Neo-osmanische Tendenzen in der Außenpolitik Erdoğans?
Von Udo Steinbach *
Prof. Dr. Udo Steinbach leitete von 1976 bis 2007 das Deutsche Orient-Institut in Hamburg, Leiter des Governance Center Middle East/North Africa an der HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance, Berlin.
us@udosteinbach.eu
Seit 20 Jahren verfolgt die Türkei eine neue außenpolitische Konzeption. Sie versteht sich als geopolitische Ordnungsmacht mit besonderer Verantwortung für die umgebende Region. Das hat sich nach dem Arabischen Frühling verstärkt. Beobachter sehen darin unter Verweis auf die Geschichte der Türkei „neo-osmanische Tendenzen“. Jedoch erkennt der Autor darin keinen islamischen Gegenentwurf zum Westen. Vielmehr entspricht diese neue Außenpolitik den wirtschaftlichen und politischen Potenzialen und Interessen der Türkei zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
In Ankara wird der Begriff „neo-osmanisch“ nicht gern gehört. Ebenso wenig gern, wie man dort die Türkei als „Brücke“ oder als „Modell“ verstanden sieht. Das Selbstverständnis und die Rolle des Landes als außenpolitischer Akteur werden nicht durch Bezüge welcher Art immer definiert. Selbstbewusst positionieren der Ministerpräsident und sein Außenminister Ahmet Davutoğlu die Türkei als einen geografischen Schlüsselstaat, der durch die Verfolgung nationaler Interessen und unter Ausnutzung der geografischen Lage und historischen Sonderbeziehungen zur einflussreichen Ordnungsmacht werden kann.
Das Attribut „neo-osmanisch“ bringt also eher die Überraschung außenstehender Beobachter zum Ausdruck, die einen Wandel der Schwerpunkte und Zielrichtungen der türkischen Außenpolitik in den letzten Jahren wahrnehmen. Diese lägen nicht länger in einer engen Einbettung türkischer Außenpolitik in die von den USA und der Europäischen Union vorgegebenen Politikfelder; eigenständig an seinen Interessen orientiert, suche das Land nun vielmehr vorrangig eine aktive Rolle in seinem geopolitischen Umfeld, insbesondere dem arabischen Raum. Dieser aber war tatsächlich vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil des Osmanischen Reiches. Manche Beobachter gehen sogar so weit zu vermuten, dass Ankara unter Erdoğan dem Westen den Rücken kehren wolle.
Die geschichtliche Dimension
Der Wandel der türkischen Außenpolitik ist unübersehbar. Er
ist zugleich untrennbar verbunden mit tief greifenden Veränderungen
in der Gesellschaft und der Innenpolitik des Landes.
Der Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk,
ist bemüht gewesen, das Erbe des Osmanischen Reiches in all
seinen Aspekten abzustreifen. Unter dem Motto „Friede daheim
und Friede in der Welt“ steuerte er einen nahezu isolationistischen
Kurs. Dieser ließ sich nach dem Zweiten Weltkrieg
unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges nicht mehr fortsetzen.
Vor dem Hintergrund der sowjetischen Bedrohung suchte die
kemalistische Elite nunmehr die Einbettung in die multilateralen
politischen und sicherheitspolitischen westlichen Systeme,
vornehmlich die NATO und die Europäische (Wirtschafts-)
Gemeinschaft. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass
die Außenpolitik ausschließlich Sache der Regierung, d. h. auch
der zivilen und militärischen Staatselite war. Keineswegs war sie
das Ergebnis eines demokratischen Abstimmungsprozesses.
Das begann sich unter der Präsidentschaft Turgut Özals
(1989-1993) zu verändern. Indem er 1990 die Türkei bereit
erklärte, die von den USA geführte Allianz gegen Saddam
Hussein zur Befreiung Kuwaits zu unterstützen, öffnete er das
Land in Richtung seiner nahöstlichen Nachbarschaft. In der
strikt kemalistischen Staatsklasse – nicht zuletzt in der Armee
– wurde dieser Schritt als eine Revolution und eine Abkehr
von außenpolitischen Prinzipien des Staatsgründers empfunden.
