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"Es gibt Gründe, weshalb ich mich der PKK anschloß"

Dokumentiert: Der Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung ist legitim und steht im Einklang mit dem Völkerrecht – Erklärung zum 129b-Prozeß in Hamburg

Von Ali Ihsan Kitay *

Am Montag, den 13. August, hat vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg das Verfahren gegen den kurdischen Politiker und Aktivisten Ali Ihsan Kitay begonnen. Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 47jährigen Kurden vor, daß er als Kader der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den Jahren 2007 und 2008 die Region Hamburg geleitet haben soll. Straftaten in Deutschland werden ihm nicht vorgeworfen. Die Verteidigung Kitays stellte den Antrag, das Verfahren auszusetzen. Das OLG Hamburg solle eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einholen, ob Paragraph 129 b gegen das Grundgesetz verstößt. Durch Paragraph 129 b werde die Gewaltenteilung aufgehoben, weil das Bundesjustizministerium politisch motiviert entscheiden kann, wer nach diesem Pragraphen verfolgt wird.

Die Bundesanwaltschaft versucht, in der Anklage und im Verfahren die schweren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in der Türkei sowie die Frage der völkerrechtlichen Legitimität des Widerstands der kurdischen Bevölkerung und der PKK zu ignorieren. In diesem Zusammenhang blendet sie auch aus, daß die PKK eine Massenbasis in der kurdischen Bevölkerung hat und Regionen des Landes militärisch kontrolliert. Zudem setzt die BAW, jenseits der Realität, die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK), die im Westen der Türkei Anschläge begehen und die Politik der PKK als zu friedensorientiert kritisieren, mit der kurdischen Arbeiterpartei gleich. Dadurch soll der lang anhaltende militärische Konflikt auf ein »Terrorismusproblem« reduziert werden.

Ali Ihsan Kitay gab am ersten Verhandlungstag eine Prozeßerklärung ab, die wir hier in Auszügen und in einer zum besseren Verständnis redaktionell korrigierten Übersetzung dokumentieren:



Ihsan Kitay

Die größte Strafe, die man einem Menschen antun kann, ist, daß man ihn aus der Gesellschaft hinauswirft, die Bindungen zur Gesellschaft unterbricht, ihn zwingt, ohne Gesellschaft, ohne Beziehungen zu leben. Denn der Daseinsgrund des Menschen hängt mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. (…) Die fundamentalen Fähigkeiten des Menschen, der sich von anderen Lebewesen unterscheidet, sind seine bewußten Gedanken und seine sozialen Beziehungen. (…)

Das kurdische Volk war stets mit einer Politik der Unterdrückung und Gewalt konfrontiert. Seit knapp 100 Jahren wird ihm das Recht auf Selbstbestimmung auf brutalste Art und Weise verweigert. (…) Seit Jahren verfolgt der türkische Staat eine Politik der Spannung, Gewalt und Auseinandersetzung und macht somit die Lösung der »kurdischen Frage« unmöglich. Ohne die Ursache des Konfliktes zu verstehen und zu berücksichtigen, vertieft man lediglich die Schwierigkeiten. (…) Zwischen 1925 und 1938 wurden in den kurdischen Teilen der Türkei Zehntausende Menschen ermordet und Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieben; Seyh Sait, Seyit Riza und Tausende weitere Menschen wurden getötet und rechtswidrig hingerichtet, das kurdische Territorium wurde entvölkert. Das heißt, der Hauptgrund des hier zu verhandelnden Konfliktes, liegt in der vom türkischen Staat verursachten Verleugnungs- und Assimilationspolitik.

Staatsterror gegen Kurden

Nach der Niederschlagung der letzten kurdischen Aufstände tauchten die Regierungen der Türkei Kurdistan im wahrsten Sinne des Wortes in ein Todesschweigen. (…) Im Jahr 1968 entwickelte sich auch in der Türkei die Jugend- und Studentenbewegung. In der Folgezeit wurden Parteien und Organisationen, u. a. weil sie in ihren Programmen und Satzungen die Kurden erwähnten, verboten. (…) Die revolutionäre Linke wurde in jener Zeit fast vollständig vernichtet. Einige wurden im Gefecht getötet, andere hingerichtet, Tausende gefoltert und in Gefängnisse gesteckt. Das heißt, die legalen und demokratischen Kanäle der Gesellschaft waren vollständig verschlossen. Wenn nicht eine derart grausame und menschenverachtende Politik angewendet worden wäre – wenn nicht die kulturelle und physische Vernichtung des kurdischen Volkes angestrebt worden wäre –, dann hätte auch die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, nicht entstehen können, und die Menschen hätten sich auch nicht für einen bewaffneten Widerstand entschieden. In der von der Staatsanwaltschaft verfaßten Anklageschrift wird die Unterdrückungs-, Verleugnungsund Vernichtungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden ignoriert. Die Bundesanwaltschaft (BAW) hat sich nicht einmal die Mühe gemacht einen einzigen Satz dazu zu formulieren.

