Trauer, Hoffnung und Stolz der Kurden
Newroz-Feiern im Südosten der Türkei: Vielstimmige Forderung nach Beendigung der Repressionen
Von Martin Dolzer *
Die ersten Frühlingstage in den kurdischen Provinzen der Türkei. Noch
bedeckt Schnee die bergige Landschaft. Es ist die Zeit, da überall in
dieser Region das Frühjahrsfest Newroz gefeiert wird.
Wir fahren in einem Kleinbus nach Bugulukaynak (kurdisch Kel). 130
Kilometer nördlich der zweitgrößten kurdischen Stadt Van liegt das Dorf
nahe der türkisch-iranischen Grenze. Mazlum, einer unserer Begleiter,
erzählt vom legendären Ursprung des Newroz. Der Schmied Kawa soll im
Jahre 612 v. u. Z. das Volk mit einem einzigen Schwerthieb von der
Tyrannei des Despoten Dehok befreit haben. Seither wird Newroz in
Kurdistan als Fest der Befreiung und des Friedens gefeiert.
Die Landschaft um Bugulukaynak strahlt eine fast unwirkliche Ruhe Pferde
und Schafe weiden friedlich auf Grasflecken, von denen die Sonne den
Schnee geleckt hat. Dorfbewohner erzählen jedoch ganz und gar
Unfriedliches: In einer nahen Schlucht war es, wo türkische
Sondereinheiten am 7. Oktober 2009 drei Jugendliche hinrichteten.
Paramilitärische Jan-darmas hatten sie während einer Razzia festgenommen
und dem Militär übergeben. Zwei der Hingerichteten waren
PKK-Guerilleros, der dritte, der 17-jährige Ibrahim Atabay, ein
Gymnasiast aus dem Dorf.
Laut Augenzeugen waren die Jungen unbewaffnet. Die Militärs
zertrümmerten ihnen die Schädel, die Leichen wurden von Kugeln
durchsiebt. Einer der Soldaten, der das grausige Geschehen beobachtet
hatte, berichtete anonym darüber: Die beiden Guerilleros hätten ihre
Mörder vergebens gebeten, Ibrahim zu verschonen, der unschuldig sei.
Zur gleichen Zeit misshandelten Sicherheitskräfte auch Ibrahims Brüder
in einem Haus der Familie. Einer befindet sich seither in Haft, ohne
dass Anklage gegen ihn erhoben wurde. Vater Gafur Atabay, ein besonnener
Endvierziger, war seit Jahren in der Partei für eine Demokratische
Gesellschaft (DTP) aktiv und trat nach deren Verbot in die Partei für
Frieden und Demokratie (BDP) über. Er erzählt, dass sich die Familie
wegen der Errichtung eines Gedenksteins für ihren Sohn vor Gericht
verantworten muss. Das Verfahren gegen seine Mörder wurde indessen
eingestellt. Mehrmals wurden die Atabays und ihr Anwalt nach Ibrahims
Tod von Sicherheitskräften bedroht. Eine der Schwestern hat ein
trauriges, aber kraftvolles Gedicht geschrieben, in dem sie ihre Trauer
beschreibt, den ungebrochenen Willen der Kurden und ihre Hoffnung auf
Frieden.
Später erfahren wir, dass der Staat die Morde seiner Soldaten in der
Region mit allen Mitteln zu vertuschen sucht. Die Straflosigkeit von
Tätern mit Polizeibefugnissen wird auch von der
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einer Studie beklagt.
Unweit der Grenzstadt Caldiran liegt der Berg Ararat. Die PKK hat in
diesem Gebiet starken Rückhalt. Bei Militäroperationen gegen die
Guerilla werden bisweilen ganze Dörfer niedergerissen und die Bewohner
werden kollektiv mit Lebensmittelembargos belegt.
Kein Wunder, dass bei den Newroz-Feiern in Caldiran, Hakkari und
Semdinli, die wir besuchen, immer wieder - von Rednern, auf
Spruchbändern und in Chören - die Beendigung der Militäroperationen
gefordert wurde. Das Motto »Entweder demokratischer Frieden oder
aufrechter Widerstand« führte in diesem Jahr türkeiweit mehr
Newroz-Teilnehmer zusammen als je zuvor in der Vergangenheit. Kritisiert
wurde die Welle der Repressionen gegen kurdische Aktivisten in der
Türkei - seit April 2009 wurden mehr als 1500 Menschen inhaftiert - und
gegen kurdische Politiker in Europa. Gefordert wurde, dass auch Abdullah
Öcalan und die PKK Dialogpartner in einem Friedensprozess sein müssten.
Zynisch nennt Beriwan, eine junge Frau, die wir auf einem der Feste
kennenlernen, die »Demokratische Initiative« der Regierungspartei AKP,
die den Kurden nur geringfügige Zugeständnisse macht.
In Hakkari und Cukurca, einer Stadt nahe der türkisch-irakischen Grenze,
sprechen wir mit BDP-Bürgermeistern, Anwälten und Menschenrechtlern.
Auch hier herrscht praktisch Krieg. Befürchtet wird eine
Frühjahrsoffensive der türkischen Armee. Mehr als 30 000 Soldaten wurden
bereits in die Region verlegt. Unsere Gesprächspartner rechnen jederzeit
mit Verhaftungen. Einige werden noch während unseres Aufenthalts zu
Verhören vorgeladen.
Die in einer frühlingsblühenden Berglandschaft gelegene Kleinstadt
Cukurca hat armenische und jesidische Ursprünge. Ihre Umgebung würde
eine sehr fruchtbare Landwirtschaft ermöglichen, wenn das Militär nicht
Weideverbote verhängt und eine Ausfahrtsstraße durch Beschuss völlig
entvölkert hätte. Fast jeden Tag feuern Artilleriegeschütze aus den
umliegenden Kasernen meist ziellos in Richtung Irak. In der Provinz
Hakkari wurden allein während unserer Reise sechs Menschen Opfer von
Minen. Rund 1,6 Millionen Minen, viele aus deutscher Produktion, sollen
in der Region verlegt worden sein. Ärzte berichten, die Zahl der
Krebserkrankungen habe sich aufgrund der chemischen Entlaubung der
Wälder auf den wasserspendenden Hochebenen verdoppelt.
Wir fahren zurück nach Van am gleichnamigen See, der sieben Mal so groß
wie der Bodensee ist. Zwischen 850 und 600 v.u.Z. lag hier das Zentrum
des blühenden Reiches Urartu. Vom Kale, der Burg von Van, sieht man
hinunter auf die Reste von Tuspa, der Hauptstadt Urartus. Ruinen sind
davon geblieben.
* Aus: Neues Deutschland, 14. April 2010
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