sind, zu verschwinden.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Januar 2010


Tabakarbeiter streiken weiter

Türkei: Gewerkschafter wollen Proteste gegen Privatisierung fortsetzen

Von Nick Brauns **


Die Beschäftigten des staatlichen türkischen Tabak- und Alkoholmonopols TEKEL wollen ihre seit über drei Wochen anhaltenden Proteste gegen Massenentlassungen und Privatisierungen fortsetzen. Dafür votierten am Mittwoch in einer Urabstimmung in Ankara und 47 Tekel-Standorten 8150 von 8180 an der Abstimmung teilnehmenden Arbeitern. »Die rote Karte steht für Kapitulation, die weiße für Widerstand«, hatte es zuvor auf Plakaten vor der Zentrale der Gewerkschaftskonföderation Türk-Is in Ankara geheißen. Hier stimmten 1282 seit Mitte Dezember in einem Stadtpark campierende Arbeiter einstimmig für die Fortsetzung ihres Kampfes.

Nach dem Verkauf der Tabakproduktion an den Lucky-Strike-Produzenten British-American-Tobacco im Jahr 2006 will die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan 2010 alle noch in staatlicher Hand befindlichen Tekel-Lagerstätten schließen. Damit droht rund 12000 Arbeitern der Verlust ihres Arbeitsplatzes. Das Angebot eines elfmonatigen Kurzarbeitsprogramms mit drastischen Gehaltseinbußen und einem Verlust sozialer Rechte wiesen die Arbeiter mit ihrer Abstimmung zurück.

»Die Tekel-Arbeiter sind zu einer Plattform für alle Menschen in diesem Land geworden, die ausgeschlossen, unterdrückt und ignoriert werden. Wichtig ist insbesondere, daß die Widerstand leistenden Arbeiter zu einem Zeitpunkt aufgestanden sind, zu dem Erdogan jedermann Angst einjagt und einschüchtert«, betonte der Generalsekretär der kemalistisch ausgerichteten Tabak-, Alkohol- und Lebensmittelarbeitergewerkschaft Tek Gida-Is, Macit Amac.

Mit einstündigen Warnstreiks in anderen Betrieben haben die Gewerkschaftsföderationen Türk-Is und DISK in den letzten Tagen ihre Solidarität mit den Forderungen der Tekel-Arbeiter gezeigt. Die Internationale Gewerkschaft der Lebensmittel-Arbeiter (IUF) hat eine Unterschriftenkampagne eingeleitet, in der Ministerpräsident Erdogan zu sofortigen Verhandlungen mit Tek Gida-Is aufgefordert wird.

Zu Beginn des Protestes hatte die Polizei die in Ankara vor dem Sitz der AKP versammelten Gewerkschafter mit Knüppeln, Tränengas und Wasserwerfern attackiert. »Sie sind nur aufgrund der Provokationen einer gewissen Gruppe auf der Straße«, beschimpfte Erdogan die protestierenden Arbeiter. Gemeint sind damit die nationalistischen Oppositionsparteien CHP und MHP, die in den Protesten der Tekel-Arbeiter eine Chance sahen, eine neue Front gegen die AKP-Regierung zu eröffnen. Gewerkschaftschef Amac nannte die Abstimmung über eine Fortsetzung des Streiks eine Antwort auf Erdogans Anschuldigungen. »Es ist unser Ziel, das Recht der Arbeiter auf Selbstbestimmung deutlich zu machen.«

Nachdem sich auch die als Nachfolgerin der verbotenen DTP gegründete linke kurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) mit den Arbeitern solidarisierte, nahm am Dienstag eine Tekel-Arbeiterdelegation als Gast an der konstituierenden Sitzung der BDP-Fraktion im türkischen Parlament teil. Rund die Hälfte der von Entlassung bedrohten Tekel-Arbeiter kommt aus den kurdischen Landesteilen.

** Aus: junge Welt, 8. Januar 2010


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