17000 Morde »unbekannter Täter« wurden von staatlichen Todesschwadronen begangen, 4000 Dörfer verbrannt, Tausende Familien aus ihrer Heimat vertrieben, unzählige Leben ausgelöscht. Nichts davon ist in der Anklage berücksichtigt. Warum soll ein Mensch plötzlich ein Leben bevorzugen, das mit soviel Leid und Folter verbunden ist, ein Leben also, das schlimmer ist als der Tod? Man hat uns bereuen lassen, daß wir überhaupt geboren wurden. Kann man ein faires Verfahren führen, ohne diese Tatsachen zu berücksichtigen? Die Freiheitsbewegung des Terrorismus zu beschuldigen, sie von der Kurdenfrage losgelöst zu bewerten, ist meiner Ansicht nach falsch. (…) Das Lösungsmodell, das die kurdische Bewegung seit Ende der 1990er Jahre entwickelt hat, ist der »demokratische Föderalismus« bzw. die »demokratische Autonomie«. Diese beruht auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ein Recht, das bereits in der Charta der Vereinten Nationen verankert ist und in vielen Erklärungen der UN bestätigt wurde. (…) Kernelement des Modells soll eine neue türkische Verfassung sein, die den Kurden und anderen ethnischen Minderheiten gleiche Grundund Lebensrechte, den gleichen politischen Status und die gleichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten einräumt. Die bestehenden Staatsgrenzen werden anerkannt, so daß im Rahmen des »demokratischen Föderalismus« auch unabhängig von der Zentralmacht Beziehungen und Kooperationen zwischen den Kurden in der Türkei, in Syrien, im Irak und Iran entwickelt werden können. Ich bin davon überzeugt, daß der gegenwärtige Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung legitim ist und in Einklang mit allen völkerrechtlichen Regulierungen steht. (…)

Gang in die Berge

Es gibt Gründe, weshalb auch ich mich im Alter von 16, 17 Jahren der PKK anschloß. Ich hätte wie jeder Mensch ein normales Leben bevorzugt, wenn es keine Unterdrückung, Folter und Verleugnung gegeben hätte, wenn die Menschenrechte und Freiheiten respektiert worden wären. Ich bin kein Mensch, der lebensmüde ist. (…) In Gesellschaften, in denen Unterdrückung und Gewalt herrschen, wird sich immer sowohl eine Suche nach Perspektiven entwickeln als auch eine ernsthafte Reaktion auf die Unterdrückung. Noch in jungen Jahren habe ich Unterdrückung und Folter erleben müssen und wurde inhaftiert. (…)

Ich überlegte mir, mit wem ich die Entscheidung, die ich getroffen hatte, besprechen sollte. Letztlich habe ich sie mit meiner Mutter, die ich sehr liebe und respektiere, diskutiert. Sie hat sich nicht dagegen gestellt, auch wenn sie letztlich nicht dafür war. (…) Was für ein großes Erdbeben sie in ihren Gefühlen erlebte, konnte ich nur vermuten. (…) Ich kann mich noch daran erinnern, welchen Satz ich formulierte, als ich mich von ihr trennte: »Es ist mir bewußt, daß ich dir großes Leid antue, aber ich möchte, daß du mir verzeihst.« (…) Meine Mutter hat immer mit dem Schmerz, der Sehnsucht nach ihrem Kind weitergelebt. Sie hat sich immer aufrecht gehalten; sie hat sich vor niemandem gebeugt. Sie war eine sehr stolze Frau. Aus diesem Grund habe ich eine große Verbundenheit zu ihr. Als sie starb, konnte ich nicht einmal zu ihrer Beerdigung gehen.

