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Militärische Lösung

Türkei: Neue Strategie der kurdischen Guerilla setzt auf dauerhafte Gebietskontrolle

Von Nick Brauns *

Kurdische Guerillakämpfer haben in der Nacht zum Montag mehrere türkische Militärstützpunkte und das Amt des Regionalgouverneurs bei der Kleinstadt Beytüssebap in der Provinz Sirnak angegriffen. Dabei wurden mindestens zehn Soldaten getötet. In Beytüssebap selber kam es am Montag zu Auseinandersetzungen, als Soldaten von Bewohnern die Herausgabe von drei im Kampfgebiet geborgenen Leichen gefallener Guerillakämpfer erzwangen.

In einer ersten Erklärung gab die Guerilla an, nun die Kontrolle über die Region Beytüssebap auszuüben. Im gebirgigen Grenzgebiet zu Irak und Iran ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit Juli dazu übergegangen, anstatt der üblichen Hit-and-run-Attacken eine dauerhafte Kontrolle über Teile der Region zu errichten. Der Vorsitzende der im Parlament vertretenen prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) Selahattin Demirtas hatte vergangene Woche bestätigt, daß ein Streifen von 300 bis 400 Kilometer auf türkischem Staatsgebiet zwischen den Städten Semdinli und Cukurca von der Guerilla kontrolliert werde. Aufgrund der Guerillaaktivitäten können die hier stationierten Soldaten ihre Kasernen nicht mehr verlassen und müssen aus der Luft versorgt werden. Zahlreiche Militärkontrollpunkte an den Straßen wurden von der Armee aufgegeben, während Guerillakämpfer ihrerseits Straßenkontrollen durchführen, Kollaborateure gefangennehmen und die Bevölkerung über ihre Ziele aufklären. So wurde nach Medienberichten am Montag in der Provinz Hakkari auch der Provinzvorsitzende der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, Mecit Tarhan, verschleppt.

»Wir befinden uns in einer Lösungsphase«, erklärte PKK-Führungsmitglied Duran Kalkan im kurdischen Satellitensender Nuce-TV den Strategiewechsel der Guerilla. Angestrebt wird dabei nicht mehr eine politische, sondern eine militärische Lösung. Unter dem Schutz der Guerilla sollten nun kommunale Selbstverwaltungsstrukturen in jedem Dorf und jeder Stadt in den kurdischen Landesteilen entstehen. »Vom Revolutionären Volkskrieg, vom Guerillawiderstand zum Volksaufstand und vom Volksaufstand zum Aufbau der demokratischen Selbstverwaltung, das ist unser Weg«, so Kalkan.

Während anläßlich des Antikriegstags in Istanbul und mehreren kurdischen Städten am Wochenende Zehntausende Menschen für »eine demokratische Lösung und Verhandlungen« auf die Straße gingen, erteilte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in einer Fernsehansprache solchen Hoffnungen eine Absage. Da sich die BDP zum Werkzeug der PKK gemacht habe, käme sie nicht mehr als Dialogpartner in Frage, erklärte Erdogan unter Verweis auf ein Treffen von Abgeordneten der prokurdische Partei mit PKK-Kämpfern vor zwei Wochen in Semdinli.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 4. September 2012


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