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Die Türkei als "gute Fee" der Kurden?

Ankara schmiedet Bündnis mit nordirakischen Kurden gegen PKK

Die türkische Kurdenpolitik ist an Zynismus und Menschenverachtung kaum noch zu überbieten. Anfang Januar überschritten wieder größere Truppenverbände aus der Türkei die Grenze zum Irak, um dort angebliche kurdische PKK-Stellungen und -Nachschublager zu bekämpfen. Pardon wird dabei erfahrungsgemäß nicht gegeben. Das türkische Militär handelt sozusagen in einem staats- und rechtsfreien Raum, nachdem der Norden Iraks vor einem knappen Jahrzehnt zu einer "Schutzzone" erklärt worden war. "Schutzzone" deshalb, um die dort lebenden Kurden vor den Übergriffen und Repressalien des Saddam-Regimes in Bagdad zu schützen. Seit Jahr und Tag nun dringen immer wieder türkische Einheiten in dieses Gebiet ein um Kurden zu jagen: Kurden, die aus der Türkei in das Nachbarland geflohen sind und dort von anderen Kurdengruppen auch nicht gerade gut gelitten sind. Die Angriffe der Türkei erfolgen, obwohl die PKK nicht erst seit der Entführung und Aburteilung Öcalans dem türkischen Staat einen Waffenstillstand und später sogar einen völligen Verzicht auf den bewaffneten Kampf angeboten hatten.

Überraschend kam am 10. Januar 2001 der Führer einer der zwei rivalisierenden nordirakischen Kurdengruppen zu Besuch nach Ankara. Die Gespräche zwischen Ecevit und Talabani verheißen nichts Gutes. Die Kurden in und aus der Türkei werden das Nachsehen haben und eine neuerliche Spirale der Gewalt ist leider nicht auszuschließen. Vielleich war das rücksichtslose Durchgreifen türkischer Polizei und türkischen Militärs gegen politische Häftlinge vor der Jahreswende schon der Vorbote einer geplanten Offensive gegen die Kurden.

Was es mit dem Gespräch Ecevit-Talabani auf sich hat, welche - auch militärisch relevanten - Absprachen oder Intrigen dabei gesponnen wurden, darüber gibt ein Hintergrundbericht Auskunft, der am 11. Januar in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.


Ankara als gute Fee nordirakischer Kurden

Besuch des Kurdenführers Talabani in Ankara

Der nordirakische Kurdenführer Jalal Talabani hat am Mittwoch mit dem türkischen Regierungschef Ecevit Gespräche geführt und diese danachals besonders herzlich bezeichnet. Während seines zweitägigen Besuchs in Ankara ist Talabaniausser von Ecevit auch von hochrangigen Vertretern des Aussenministeriums, der Armeeführung sowie der Nachrichtendienste empfangen worden. Bei diesen Treffen seien Fragen zur politischen und wirtschaftlichen Situation sowie die Sicherheitslage im Nordirak erörtert worden, sagte Talabani sichtbar zufrieden. Zugleich zeigte er sich auch etwas überrascht über die Tatsache, dass die Führung in Ankara ihn nicht wie gewohnt kritisierte, sondern seiner Meinung diesmal ganz vorsichtig zugehört habe.

Wende der türkischen Nordirak-Politik

In Ankara war der eloquente Kurdenführer, der seine Allianzen im Nu wechseln kann, bisher immer auf Misstrauen gestossen. Es wurde ihm vorgeworfen, ein kurdischer Nationalist zu sein und zudem die in der Türkei rebellierende Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen. Nach 1992 zog es Ankara deshalb vor, im Nordirak lediglich mit dem konservativen Kurdenführer Massoud Barzani zu verhandeln und seine Demokratische Partei Kurdistans (KDP) zu unterstützen. Barzani versprach als Gegenleistung, in dem von ihm kontrollierten Gebiet des Nordiraks die PKK zu bekämpfen. Die Rivalen Barzani und Talabani teilen sich seit dem letzten Golfkrieg die Macht im Nordirak.