In Gesellschaften wie der unseren, die aus politischen und strategischen Gründen rückständig gelassen wurden, hat sich eine Logik durchgesetzt, in der die Frau nicht akzeptiert, sondern nahezu als eine Sache, als ein Objekt betrachtet wird. Es ist eine männerdominierte Gesellschaft, in der Unterdrückung und Diskriminierung weit verbreitet sind. Aus diesem Grund ist die Darstellung der Frau stets negativ. (…) Bereits in meinem Kindesalter stellte ich mich gegen Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung. (…)

Die Kitays sind eine große und einflußreiche Familie in Bingöl. Eine Familie, die mit der Realität des kurdischen Volkes verbunden ist. Aufgrund dieser Haltung stand sie stets im Mittelpunkt der Gewalt und Unterdrückungspolitik des Staates. (…) Einige Familienmitglieder wurden getötet, einige tagelang gefoltert, andere wurden inhaftiert. (…) Das hat die Familie an die Schwelle der Vernichtung gebracht. Infolgedessen hat die Mehrheit meiner Familie Bingöl verlassen müssen. Einige mußten in die Großstädte, einige gingen nach Europa. Wenn gegenüber jemandem solch grausame Methoden angewandt werden, wird einem keine andere Wahl gelassen, als in die Berge zu gehen. (…) Deshalb schloß ich mich der PKK an. Ich verbrachte mehrere Jahre in den Bergen. (…)

Haft und Folter

1991 wurde ich verhaftet. Man hat in meiner Haftzeit Foltermethoden angewandt, deren Beschreibung fast unmöglich ist. Mit verbundenen Augen hat man mich verhört. Während der gesamten Zeit der Verhöre hat man mich mit niemandem sprechen lassen. Meine Mutter und weitere Angehörige der Familie stellten mehrmals Besuchsanträge, die sämtlich abgelehnt wurden. (…) Die Zeit verging nicht, als ob sie stehengeblieben wäre. Dir ist nicht bekannt, ob es Nacht oder Tag ist. Du hast keine Ahnung, was um dich herum passiert. Du kannst nicht abschätzen, wann und wo dir etwas zustoßen wird. Jeden Augenblick verbringst du wartend. Du kannst an nichts anderes denken. Dein psychischer Zustand entwickelt sich vollständig nach diesem Muster. Du weißt nicht, wann du zum Verhör geholt wirst. Du weißt nicht, was dir dort zustoßen wird. Diese Art von Denkstruktur umklammert dich. Man hat mich in einer Zelle festgehalten wie in einem sehr kleinen Sarg. Das Guckloch der Tür wurde oft geöffnet und wieder geschlossen. Ich hörte Gespräche, Stimmen und Stöhnen. Die durch Folter erzeugten Schreie und Stimmen hallten in der Zelle als Echo wider.

Mit verbundenen Augen hat man mich nackt durch enge Gänge gehen lassen, mich die Treppen hinauf- und hinuntersteigen lassen. Man hat mich beschimpft und gesagt: Beuge deinen Kopf, geh langsam, dreh dich nach rechts, dreh dich nach links, Vorsicht, du fällst usw. Wiederum während des Gehens hat man mit Fäusten, Fußtritten und unterschiedlichen Gegenständen auf bestimmte Stellen meines Körpers geschlagen. (…) Außerdem hat man bei mir schwerste Folter angewandt: den »Palästinenser-Haken«. Man hat mich an einen Haken gehängt und kaltes Wasser mit hohem Druck auf mich gespritzt; Elektroschocks, Quetschen der Hoden, bestimmte Stellen des Körpers wurden mit Zigaretten verbrannt, so daß die Spuren der Verbrennung noch heute zu sehen sind. Oft wurde ich nackt rausgebracht, in der Kälte nackt warten gelassen, mit dem Tode bedroht, auf den Boden gelegt und daneben eine Waffe abgefeuert. Wiederum gab es Bedrohungen wie: »Wenn du nicht redest, werden wir die gleichen Methoden in Anwesenheit deiner Familie anwenden.«

Wenn man mich zur Folter mitgenommen hatte, dauerte diese, bis ich ohnmächtig wurde. (…) Diese Folter wurde bis zum letzten Tag meiner Haft angewandt. Nachdem ich trotz schwerster Tortur keine Aussage machte, holten sie mich in einer Nacht aus meiner Zelle und brachten mich an einen Ort außerhalb der Stadt. Sie ließen mich auf den Boden legen und feuerten neben meinem Kopf eine Waffe ab. Dann ließen sie mich los und sagten, ich solle weglaufen. Das haben sie gemacht, weil sie mich töten wollten. Ich habe aber weder die Kraft gehabt noch den Versuch unternommen, wegzulaufen.

