Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Wegen legaler politischer Tätigkeit angeklagt"

In einem Massenprozeß stehen 151 Kurden in der türkischen Stadt Diyarbakir vor Gericht. Ein Gespräch mit Britta Eder *


Britta Eder ist Rechtsanwältin aus Hamburg. Als Vertreterin des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins nahm sie Ende Oktober an der Reise einer Menschenrechtsdelegation in die kurdischen Landesteile der Türkei teil.

Sie sind soeben von der Beobachtung eines Massenprozesses gegen 151 kurdische Politiker und Aktivisten zurückgekehrt, der seit dem 18. Oktober vor dem 6. Schwurgericht in Diyarbakir läuft. Worum geht es bei diesem Verfahren?

Die Angeklagten – darunter sind auch zwölf Bürgermeister – waren zuvor bis zu 17 Monate lang in Untersuchungshaft. Ihnen wird in der Anklageschrift, die sage und schreibe 7578 Seiten umfaßt, keine direkte Beteiligung an Straftaten vorgeworfen. Angeklagt sind sie meist nur aufgrund ihrer legalen politischen Tätigkeit wie dem Aufbau basisdemokratischer Strukturen in den Kommunen, wegen Redebeiträgen vor internationalen Gremien sowie wegen des Empfangs ausländischer Delegationen. Die Staatsanwaltschaft sieht darin die Mitgliedschaft oder Unterstützung der »Gemeinschaften der Gesellschaft Kurdistans« (KCK). Dafür drohen Freiheitsstrafen zwischen 15 Jahren und lebenslänglich.

Was ist nach Ihrer Einschätzung das Ziel dieses Verfahrens?

Der Prozeß, dessen Auftakt wir erlebten, ist eine Machtdemonstration des Staates, der jede kommunalpolitische Arbeit in den kurdischen Landesteilen sowie internationale Kontakte durch Kriminalisierung zerstören will. Die türkische Justiz hat die Vertreter der internationalen Öffentlichkeit brüskiert – mehr als 200 Abgeordnete, Anwälte und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen waren angereist –, indem im Gericht nur 70 Plätze für Zuschauer vorgesehen waren. Das konnte aber nicht verhindern, daß vor dem Gerichtsgebäude täglich Tausende ihre Solidarität zeigten.

Sie waren auch in der Provinz Hakkari. Wie ist die Situation dort, an der Grenze zum Iran bzw. Irak?

Ministerpräsident Bülent Erdogan bezeichnet Hakkari als feindliches Gebiet, das »befreit« werden müsse. In großen Teil dieser Region waren zuvor mehr als 90 Prozent der Wahlberechtigten dem Boykottaufruf der Kurdenpartei BDP zum Verfassungsreferendum der Regierung am 12. September gefolgt. Seitdem verschärft sich das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung. Es ist geprägt von psychologischer Kriegsführung sowie der physischen Vernichtung durch Militäroperationen, extralegale Hinrichtungen und Bombenanschläge. 87 Familien haben allein die Stadt Colemerg (Hakkari) wegen der anhaltenden Übergriffe in den letzten zwei Monaten verlassen. Das alles ist ein systematischer Angriff auf die Zivilbevölkerung.

Können Sie Beispiele nennen?

Beispielsweise umstellten Mitte September Spezialeinheiten die Wohnung des BDP-Bürgermeisters der Stadt Semdinli und eröffnete das Feuer – zugleich verhafteten Soldaten einen Verwandten des Bürgermeisters und folterten ihn. Auch während wir uns in Semdinli aufhielten, beschoß das Militär das nahegelegene Dorf Besosin (Ortaklar) aus »Skorpion-Panzern«. Dabei wurde ein 16jähriger schwer verletzt.

Am 16. September wurden bei einem Anschlag auf einen Minibus beim Dorf Gecili in Hakkari neun Dorfbewohner getötet. Der Staat beschuldigte die PKK, die sich aber von diesem Anschlag distanzierte. Was konnten Sie in Erfahrung bringen?

Der Tatort befindet sich auf einer Ebene, die in sämtlichen Richtungen von Stützpunkten der Sicherheitskräfte einzusehen ist. Die Explosion erfolgte durch eine aus deutscher Produktion stammende ferngezündete Panzermine. Am Tatort zurückgelassene Rucksäcke von Armee-Spezialeinheiten enthielten weitere Sprengsätze, Kabel und Anleitungen. Nach der Detonation wurde ein Funkspruch abgehört, aus dem sich ergab, daß die Täter ihre am Tatort zurückgelassene Ausrüstung abholen sollten. Dorfbewohner hatten die Rucksäcke jedoch bereits an sich genommen und nach der Dokumentation durch Menschenrechtler der Staatsanwaltschaft übergeben. Der Hintergrund für diesen Anschlag ist wohl, daß die Bewohner des Ortes Gecili lange als »Dorfschützer« im Regierungsauftrag gegen die kurdische PKK gekämpft hatten, doch sich dann der BDP anschlossen und die Waffen niederlegten.

Interview: Nick Brauns

* Aus: junge Welt, 2. November 2010

PKK: Waffenruhe bis zu den Wahlen

Ankara. Die Arbeiterpartei Kurdistans PKK will ihren Mitte August ausgerufenen und am 31. Oktober ausgelaufenen einseitigen Waffenstillstand bis zu den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2011 verlängern. Das teilte die Organisation am Montag mit. Gleichzeitig wies die PKK jegliche Verantwortung für einen Bombenanschlag auf Polizisten auf dem Istanbuler Taksim-Platz zurück, bei dem am Sonntag 32 Menschen verletzt wurden und der mutmaßliche Attentäter getötet worden war. Seit Mitte August seien bei rund 80 Militäroperationen gegen die PKK-Guerilla 29 Kämpfer getötet worden, teilte die PKK in einer Bilanz des bisherigen Waffenstillstands mit. Zudem seien 125mal Ziele im Nordirak beschossen und fast 900 kurdische Aktivisten in der Türkei festgenommen worden.
Nick Brauns




Zurück zur Türkei-Seite

Zur Menschenrechts-Seite

Zurück zur Homepage