Im Laufe der letzten acht Jahre hat die Türkei die Rivalitäten der beiden Kurdenführer mehrmals gegeneinander ausgenutzt, auch um den kurdischen Nordirak zu destabilisieren. Lange bestand die Angst, dass eine erfolgreiche kurdische Autonomie den Kurden in der Türkei als Beispiel dienen könnte. Der jüngste Empfang von Talabani markiert nun aber in der Meinung aller Beobachter eine Wende dieser Politik. Die Türkei habe realisiert, dass in einem instabilen Nordirak vor allem die PKK gedeihe, meinte ein Kommentator. Ziel der neuen Strategie ist offenbar, beideKurdenführer im Kampf gegen die PKK einzuspannen und den politischen, wirtschaftlichenund militärischen Einfluss der Türkei im gesamten kurdischen Nordirak auszudehnen. Er habedie türkische Regierung vor allem um wirtschaftliche und politische Unterstützung gebeten, sagteTalabani; die Türkei und die nordirakischen Kurden hätten gemeinsame Interessen.

Talabani und die türkische Regierung teilen den gemeinsamen Wunsch, die PKK-Guerilla aus dem Nordirak zu vertreiben. Die PKK-Kämpfer hatten sich auf Befehl ihres inhaftierten Führers Abdullah Öcalan 1999 aus der Türkei, aus Syrien und Iran zurückgezogen und im Nordirak niedergelassen. Die türkische Armeeführung schätzt ihre Zahl auf rund 5000, während Talabani von 8000 spricht. Um die gut trainierten Kämpfer aus dem gebirgigen Grenzgebiet zu vertreiben, sind die nordirakischen Kurdenführer und die Türkei aufeinander angewiesen. Vorbereitungen für eine Sandwich-Operation seien im Gange, schrieb am Mittwoch die türkische Tageszeitung «Milliyet», während die armeenahe «Hürriyet» bereits am Wochenende über eine grosse Säuberungsaktion gegen die PKK berichtet hatte.

Verunsicherte PKK

Am Wochenende kursierte die Meldung, wonach 10 000 türkische Soldaten erneut in den Nordirak einmarschiert und bis in die kurdische Metropole Suleimaniye, rund 150 Kilometer südlich der türkisch-irakischen Grenze, vorgestossen seien. Der türkische Generalstab dementierte die Berichte. Auch Talabani bezeichnete sie als Lügen und Propaganda. Der türkische Regierungschef Ecevit hat allerdings den Einmarsch der türkischen Truppen bestätigt. Die türkischen Truppen seien im Gebiet, um die Kämpfer Talabanis zu unterstützen. Die Türkei liefere ihnen technische Unterstützung, sagte Ecevit. Laut Berichten von Augenzeugen haben türkische Truppen den irakisch-türkischen Grenzübergang Habur passiert. In Rania, das westlich von Erbil liegt und der Kontrolle Talabanis untersteht, sollen türkische Helikopter stationiert worden sein. Der jüngste Schulterschluss zwischen Ankara und Talabani hat die PKK verunsichert. Im Nordirak würden Vorbereitungen für einen Krieg getroffen, sagte Nizamettin Tas, ein Mitglied des neunköpfigen PKK-Präsidiums, welches nach der Festnahme Öcalans die Führung der Partei repräsentiert. Noch gebe es im Nordirak keine Gefechte, sagte Tas dem kurdischen Fernsehsender Medya TV. Er kündete an, dass ein neuer Krieg überregionale Auswirkungen haben werde. Denn diesmal sei die PKK-Guerilla zur Selbstopferung bereit.

Diese martialischen Worte zeigen, wie aussichtslos die PKK-Guerilla selbst ihre Lage einschätzt. Öcalan liess nach seiner Festnahme vieleKurden in der irrigen Annahme, dass er aus seiner Zelle heraus mit der türkischen Führung eine Generalamnestie für die Guerilla sowie eine Legalisierung der kurdischen Bewegung aushandeln könne. Keines der beiden Versprechen ist eingelöst worden. Nun soll die Guerilla aus dem Nordirak vertrieben werden, aber wohin? In Kreisen der PKK-Guerilla macht sich die Überzeugung breit, wonach Ankara den Kurden der Türkei keine kulturellen Rechte einräumen will, sondern lediglich die Sprache der Waffen kennt. Bereits macht der Ausdruck Serhildan die Runde.Gemeint damit ist eine dem Beispiel der Palästinenser folgende kurdische Intifada.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 11. Januar 2001



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