Ich habe vielfach die Einsamkeit und das kalte Gesicht des Todes erlebt. Im Grunde genommen ist der Tod in diesen Momenten eine Befreiung für dich. Das alles muß nur ein Traum sein, dachte ich manchmal. Mit der Folter hat man das Ziel verfolgt, meine Hoffnung und Überzeugung vollständig zu zerstören. Natürlich, physisch kannst du es nur bis zu einem gewissen Punkt aushalten. Man kann eine solche Folter aber nicht einen Tag durchstehen, wenn man keine Überzeugung und keinen politischen Willen hat. (…)

Was Folter genau im Unterbewußtsein der betroffenen Menschen auslöst und was sie insgesamt verursacht, ist schwer auszudrücken. Das Unterbewußtsein ist wie ein lebendiges Archiv von Erlebnissen. (…) In so einem psychischen Zustand wurde ich halbtot ins Gefängnis zurückgebracht. Nach Untersuchung des Gefängnisarztes wurde mir bescheinigt, daß ich schwer gefoltert wurde. Ich konnte mich lange Zeit von der Wirkung dessen, was ich gesehen und erlebt hatte, nicht befreien. (…) Ich möchte betonen, daß es mir sehr schwer fällt, diese Sätze zu schreiben. Denn man macht das Geschehene noch einmal durch. Die Erlebnisse werden vor meinen Augen wie ein Film wieder gegenwärtig. Die Wirkungen der psychischen und physischen Zerstörung, die während des Verhörs entstanden, konnte ich lange Zeit nicht überwinden.

Aufgrund der Beschwerden habe ich manchmal mit meiner Persönlichkeit und Gesundheit ernsthafte Schwierigkeiten. Man kann sich kaum vorstellen, wie das ist, wenn man zu den in meiner Gefühlsund Seelenwelt entstandenen Zerstörungen noch die darauffolgenden Haftbedingungen betrachtet. Man hat dort weder die Möglichkeit noch die nötigen Rahmenbedingungen, um die Traumata der Folter aufzuarbeiten und zu überwinden. Das Leben im Gefängnis hat seinen eigenen Charakter. Es ist ein Ort, an dem alles beschränkt ist. Es ist so, als ob dein Leben in eine Streichholzschachtel hineingezwängt ist. Es ist ein Ort, in dem die Unterdrückungs- und Foltermethoden weit entwickelt sind und täglich ernsthafte Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Man kann sich nicht vorstellen, daß man in einer solchen seelischen Verfassung noch mehrere Jahre die Haft ertragen kann. (…) Ich machte mir Gedanken über Möglichkeiten zur Flucht. Ich war vollständig damit beschäftigt und konnte an nichts anderes denken. Letztlich haben wir mit einer Gruppe von Freunden angefangen, einen Tunnel zu graben. Nach einjähriger Arbeit sind wir am 16. Februar 1993 mit 18 Freunden aus dem Gefängnis Nevsehir geflüchtet. Einige wurden nach der Flucht festgenommen, einige wurden getötet. Ich wurde in einer Phase erneut festgenommen, in der die Morde »unbekannter Täter« sowie Folter zunahmen, Dörfer verbrannt wurden und regelmäßig extralegale Hinrichtungen auf der Straße stattfanden. Dieses Mal glaubte ich nicht mehr daran, daß ich lebend aus dem Verhör herauskommen würde. Man hatte bezüglich meiner Verhaftung keine amtliche Erklärung abgegeben und nicht offiziell anerkannt, daß ich verhaftet worden war. Beim Verhör hat man mir gesagt: »Du existierst offiziell nicht, du wurdest nicht verhaftet, dieses Mal kommst du hier nicht lebend raus, wir werden bei dir alle nur möglichen Methoden anwenden.« Die Folter nach der Verhaftung 1991 wurde nun noch systematischer und regelmäßiger »weitergeführt«. Erst nach zehn Tagen hat man offiziell bekanntgegeben, daß ich verhaftet worden war. Ich werde hier nicht weiter auf die Einzelheiten der Verhöre eingehen. (…)

Nach der Entlassung

Ja, ich wurde nach vielen Jahren entlassen. Jahre meines Lebens habe ich im Gefängnis verbracht und war mit Unterdrückung und Folter konfrontiert. Ich habe mein Schicksal tausendmal dafür verflucht, daß mich der türkische Staat lebend verhaften ließ. Ich hätte niemals daran geglaubt, daß ich nach so vielen Schwierigkeiten lebend davonkomme. Meine Jugend habe ich verloren. Einige sehr gute Freunde habe ich verloren. Einige habe ich im Gefängnis zurückgelassen.

