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"Wir werden nicht aufgeben"

In der Türkei begann ein Terrorprozess gegen 22 Menschenrechtsanwälte

Von Thomas Eipeldauer, Istanbul *

In Silivri nahe Istanbul findet seit Dienstag ein weiterer Massenprozess gegen fortschrittliche Anwälte statt, denen langjährige Haftstrafen drohen.

»Wir haben ein sehr langes Gedächtnis. Wenn wir hier sind, weil ihr uns zwingen wollt, unseren Kampf aufzugeben, dann könnt ihr das Verfahren gleich einstellen. Denn das wird nicht geschehen.« Selçuk Kozağaçlı ist angriffslustig. Er macht nicht den Eindruck, als sei er hier, im Gerichtssaal des Gefangenenlagers Silivri, in der Defensive. Kozağaçlı ist der Präsident der Fortschrittlichen Anwaltsvereinigung (CHD), des größten linken Zusammenschlusses von Juristen in der Türkei. Die CHD vertritt Folteropfer, politische Aktivisten, Familien von Ermordeten, Arbeiter, die um ihre Rechte kämpfen. Zusammen mit 21 seiner Kollegen muss sich Kozağaçlı seit Dienstag wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der als »terroristisch« eingestuften Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C) verantworten.

Sie sollen, so will es die Anklageschrift, im Auftrag der Organisation Gelder beschafft, Informationen und Befehle weitergegeben, Propaganda gemacht und an Aktionen teilgenommen haben. Zwar hat die Beweisaufnahme noch nicht stattgefunden, doch spricht im Moment alles dafür, dass die Belege, die für diese Anschuldigungen in einem 622 Seiten umfassenden Konvolut vorgelegt werden, eher dürftig sind: »Anonyme Zeugen«, deren Identität so strengen Schutzes bedarf, dass nicht einmal die Verteidigung sie zu Gesicht bekommt, Akten aus früheren Prozessen, die schon damals zu keiner Verurteilung führten, und Dokumente aus einem belgischen Verfahren, bei denen noch unklar ist, wie sie in die Türkei gelangten. Dazu kommt Material, das bei den – laut Verteidigung illegalen – Durchsuchungen der Büros und Wohnungen der Anwälte sichergestellt wurde.

All das belegt allerdings kaum mehr, als dass es sich bei den Advokaten um politische Anwälte handelt, eine Tatsache, die sie nie bestritten haben. Dass sie sich als Revolutionäre verstehen und dass sie diesen Staat samt seinem Justizsystem ablehnen, daraus machen sie keinerlei Hehl. »Wer sich das Rechtsverständnis des Staates zu eigen macht, hat sowieso schon verloren«, sagt Talay Tanay, einer der Angeklagten. Insbesondere die Antiterrorgesetze seien aber ohnehin keine rechtliche Angelegenheit, sondern eine politische.

Jeder, der auch nur anders denke, als die jeweils dominierende Fraktion der herrschenden Klasse es wolle, könne sich rasch in einem solchen Verfahren wiederfinden. »Was ist Terror und was nicht – selbst diese Diskussion zu führen, ist ein Delikt nach den Antiterrorgesetzen«, so Tanay. Geht es nach Polizei und Justiz in der Türkei, ist tatsächlich ein nicht unbedeutender Prozentsatz der türkischen Zivilgesellschaft »terroristisch«. Zehntausende Ermittlungsverfahren wurden in den vergangenen Jahren gegen Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten, Professoren, Studenten, Künstler, Jugendliche, Arbeiter und Journalisten eingeleitet. Etwa 9000 Menschen sind wegen politischer Delikte in Haft, viele davon für Jahre oder Jahrzehnte.

In dieser Situation sehen sich die Anwälte als Teil eines breiteren Kampfes. In einer fünfstündigen Verteidigungsrede erklärt Selçuk Kozağaçlı die politischen Motive der CHD-Anwälte. Er verteidigt nicht nur sich, sondern seine früheren Mandanten gleich mit. Denn: In einem autoritären kapitalistischen Staat wie dem der Türkei müsse man sich zumindest die Frage stellen, ob es nicht ein Recht auf – auch militanten – Widerstand gebe. Der Rechtsstaat – unabhängig davon, dass sich seine lautesten Fürsprecher selbst nicht an seine Regeln halten – sei ohnehin nur Fassade, mit der die Bourgeoisie ihr Partikularinteresse als ein universell gültiges Gesetz darstellen wolle. Eine unabhängige Justiz gebe es hier sowieso nicht, das Recht sei Herrschaftsmittel des Staates, betont Kozağaçlı.

Er lässt in seiner Rede 2000 Jahre europäischer und arabischer Geistesgeschichte Revue passieren, Sophokles' Antigone tritt auf, Marx, der Koran, Carl Schmitt, Eugen Paschukanis. Es ist eine Vorlesung, an deren Ende die einfache Einsicht steht: Dieser Staat ist ein Klassenstaat und die Anwälte, über die hier gerichtet werden soll, wissen ganz genau, auf welcher Seite der Barrikade sie stehen. Insofern erwarten sie keinen Freispruch oder Gnade.

»Warum sprechen wir hier so viel, wo unser Glaube so gering ist, dass von diesem Gericht irgendeine Gerechtigkeit zu erwarten sei? Wir müssen, denn wir wollen erklären, was wir machen, wie wir den Anwaltsberuf verstehen«, sagt Selçuk Kozağaçlı. Nicht wegen der konstruierten Mitgliedschaft in der DHKP-C, sondern weil sie revolutionäre Anwälte sind, könne man sie verurteilen. »Wenn der Feind uns angreift, ist das gut und nicht schlecht, denn es zeigt uns, dass wir unseren Job richtig gemacht haben«, meint der CHD-Präsident frei nach Mao und schließt mit: »Vielen Dank für Ihren Angriff.«

* Aus: neues deutschland, Freitag, 27. Dezember 2013


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