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Auf dem Weg zur "Kongress-Partei"

Historischer Schritt für eine vereinigte Linke in der Türkei

Von Murat Çakır *

Am 15. Und 16. Oktober 2011 fand in Ankara eine außergewöhnliche Versammlung statt, die sogar in den regierungsnahen Medien, die ansonsten linke Themen eher außer Acht lassen, breit Erwähnung fand. Das Linksbündnis, welches bei den letzten Parlamentswahlen vor ein paar Monaten mit 36 Abgeordneten einen großen Erfolg erzielt hat, hatte eingeladen. Über 800 Delegierte aus 20 Regionen folgten dieser Einladung. Im Saal wurden sie mit der Losung »Wir vereinigen uns« in 13 Sprachen, die in der Türkei gesprochen werden, begrüßt.

Neben den Delegierten waren zahlreiche VertreterInnen von linken Parteien und Gewerkschaften u. a. Selma Gürkan, Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP), Ridvan Turan, Vorsitzender der Partei der sozialistischen Demokratie (SDP), Lami Özgen, Vorsitzender der Gewerkschaftskonföderation KESK sowie Öztürk Türkdogan, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD anwesend.

Einzigartig für die Verhältnisse in der Türkei war, dass eine hundertprozentige Geschlechterparität erreicht wurde: die Hälfte der Delegierten waren Frauen. Der sozialistische Parlamentsabgeordneter Ertugrul Kürkcü unterstrich das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit mit folgenden Worten: »Kein gesellschaftlicher Kampf kann zum Erfolg führen, wenn sie nicht von Frauen mitgetragen wird. Die Befreiung der Frau erklären wir zur violetten Fahne unserer Sache. Wir eignen uns den Kampf der Frauen gegen dieses patriarchalische System. Die Frauen werden die führende Klasse unserer Bewegung sein«.

Delegierte arabischer, aramäischer, armenischer, georgischer, griechischer, kurdischer, lasischer, türkischer und tscherkessischer Herkunft begrüßten die Anwesenden jeweils in ihren eigenen Muttersprachen. Unter den Delegierten waren auch VertreterInnen der Roma, Aleviten, Nusayris und Yeziden. Im Saal fanden die Plakate mit den Losungen wie »Wir vereinigen uns für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage«, »Wir vereinigen uns gegen Homophobie und Transphobie«, »Wir vereinigen uns gegen die Angriffe und Besatzungen des Imperialismus«, »wir vereinigen uns für Freiheit und Gleichberechtigung der Völker und Religionsgemeinschaften«, »wir vereinigen uns gegen Männerdominanz, Geschlechterdiskriminierung und Ungleichheiten« sowie »Wir vereinigen uns, um die Demokratie zu gewinnen« große Beachtung.

Freiwillige Partnerschaft

Der Kongress wurde mit den Reden der InitiatorInnen eröffnet. Auffallend war, dass alle Redebeiträge, insbesondere von linkssozialistischen InitiatorInnen und Delegierten auf die Notwendigkeit einer vereinigten linken politischen Formation, die sowohl die kurdische Bewegung und politische Linke, aber auch die unterschiedlichen ethnischen wie religiösen Minderheiten und Einzelpersonen unter einem Dach bringen solle, hinwiesen. Die Kritik an der klassischen Unterscheidung zwischen dem »Haupt- und Nebenwidersprüchen«, welches in Zusammenhang mit der Frauen- und Kurdenfrage gerne von türkischen Linken formuliert wird, war deutlich. So wiesen türkische Sozialisten wie Kürkcü, Levent Tüzel oder Sirri Süreyya Önder daraufhin, dass es ein Fehler sei, »die Rechte der ArbeiterInnen und die Forderungen der unterdrückten Völker gegeneinander zu stellen« und dass es die Aufgabe der SozialistInnen sei, »die soziale Frage in Verbindung mit Fragen der Geschlechter- und Ethniengerechtigkeit zu stellen«.