Dann also kam ich raus. Ich weiß nicht, wie man dieses Gefühl und den seelischen Zustand beschreiben soll. Ich habe weder die Kraft zu erzählen, noch lassen meine Gefühle es zu. Manchmal suchte ich den Tod. Man hat mich bereuen lassen, geboren worden zu sein. Hoffnung, Überzeugung und Wille haben mich aber immer am Leben gehalten. (…) Draußen konnte ich mich irgendwie nicht anpassen. Ich hatte insbesondere ernsthafte Schwierigkeiten, soziale Beziehungen aufzubauen. Man entwickelt sich unsozial, wenn man über eine längere Zeit ohne soziale Beziehungen und Bindungen leben mußte. Man erlebt eine unbeschreibliche Einsamkeit. (…)

Ich blieb drei Monate in Bingöl. Innerhalb dieses kurzen Zeitraumes wurde ich dreimal in Gewahrsam genommen – einmal zusammen mit meinem Cousin Yavuz Kitay, der Provinzvorsitzender der Demokratischen Volkspartei DEHAP in Bingöl war. Aufgrund der Festnahmen und ständiger Drohungen mußte ich Bingöl schließlich verlassen. Daraufhin habe ich mich im »Verein der Angehörigen politischer Gefangener« in Istanbul engagiert. Bei jeder Routinekontrolle hat man mich festgehalten und belästigt und oft in Gewahrsam genommen. (…) Letztlich war ich gezwungen, nach Deutschland zu kommen.

Am 12. Oktober 2011 wurde ich in Hamburg verhaftet. Während der Festnahme wurde ich nicht schlecht behandelt. Da wir nicht gewöhnt sind, in dieser Art und Weise verhaftet zu werden, kam es mir etwas seltsam vor. Seitdem befinde ich mich in Untersuchungshaft. (…) Acht Monate wurde ich völlig isoliert. Meine Zelle unterschied sich von anderen Zellen. Das Fenster wurde mit einem kleinen gelöcherten Blech abgedeckt. Dadurch kannst du nicht gut sehen. Deswegen habe ich jetzt Sehstörungen. (…) Nach sieben Monaten durfte ich einmal die Woche zwei Stunden einen Deutschkurs besuchen. An anderen sozialen Aktivitäten konnte ich nicht teilnehmen. (…) 23 Stunden des Tages verbringe ich in der Zelle. Nur eine Stunde am Tag werde ich zum Hofgang gebracht und darf nur eine Stunde im Monat unter Polizeiaufsicht Besuch bekommen.

Logik der Gewalt

Als Fazit möchte ich folgendes betonen: Durch die vom türkischen Staat angewandte Gewalt kann die »kurdische Frage« niemals gelöst werden. Es ist im Endeffekt eine große Katastrophe für beide Völker. (…) Die Logik der Gewalt ist ihr eigenes Problem geworden. Durch den vom türkischen Staat in Kurdistan geführten schmutzigen Krieg wurden Tausende Familien geschädigt. In den letzten zwei Jahren eskalierte die Regierung den Konflikt aufs äußerste. (…) Tausende kurdische Politiker sowie mehr als hundert Journalisten und Anwälte wurden inhaftiert. Mit chemischen Waffen wurden fast zweihundert Guerillakämpfer getötet. In Roboski wurden 34 Zivilisten durch ein Bombardement ermordet. Die schweren Isolationshaftbedingungen gegenüber Abdullah Öcalan dauern seit fast einem Jahr an. Damit nicht noch mehr Leid und Schmerz erlebt wird, sollten die internationalen Institutionen und Persönlichkeiten nicht länger schweigen. Sie sollten sich so schnell wie möglich dafür einsetzen, daß dieser sinnlose Krieg aufhört und sich eine Phase des Friedens entwickelt.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 13. September 2012


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