Zugleich suchte die sich unter ihm rasch marktwirtschaftlich
entwickelnde Türkei Absatzmärkte in der nahöstlichen
Nachbarschaft. Darüber hinaus bot der Zusammenbruch der
Sowjetunion neue geografische Räume für die Außen- und
Außenwirtschaftspolitik des Landes. Es war übrigens Özal, der
in der Euphorie des Umbruchs in Reden als erster führender
Politiker der kemalistischen Türkei gelegentlich das historische
Paradigma des Osmanischen Reiches beschwor.
Nach seinem Tod im April 1993 verschärfte sich die innenpolitische
Polarisierung mit Rückwirkungen auf die Außenpolitik.
Aus den Parlamentswahlen vom Dezember 1995 war die
islamistische Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) unter Necmettin
Erbakan als Siegerin hervorgegangen. Als Ministerpräsident
suchte dieser auch in der Außenpolitik neue Akzente zu
setzen. Einer von ihnen war die Gründung der Developing-
8-Organisation, eines lockeren politischen und wirtschaftlichen
Bundes islamischer Länder. Das kemalistische Establishment
war schockiert. Das Militär setzte nunmehr einen Gegenakzent,
indem es den Ministerpräsidenten nötigte, mit Israel Abkommen
zu unterzeichnen, die eine bis dahin nicht gekannte enge
militärische Zusammenarbeit vorsahen. Wenig später wurde
Erbakan zum Rücktritt gezwungen.
Außenpolitik als Innenpolitik
Die Politiker um Recep Tayyip Erdoğan und Abdullah Gül,
die mit der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP)
Ende 2002 an die Macht kamen, verstehen sich als Söhne
Erbakans. Dies in dem Sinne, dass sie den Islam prinzipiell als
für die Identität der Mehrheit der Bürger in der Türkei konstituierend
betrachten. Sie unterscheiden sich von ihm, indem
sie an dem kemalistischen Prinzip der Trennung von Religion
und Politik (layiklik) festhalten und die Pluralität der Weltanschauungen und sozialen Lebensformen akzeptieren. Die AKP
versteht sich auf diese Weise als eine Partei, die ihr Programm
in demokratischen Prozessen und Institutionen den Bürgern
zur Abstimmung vorlegen muss. Damit ist sie offenbar bei
diesen auf Resonanz gestoßen, die ihr in den Wahlen von 2007
(46,6 Prozent) und 2011 (49,9 Prozent) klare Mehrheiten
verschafft haben.
Außenpolitisch stand die Frage nach dem Fortgang des
Annäherungsprozesses an die EU im Mittelpunkt der Entscheidungen.
Auch hier unterschieden sich die Söhne von ihrem
Ziehvater Necmettin Erbakan. Hatte dieser im Streben nach
der Mitgliedschaft in der EU eine Abkehr vom Ziel der Errichtung
eines islamischen Staates gesehen, so waren die führenden
Köpfe der AKP um Erdoğan und Gül überzeugt, dass die
Verwirklichung der Mitgliedschaft der sicherste Weg zur Vertiefung
von Demokratie und Pluralität sein würden. Auch wäre
die weitere Annäherung an die EU eine Gewähr, dass nicht
abermals das kemalistische Establishment – im Extrem das
Militär – gegen die Partei mit dem Vorwurf vorgehen würde, sie
verstoße gegen das Prinzip des Laizismus. Vor diesem Hintergrund
sind die Reformpakete zu sehen, die zwischen 2003 und 2005 im Parlament verabschiedet worden sind. Sie haben das Land tief greifend im Inneren verändert. Die Türkei wurde – bei allen bis in die Gegenwart fortbestehenden Unzulänglichkeiten – demokratischer und pluralistischer als je in ihrer Geschichte.
