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Ankara spricht wieder mit Öcalan

Aussichten auf Lösung des Kurdenproblems dennoch düster

Von Jan Keetman *

Der türkische Geheimdienst steht nach Angaben der Regierung in Verhandlungen mit dem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan.

Vor gut einem Jahr endeten Gespräche der türkischen Regierung mit der PKK in einem Fiasko. Nun nimmt man neuen Anlauf. Yalcin Akdogan, enger Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, bestätigte am Montag Berichte, wonach es wieder Gespräche mit Abdullah Öcalan gebe. Öcalan, der eine lebenslange Haftstrafe auf Imrali absitzt, ist noch immer die Schlüsselfigur im türkisch-kurdischen Konflikt.

Bisher tat die Regierung so, als habe sie die PKK gerade erst vernichtend geschlagen: Angeblich wurden 2012 über 1400 PKK-Kämpfer getötet oder zur Kapitulation bewegt. Doch Gewalt, räumte Akdogan ein, sei kein ausreichendes Mittel, die PKK in die Knie zu zwingen. Die momentane relative Ruhe im Kampfgebiet dürfte weitgehend den winterlichen Bedingungen in der Region geschuldet sein. Wie Oral Calislar in der Tageszeitung »Radikal« schrieb, ruht das Problem derzeit lediglich »unterm Schnee«.

Seit das Militär seine Angriffe gegen die PKK Mitte 2011 ausgeweitet hat, worauf die Guerilla mit ihrer eigenen Kampagne antwortete, sind 870 Menschen umgekommen. So blutig war der Konflikt in der Türkei zuletzt vor 20 Jahren. Als Illusion erwies sich aber auch die Vorstellung der PKK, sie könne in den mehrheitlich kurdisch bevölkerten Gebieten einen Aufstand anfachen, der an den »Arabischen Frühling« erinnert.

Die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) beklagt, dass die Regierung die Kurdenfrage auf eine Entwaffnung der PKK verkürzen wolle. Welche Lösung sich die kurdische Seite vorstellt, hatte Iraks Staatspräsident Dschalal Talabani vor einem Jahr in einem Interview angedeutet. Talabani, selbst Kurde, berief sich auf Gespräche mit PKK-Vertretern. Demnach fordern die Rebellen eine Generalamnestie und die Anerkennung der kurdischen Identität in der türkischen Verfassung.

Eine Generalamnestie würde Abdullah Öcalan einschließen, was bei derzeitiger Gesetzeslage allerdings unmöglich und in der Türkei politisch kaum durchzusetzen ist. Ministerpräsident Erdogan hat dieser Forderung daher eine klare Absage erteilt. Allerdings hatte er auch Verhandlungen mit der PKK schon für ausgeschlossen erklärt. Rote Linien kommen in einer aufgewühlten Öffentlichkeit gut an, sind aber hinderlich, wenn man Probleme wirklich lösen will. Das weiß auch Erdogan. Doch diesmal fällt ihm Flexibilität in der Kurdenfrage besonders schwer. 2014 will er sich nämlich zum Staatspräsidenten wählen lassen. Zuvor soll dieses Amt durch eine Verfassungsänderung nach seinen Bedürfnissen umgestaltet werden. Voraussetzung wäre ein Referendum - und das macht Erdogan noch stärker vom Wohlwollen rechter und nationalistischer Wähler abhängig. Eine Generalamnestie und eine Öffnung in der Kurdenfrage sind daher in den nächsten zwei Jahren sehr unwahrscheinlich.

Geht es also bei den Gesprächen mit Öcalan vor allem darum, dem PKK-Führer Hoffnungen zu machen, damit seine Anhänger bis zur Präsidentenwahl ihren Gewaltpegel senken? Eben dieses taktische Kalkül haben die Rebellen Erdogan schon in Bezug auf die vergangene Parlamentswahl vorgeworfen. Es dürfte schwierig sein, sie ohne tatsächliche Zugeständnisse noch einmal zum Stillhalten zu bewegen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 02. Januar 2013


Spiel auf Zeit

Gespräche über Entwaffnung der PKK

Von Nick Brauns **


Zwischen dem inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, und türkischen Regierungsvertretern wird über ein Ende des bewaffneten Kampfes und die Entwaffnung der Guerilla verhandelt. Daß die islamisch-konservative AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nun wieder das Gespräch mit Öcalan sucht, ist als Eingeständnis dafür zu werten, die Guerilla entgegen aller Ankündigungen von ihrer baldigen Vernichtung auch nach fast 25 Jahren des bewaffneten Aufstandes militärisch nicht besiegen zu können. So waren bei der stärksten Guerillaoffensive seit den 90er Jahren im vergangenen Jahr über 1000 Soldaten und Polizisten getötet und große Gebiete im Bergland unter Guerillakontrolle genommen worden.

Doch derzeit ist noch völlig offen, inwieweit die Regierung substantielle Zugeständnisse wie eine weitgehende Autonomie für die kurdischen Landesteile und die Einführung kurdischsprachigen Schulunterrichts machen will. Offenbar setzt die AKP darauf, Öcalans Autorität gegen die PKK-Führung im nordirakischen Kandil-Gebirge auszuspielen, um so die Guerilla unter Zugzwang zu setzen. Dies wird deutlich in der Aussage des Erdogan-Beraters und AKP-Abgeordneten Yalcin Akdogan am Montag im Sender NTV: »Abdullah Öcalan ist weiterhin der wichtigste Akteur für eine Lösung. Wir wissen, daß die Organisation ihn frustriert, seinen Namen benutzt und immer wieder davon profitiert.«

Seinen Einfluß hatte Öcalan im November unter Beweis gestellt, als auf sein Wort hin Tausende PKK-Gefangene einen seit 67 Tagen andauernden Hungerstreik in türkischen Gefängnissen beendeten. Die zentrale Forderung der Hungerstreikenden war die Aufhebung der Isolationshaft Öcalans, der seit Juli 2011 keinen Besuch seiner Rechtsanwälte mehr empfangen darf. Doch den Anwälten wird weiterhin die Überfahrt zur Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer verweigert. Wenn es die Regierung ernst mit Friedensverhandlungen meinen sollte und nicht lediglich die PKK in einem neuen Spiel auf Zeit ruhigzuhalten versucht, müßte sie zuerst einmal eine Verbesserung von Öcalans Haftsituation einschließlich direkter Kontakte zur PKK-Führung ermöglichen.

Die kurdische Seite hat ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts seit langem deutlich gemacht. Doch die seit den 1920er Jahren bestehende kurdische Frage ist kein Mißverständnis, das in Geheimverhandlungen beseitigt werden kann. Ein Friedensprozeß erfordert vielmehr sichtbare Zeichen dafür, daß der Staat zur Anerkennung der kurdischen Realität bereit ist. Doch auch zu Jahresbeginn setzte die Armee ihre Angriffe auf Guerillakämpfer fort, während bei Razzien Studenten unter demVorwurf der PKK-Mitgliedschaft festgenommen und kurdischsprachige Bücher beschlagnahmt wurden. Solange diese Repression andauert, wäre eine Entwaffnung der Guerilla glatter Selbstmord nicht nur der PKK sondern aller Kurden in der Türkei.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 03. Januar 2013


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