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Punktsieg Erdogans über Generalität

Konflikt in der Türkei dauert weiter an

Von Jan Keetman, Istanbul *

An der Echtheit eines Umsturzplans des türkischen Militärs gibt es inzwischen kaum noch Zweifel. Regierungschef Erdogan will seinen Generalstabschef trotzdem nicht entlassen – offenbar aus taktischen Gründen.

Zwölf Jahre nachdem die Generäle das letzte Mal einen türkischen Premierminister aus dem Amt gejagt haben, nämlich den Islamistenführer Necmettin Erbakan, steckt das türkische Militär in seiner schwersten Krise. Vor einigen Monaten wurde ein Plan des Militärs der Presse zugespielt, in dem eine Strategie zur Demontage der gegenwärtigen gemäßigt-islamischen Regierung entwickelt wird. Allerdings gab es Zweifel an der Echtheit des Dokuments – und natürlich dementierte Generalstabschef Ilker Basbug die Urheberschaft des Militärs. Doch vor kurzem schickte der anonyme Offizier, der den Plan enthüllt haben will, das Original des Dokuments an die Medien. Er fügte zudem einen äußerst detaillierten Bericht bei, was bei der Generalität am Morgen der Veröffentlichung des Plans geschehen war. Da ist beispielsweise zu lesen, welche Offiziere die Festplatten welcher Computer gereinigt hatten, um eventuell vorhandene Spuren der Autoren zu beseitigen. Diese und andere Aktionen seien auf auf persönlichen Befehl von Generalstabschef Basbug geschehen.

Trotz der inzwischen immer umfangreicheren Indizien für die Echtheit des Dokuments mauert das Militär jedoch weiter. Kaum noch jemand glaubt, dass es sich bei dem Plan nur um eine Fälschung handelt. Letztlich hat sich dadurch auch das Kräfteverhältnis in Ankara weiter zu Gunsten der Regierung von Recep Tayyip Erdogan verschoben und natürlich wackelt der Stuhl von Ilker Basbug. Doch damit ist der Ball in Erdogans Feld. Einen Generalstabschef, der so bloßgestellt ist, sollte er eigentlich entlassen. Das ist zwar möglich, aber nicht ganz einfach. Denn praktisch gibt es keine Möglichkeit, Basbug vorzeitig zu pensionieren. Erdogan könnte ihn aber versetzen. Auch das ist nicht unkompliziert, da der Generalstabschef gegen die Entscheidung vor Gericht ziehen könnte. Doch zunächst wäre er einfach weg.

Immerhin kann sich Erdogan jetzt als derjenige feiern lassen, dessen Regierung endlich den einst allmächtigen Generälen gezeigt hat, »was eine Harke ist«. Dabei spart er nicht mit Kritik, was seine weniger erfolgreichen Vorgänger betrifft. Auf einer Versammlung seiner Partei in Istanbul rief Erdogan seinen Anhängern zu, er werde nicht einfach gehen und alles aufgeben, sondern das Notwendige tun. Dann fügte er auf einen bekannten Amtsvorgänger gemünzt hinzu: »Wir haben diejenigen gesehen, die einfach ihren Filzhut genommen haben und gegangen sind.« Zu Erdogans Pech ist der für seinen Filzhut bekannte Vorgänger zwar greis geworden, aber noch immer am Leben und schlagfertig. Es handelt sich um den gerade 85 Jahre alt gewordenen Süleyman Demirel.

Zweimal, 1971 und 1980, musste er Putschisten weichen. Demirel meldete sich am Tag nach Erdogans Auftritt zu Wort und gab Geschichtsunterricht. Er habe 1971 zwar zurücktreten müssen, doch dies sei einzig und allein ein taktischer Schritt gewesen. Tatsächlich war es Demirel mit Hilfe des Parlamentes gelungen, zu verhindern, dass ein General zum Präsidenten gewählt wurde. Dann fügte er noch hinzu, dass er schon vor vierzig Jahren einen Generalstabschef entlassen habe. Regierungschef Erdogan hat dagegen bislang keine Anstalten gemacht, dem Beispiel seines Vorgängers zu folgen und Basbug zu feuern. Vielleicht nicht ganz ohne Grund: Ein geschwächter Generalstabschef mag für Erdogan am Ende gar keine schlechte Lösung im Dauerzwist mit dem Militär zu sein.

* Aus Neues Deutschland, 12. November 2009


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