Zugleich löste die AKP damit einen außenpolitischen Widerspruch
auf, der die Geschichte der Beziehungen zwischen der
Türkei und der EU durchzogen hat, seit beide Seiten nach dem
Ende der militärischen Intervention 1983 begonnen hatten,
wieder aufeinander zuzugehen: Dieser hatte darin bestanden,
dass die Kemalisten in der Ausrichtung
auf Europa zwar den Kern der Modernisierung
des Landes gesehen hatten; formal sollte diese Orientierung im
Beitritt der Türkei zur Europäischen Gemeinschaft (Union) ihre sichtbare
Bestätigung finden. Zugleich aber waren sie nicht bereit, den Preis zu zahlen, den das demokratische Europa verlangte, nämlich die Verwirklichung der „Kopenhagener Kriterien“. Vielmehr sahen sie in
ihnen eine Gefahr für den Fortbestand der beiden Grundpfeiler der Türkischen Republik: den türkischen Nationalismus,
der die Existenz eines kurdischen Volkes auf dem Boden der Türkei negierte; und den Laizismus, der den Islam als
gesellschaftliche Kraft radikal aus dem Erscheinungsbild der Türkei verdrängen sollte. So war es folgerichtig, dass mit
dem Beginn der Verhandlungen um die Mitgliedschaft der Türkei am 3. Oktober 2005 interne Kämpfe zwischen dem AKP-Establishment auf der einen und dem Lager der Kemalisten, namentlich im Militär und in der Justiz, auf der anderen Seite ausbrachen.
Die tief greifenden inneren Veränderungen im Inneren
hatten nachhaltige Auswirkungen auf die Außenpolitik der
Türkei. In einem Satz zusammengefasst: Der Demokratisierung
und Pluralisierung der Gesellschaft entsprach die Demokratisierung
der außenpolitischen Standortbestimmung. Unabweisbar
musste die geopolitische Nachbarschaft in diesem Prozess
besonders sichtbar in Erschienung treten. Nach Turgut Özals ersten Schritten und Necmettin Erbakans erratischen außenpolitischen
Eskapaden sollte nunmehr eine systematische Interaktion
zwischen einer Türkei, deren Elite sich unverhohlen und
demokratisch zu einer islamischen Identität bekannte, und
einer Nachbarschaft hergestellt werden, die durch den Islam
geprägt und über Jahrhunderte Teil einer mit der Türkei geteilten
Geschichte war. Damit verbunden war auch eine emotionale
Aufladung des Blicks einer breiten Öffentlichkeit und eines
Teils der Medien auf die Entwicklungen in der Nachbarschaft
unter dem Aspekt des gemeinsam geteilten Glaubens. Für die
Politiker der AKP wurde die Außenpolitik ein Feld, auf dem
sie nunmehr auch innenpolitisch punkten konnten. Zugespitzt
formuliert: Außenpolitik ist heute Innenpolitik.
Islamische Kontexte in der Politik
Unter diesem Aspekt ist naturgemäß der Komplex des „Nahostkonflikts“
ein besonders politisch ergiebiges Terrain. Die noch
vom Militär privilegierten Beziehungen zu Israel mussten hinter
einem in kräftigen Tönen bekundeten Engagement für die palästinensische
Sache zurücktreten. Als die internationale Gemeinschaft
den Sieg der Hamas in den palästinensischen Wahlen von
2006 nicht anerkennen wollte, wurde eine Delegation derselben
in Ankara empfangen. Als geeignet für markige Statements und
Auftritte insbesondere des Ministerpräsidenten erwiesen sich der
für die Palästinenser verlustreiche Krieg in Gaza im Dezember
2008 / Januar 2009 und das militärische Vorgehen der israelischen
Marine gegen das türkische Hilfsschiff für Gaza, die „Mavi
Marmara“, bei dem neun türkischstämmige Helfer getötet
wurden. Erdoğans Auftritt in Davos im Januar 2009, wo er vor
laufender Kamera aus Protest eine Podiumsdiskussion mit dem
israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres verließ, konnte zu
Hause genauso gut ankommen wie die unversöhnliche Forderung
nach einer Entschuldigung Israels für den Angriff auf das
Schiff. Auch hochtönende Versprechen wirtschaftlicher Investitionen
in Palästina und offene oder geheime Vermittlungsbemühungen
zwischen Israel und den Palästinensern sowie Syrien
gehören in diesen Kontext.
Eine stärkere Einbindung der Türkei in „islamische“ Kontexte
lässt sich auch auf anderen Politikfeldern feststellen. So ließ
bereits im Dezember 2004 die Nominierung Professor Ekmel Ihsanoğlus für den Vorsitz der Organisation der Islamischen Konferenz ein stärkeres Engagement der neuen Regierung erkennen, als dies bei den strikt säkularen Vorgängerinnen der Fall gewesen war. Zahlreiche Besuche führender türkischer Politiker in die arabischen Hauptstädte unterstrichen diese Tendenz ebenso wie der Ausbau der Beziehungen zur Arabischen Liga. Im Disput um das iranische Atomprogramm ließ die türkische Regierung nicht nur erkennen, dass sie darin – im Gegensatz zur internationalen Gemeinschaft – keine Bedrohung sehe; zeitweilig
war Ankara sogar bemüht, sich in eine Mittlerrolle zwischen
Iran und der internationalen Gemeinschaft zu begeben.
