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"Die Region ist die Wiege vieler Zivilisationen"

Trotz nationaler und internationaler Proteste beharrt die türkische Regierung auf dem Bau des Illisu-Staudamms. Ein Gespräch mit Ipek Tasli

Ipek Tasli arbeitet im kurdischen Batman im Osten der Türkei für die Initiative zum Erhalt von Hasankeyf, einer Stadt aus der vorrömischen Zeit, die von einem großen Staudammprojekt bedroht ist.



Sie haben in einem Vortrag auf dem Europäischen Sozialforum in der vergangenen Woche gesagt, das Städtchen Hasankeyf, das dem Illisu-Staudamm weichen soll, gehöre nicht nur der türkischen Republik. Wie haben Sie das gemeint?

Der Ort gehört zum Welterbe und ist 15000 Jahre alt. Perser, Römer und viele andere haben hier geherrscht und Monumente hinterlassen. Die Türkei hat kein Recht, all diese Altertümer und archäologischen Fundstätten unter Wasser zu setzen. Die Region ist die Wiege vieler Zivilisationen, auch der europäischen. Von hier aus haben sich die Landwirtschaft und die seßhafte Lebensweise ausgebreitet. Davon abgesehen wird der Damm für Menschen und Umwelt schlimme Folgen haben.

Was ist der aktuelle Stand, nachdem sich vor einem Jahr Österreich, Deutschland und die Schweiz aus dem Projekt zurückgezogen haben?

Im Frühjahr wurden die Bauarbeiten trotzt des Widerstandes vieler Nichtregierungsorganisation, der örtlichen Bevölkerung und von Intellektuellen wieder aufgenommen. Die Finanzierung wird jetzt von den drei türkischen Banken Akbank, Halkbank und GarantiBank übernommen. Auch das österreichische Unternehmen Andritz, das Turbinen liefern wird, ist weiter am Projekt beteiligt.

Welche Folgen würde der Damm für die Bewohner der Region haben?

99 Dörfer und die Stadt Hasankeyf würden untergehen. Nach den offiziellen Zahlen müssen 55000 Menschen umgesiedelt werden. Wir gehen aber einschließlich der Nomaden von 100000 Menschen aus, die ihre Häuser und ihr Land verlassen müßten.

Was würde aus ihnen werde? Könnten sie woanders wieder Landwirtschaft betreiben?

Nein. Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, als in die Städte zu gehen. Dort gibt es keine oder nur extrem schlecht bezahlte Arbeit für sie, denn sie haben meist keinerlei Ausbildung. Auch das Geld, das sie als Entschädigung bekommen, würde bald verbraucht sein, und dann enden sie in bitterer Armut.

Sie arbeiten mit den betroffenen Menschen in den Dörfern. Ist es möglich, die Bevölkerung zu organisieren?

Wir besuchen die Dörfer, um zu informieren. Viele wissen inzwischen Bescheid und sind gegen den Damm. Aber die Arbeit ist schwierig. Die Region gehört zu Kurdistan. Überall sind die Dörfer von Militärposten umgeben, und die Bewohner stehen unter erheblichem Druck durch die Soldaten. Versammlungen sind ganz schwierig zu organisieren, die Menschen können sich nicht frei bewegen. Faktisch ist es verboten, in die Dörfer zu gehen. Nicht durchs Gesetz, aber die Soldaten können einen jederzeit mitnehmen und einsperren. Mir ist das auch schon passiert. Ich wurde für 24 Stunden festgenommen, nur weil ich mit den Menschen in einem Dorf über den Damm sprechen wollte.

Gibt es Solidarität in den kurdischen Städten?

Ja. In den Städten arbeitet ein Bündnis aus 70 Organisationen und Gruppen. Auch von den lokalen Behörden gibt es Unterstützung. Aber es ist wichtig, die Bevölkerung auf dem Land zu mobilisieren, was wegen des Drucks sehr schwierig ist. Zum Beispiel kann den Dorfbewohnern jederzeit die Krankenversicherung annulliert werden, wenn sie sich offen gegen den Damm aussprechen. Da die Menschen in den Dörfern kein oder nur sehr wenig Einkommen haben, bekommen sie vom Staat eine kostenlose Versicherungskarte, mit der sie zum Arzt gehen und kostenlos oder zu sehr niedrigen Preisen Medizin bekommen können. Diese Karten werden in den Städten von den zivilen Behörden ausgestellt, aber auf dem Land in Kurdistan ist dafür das Militär zuständig.

Gibt es auch in der Stadt Repressionen?

Ja. Einige unserer Aktiven sitzen zur Zeit zum Beispiel im Gefängnis, weil sie über den Staudammbau aufgeklärt und zu Protesten aufgerufen haben. Auch der Bürgermeister von Batman, der nächstgelegenen Provinzhauptstadt. Einer der Vorwürfe, die man ihm macht, ist die Unterstützung für unser Bündnis. Zur Zeit gibt es in Kurdistan sehr viele Verhaftungen aus politischen Gründen. Rund 1500 Politiker der pro-kurdischen BDP sitzen in den Gefängnissen, weil man ihnen Verbindungen zur PKK vorwirft.

Interview: Wolfgang Pomrehn, Istanbul

* Aus: junge Welt, 12. Juli 2010


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