Interessant war auch die Begrüßung von linken Parteien und Gruppen wie ÖDP, TKP oder Volkshäuser, die sich nicht dieser Bewegung beteiligen. Entgegen früheren sektiererischen Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen linken Strömungen der Türkei, war im Saal eine solidarische Atmosphäre bestimmend. Die InitiatorInnen betonten: »Auch wenn ihr nicht dabei seid, so sehen wir in euch unsere natürlichen Bündnispartner. In unserem Kampf werden sich unsere Wege öfters kreuzen«. Ob jedoch die ÖDP, TKP oder der Verband der Volkshäuser sich an dem Linksbündnis beteiligen werden, steht noch offen.

Basisdemokratie und Rätestrukturen als Organisationsform Die Erfahrungen der kurdischen Bewegung bestimmten auch die Satzungsfragen. Es wurde eine Satzung einstimmig beschlossen, welche die Bewegung als »Demokratischer Kongress der Völker« bezeichnet. Die von der kurdischen Bewegung geforderte Prinzip der »demokratischen Selbstverwaltung« sowie die Geschlechterparität, die Vertretung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen, Basisdemokratie und Rätestrukturen als Organisationsform des Kongress wurden in die Satzung aufgenommen.

Die 825 Delegierten wählten einen 101-köpfigen landesweiten Rat und einen geschäftsführenden Rat mit 25 Mitgliedern. Neben der Geschlechterparität wurde eine Jugendquote von 10 Prozent eingeführt. Sämtliche Beschlüsse müssen mit einer Zweidrittelmehrheit gefasst werden. Zusätzlich zu den politischen Parteien und Einzelpersonen, die den Kongress initiiert haben, sollen Parlamentsabgeordnete des Linksbündnisses, unabhängige Parlamentsabgeordnete (denen aufgrund Gerichtsbeschlusse die Mitgliedschaft in politischen Parteien verboten wurde) und BürgermeisterInnen der BDP natürliche Delegierte sein. Ein Ethikrat wurde eingerichtet, um innerorganisatorische Konflikte zu befrieden. Die Delegierten sind jährlich, und zwar im September, neu zu wählen. Eine vorübergehende Bestimmung der Satzung sieht es vor, dass die Höchstzahl der Delegierten aus den Regionen 692 betragen soll. Während 40 Prozent der Delegiertenmandate für organisationsunabhängige Einzelpersonen vorgesehen ist, machen Delegierte aus den verschiedenen Parteien 60 Prozent aus.

Der Kongress beauftragte den landesweiten Rat mit den Vorbereitungen zur Gründung einer politischen Partei zu beginnen. Beschlüsse des »Demokratischen Kongress der Völker« sollen für diese zugründende Partei bindend sein. Ein Beschluss zur Vergangenheitsbewältigung sieht die Einrichtung einer »ständigen Konferenz der Völkerrealität« vor, mit der die anatolisch-mesopotamischen Völkermorde des vergangenen Jahrhunderts thematisiert werden sollen.

18.10.2011

* Murat Çakır, Kassel; Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen.


Dokumentiert:

Abschlusserklärung **

Demokratischer Kongress der Völker: Die Opposition der Türkei vereint sich unter einem Dach

Um die Unterdrückung und die Ungerechtigkeiten gegenüberüber unserer Völker anzugehen, um eine Türkei zu erschaffen, in der Frieden herrscht und wir menschlich miteinander leben können, sind dem Aufruf der Kongressinitiative Organisationen, Initiativen, Vereine, Parteien, Bewegungen und Einzelpersonen, die gegen jegliche Form von Unterdrückung stehen, zusammengekommen. Wir denken, dass die Zeit reif dafür ist, um gemeinsam Widerstand zu leisten. In dem Bewusstsein, dass unsere Unterschiede unser Reichtum und unsere Kraft ist, verkünden wir die Gründung des Demokratischen Kongresses der Völker

Wir rufen alle, die auf der Seite des Volkes, der Unterdrückten, der Arbeitenden, der Natur, der Freiheit, der Gleichberechtigung, des Friedens und der Demokratie sind dazu auf, sich im gemeinsamen Kampf mit uns gegen den neoliberalen und antidemokratischen Kurs der zwei politischen Hauptströmungen in der Türkei und für eine alternative Gesellschaftsordnung zu organisieren.