Der Wandel in der Politik der Türkei gegenüber ihrem islamischen
Umfeld ist dort auf Aufmerksamkeit gestoßen. Über
Jahrzehnte haben sich Türken und die Mehrheit der Araber und
anderer Muslime in wechselseitiger Abneigung wahrgenommen.
Die jahrhundertelange Herrschaft der Osmanen über die
Araber, der arabische Aufstand gegen die Osmanen im Ersten
Weltkrieg, die radikale Westorientierung des türkischen Modernisierungsweges (der in der islamischen Welt weithin als dem
Islam feindselig wahrgenommen wurde) und schließlich die
Eingliederung der Türkei in das „westliche“ Militärbündnis
der NATO sind einige der Gründe für eine auch emotionale
wechselseitige Abneigung gewesen. Die Öffnung der türkischen
Außenpolitik hatte bereits vor dem Ausbruch der arabischen
Revolte Ende 2010 zu einer Veränderung der Wahrnehmung
seitens arabischer Staaten geführt. Mit den revolutionären
Umbrüchen seither hat die Politik der AKP ein noch stärkeres
Interesse erregt. Die Rede ist von dem „türkischen Modell“ oder
„Vorbild“ und gemeint ist damit eine Synthese zwischen einem
dem Westen entlehnten Paradigma der Demokratie auf der
einen und einer im Islam wurzelnden Identität auf der anderen
Seite. Ministerpräsident Erdoğan hat auf seinen Reisen in arabische
Hauptstädte diesen Stimmungswandel gespürt. Dass er
und andere Politiker der AKP ihn auch emotional genossen
haben, ist unübersehbar gewesen.
Neues Konzept für neue Rolle
Nach dem Selbstverständnis der türkischen Regierung sind diese
Entwicklungen nicht Ausdruck eines „neo-osmanischen“ Gesinnungswandels
gewesen (obwohl Geschichte und Kultur des Osmanischen Reiches in den vergangenen Jahren – nicht zuletzt in Film und Fernsehen – popularisiert wurden wie nie zuvor in der Geschichte der Republik). Sie sind vielmehr Teil eines außenpolitischen Konzepts, nach dem sich die Türkei global neu aufstellt. Nicht zuletzt eine boomende Wirtschaft im Lande und die Einordnung der Türkei in weltwirtschaftliche Bezüge
vermitteln starke Impulse in diese Richtung. Architekt dieses
Konzepts der „strategischen Tiefe“ ist der Professor für Internationale
Beziehungen Ahmet Davutoğlu. Seit 2003 außenpolitischer
Berater des Ministerpräsidenten, ist er seit Mai 2009 als
Minister für die türkische Außenpolitik zuständig. Kernpunkt
des Konzepts ist die Aussage, die Türkei sei kein Staat an der
Peripherie Europas, des Nahen Ostens oder Zentralasiens,
sondern ein geopolitischer Schlüsselstaat, der durch die Verfolgung
nationaler Interessen und unter Ausnutzung der geografischen
Lage und historischen Sonderbeziehungen die Rolle einer
Ordnungsmacht spielen könne. Wesentliche Prinzipien bei der
Gestaltung dieses Potenzials seien eine gutnachbarliche Politik
zur Lösung bilateraler Probleme („Null-Problem-Politik“) und
eine multidimensionale Außenpolitik.
Ernüchterung nach Euphorie
Immer wieder ist die Frage gestellt worden, in welcher Beziehung
diese Neuorientierung zu der herkömmlichen Ausrichtung
des Landes, insbesondere auf die USA, die NATO und
die EU, stehe. Als das türkische Parlament im März 2003 den
USA den Aufmarsch im Irak über türkisches Gebiet verweigerte,
wollten Beobachter darin ebenso eine Abkehr von den
überkommenen Parametern türkischer Außenpolitik erkennen
wie im Nachlassen des Strebens nach Mitgliedschaft in der
EU in den letzten Jahren. Dies war von Anfang an eine nur
schwer zu belegende Annahme. Aber spätestens die Umbrüche
im arabischen Raum seit 2011 haben gezeigt, dass eine Politik
des Entweder-oder für die Türkei nicht zielführend ist. Bereits
die Versuche, in regionalen (Nahostkonflikt) oder internationalen
(Atomstreit mit Iran) Konflikten zu vermitteln, hatten
die Grenzen der Wirksamkeit türkischer Außenpolitik erkennen
lassen. Der Zusammenbruch der politischen Ordnungen in einer
Reihe arabischer Staaten bedeutete aber auch ein Scheitern der
„Null-Problem-Politik“ – hatte Ankara doch zu den Potentaten in Kairo, Tripolis und Damaskus ausgezeichnete Beziehungen.
Die türkische Außenpolitik steht vor der Herausforderung, das
Netzwerk regionaler Beziehungen neu knüpfen zu müssen. Das
erweist sich als kompliziert. Das neue Regime in Kairo wird
den Anspruch der Türkei, die Rolle einer regionalen Ordnungsmacht
zu spielen, nicht akzeptieren. Das gilt schon für den
Iran. Die Beziehungen zu Bagdad sind nachhaltig gestört, da
Ankara sich entschlossen hat, mit den Kurden im Nordirak in
eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit einzutreten. Und die
Unsicherheit über die Zukunft Syriens wirft auch Schatten auf
die Stabilität der Türkei. Die Frage nach dem künftigen Status
der Kurden in Syrien und die Tatsache einer De-facto-Selbstverwaltung
der Kurden im Nordirak akzentuieren das Problem,
das Ankara mit den Kurden im eigenen Lande hat. In dieser
komplexen Situation musste die türkische Regierung erkennen,
dass die Zukunft der Türkei nur gemeinsam mit den herkömmlichen
Partnern zu gestalten ist. Eine enge Zusammenarbeit mit
den USA ist längst wieder hergestellt. Das gilt für die Bekämpfung
kurdischer Gewalt im eigenen Lande, aber insbesondere
auch mit Bezug auf die Zukunft Syriens.
Mit Blick auf die Beziehungen zwischen Ankara und der EU
muss eingeräumt werden, dass auch das Desinteresse in Brüssel in
den vergangenen Jahren zur Abkühlung der Beziehungen beigetragen
hat. Nur eine doppelte Erkenntnis wird aus der Sackgasse
führen, in die die Beziehungen geraten sind: In Ankara sollte die
Einsicht Platz greifen, dass die Türkei im Alleingang nicht stark genug ist, um in ihrem geopolitischen Umfeld eine gestaltende Rolle von einigem Gewicht zu spielen; dass sie einem solchen Anspruch vielmehr nur im Kontext enger Ein- und Anbindung an eine größere Macht gerecht
werden kann. Diesbezüglich ist eine rationale Abwägung der Interessen
des Landes angemessener als eine von Emotionen geleitete Politik, die sich aus historischer Idealisierung inspiriert. Die Politiker in Brüssel
sollten erkennen, dass eine Türkei, die sowohl im europäischen
Sinne demokratisch ist als auch das geschichtliche, kulturelle
und religiöse Erbe seiner Nachbarn teilt, ein Partner von
enormer Bedeutung sein wird. Die Stellung Europas im internationalen
System des 21. Jahrhunderts wird auch von der
Qualität seiner Beziehungen zu seiner nordafrikanischen und
nahöstlichen Nachbarschaft abhängen. Zur Gestaltung Letzterer
kann die Türkei einen nachhaltigen Beitrag leisten. Im Falle
einer dergestalt konstruktiven Wahrnehmung der Potenziale des
Landes durch Brüssel und mit der Perspektive einer Mitgliedschaft
in der EU wird die türkische Führung dann bereit sein,
die Bemühungen um die Vertiefung der Demokratie fortzuführen,
die angesichts eines europäischen Desinteresses auf der einen
und einer auf schwankenden Fundamenten gegründeten Außenpolitik
der Türkei in den letzten Jahren auf der anderen Seite zum
Schaden beider Akteure auf der Strecke geblieben sind.
* Dieser Beitrag erschien in: Welt Trends - Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 90, Juni 2013, S. 31-39. - Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Welt Trends im Internet: http://welttrends.de
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