Wir stehen gegen die Zerstörung des gesellschaftlichen Lebens, gegen die Vereinsamung der Menschen, gegen die Entfremdung des Menschen gegenüber seiner Arbeit, der Gesellschaft, seiner eigenen Identität und der Natur. Die Kämpfe gegen die globale Herrschaft des Kapitalismus und seiner Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen überall auf der Welt, auf der Wall Street, in Santiago, in Chile, in Kairo, in Tunesien, in Caracas, in Gaza müssen zueinander blicken und sich gegenseitig stärken. Auch hierzulande tätigen wir einen wichtigen Schritt, um den Geist des gemeinsamen Kampfes und der gegenseitigen Solidarität im Kampf gegen das System zu nähren.

Wir halten unseren Kongress in einem Zeitraum ab, in der die AKP-Regierung und der Staat durch Festnahmen den politischen Bereich permanent angreifen. Wir fordern die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen aus den Gefängnissen. Der Demokratische Kongress der Völker ist die oppositionelle Bewegung der Türkei. Sie ist das Widerstandszentrum gegen die AKP, welche die Interessen der türkischen Rechten und der herrschenden Klassen vertritt und den Vorposten des globalen Kapitalismus in dieser Region spielt.

Alle Widerstandsherde der demokratischen und oppositionellen Kräfte sind die Widerstandsherde des Demokratischen Kongresses der Völker. Der Kongress erschafft somit für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten; alle Arbeitenden, MigrantenInnen, Frauen, DörflerInnen, Jugendlichen, RentnerInnen, körperlich und geistig Beinträchtigen, LGBT (lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen) Menschen, alle Völker und religiöse Gruppen die verleugnet und unterdrückt werden, sowie alle NaturaktivistInnen und FrauenrechtlerInnen das gemeinsame Fundament für den Widerstand.

Der Demokratische Kongress der Völker fordert die Aufhebung des auf einer Ethnie beruhenden Bürgerbegriffs in der Verfassung, welcher die Ursache für den Krieg ist. Stattdessen muss eine neue Verfassung erschaffen werden, die alle Identitäten gleichbehandelt und die Existenz der unterschiedlichen Identitäten schützt. Hierfür muss eine Bildungs- und Kulturpolitik gemeinsam mit der Bevölkerung umgesetzt werden, die allen voran das Recht auf muttersprachlichen Unterricht garantiert. Wir werden Widerstand gegen die Mechanismen, die zur Ausbeutung der Frau, ihrer Arbeit, ihres Körpers und ihrer Identität führen, sowie gegen die Privilegien der Herrschenden und des männlichen Geschlechtes führen.

Der Demokratische Kongress der Völker betrachtet das Verständnis der Demokratischen Autonomie für die Beendigung des Krieges, welcher aus der ungelösten kurdischen Frage herrührt, als wichtige Initiative. Wir werden uns darum bemühen, dass eine politische Ordnung erschaffen wird, in der die Macht der Zentralregierung über die kommunale Selbstverwaltungsebene aufgehoben wird. Alleine so kann ein freies und freiwilliges Zusammenleben der Völker erschaffen werden, in der das Volk im lokalen durch breite Partizipation Entscheidungen selbst fällen und umsetzen kann und alle unterschiedlichen Gruppen sich frei artikulieren können.

Der Demokratische Kongress der Völker wird Widerstand gegen den Imperialismus, ihrer Herrschafts- und Unterdrückungspolitik, ihre militärischen Stützpunkte, ihre ökonomischen und politischen Abkommen leisten.

Der Demokratische Kongress der Völker setzt sich diese grundsätzlichen Ziele des Widerstands und der Organisierung. Wir profitieren von den Erfahrungen der Freiheitskämpfe aus der Vergangenheit und haben eine Zukunft vor uns, in der neue Formen des Widerstandes darauf warten von uns entdeckt zu werden. Wir schreiten gestützt auf die Frauen, die Jugend und die Arbeitenden voller Mut und Glauben in Richtung einer neuen freien Welt. Wir sind am Anfang eines neuen Abschnittes. Wir zweifeln nicht daran, dass sich die Wege aller für Freiheit und Gleichheit Kämpfenden mit unserem Weg kreuzen werden.

Quelle: Newsletter der Informationsstelle Kurdistan e.V. (ISKU), Hamburg; http://isku.org; Übersetzung aus dem Türkischen: Özgür Gündem, ISKU, 17.10.2011


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