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Erdogan droht mit Nachwahlen

Streit um die Vereidigung der Abgeordneten

Von Jan Keetman, Istanbul *

Da die Opposition im türkischen Parlament die Vereidigung der Abgeordneten boykottiert, droht Ministerpräsident Erdogan mit Nachwahlen. Diese könnten ihm eine Zweidrittelmehrheit bescheren.

Wer nach den Wahlen am 12. Juni eine Beruhigung der türkischen Politik erwartet hatte – und das waren fast alle Beobachter –, hat sich getäuscht. Die Krise um die Vereidigung der Abgeordneten wird jeden Tag schlimmer. Ministerpräsident Tayyip Erdogan, von dem man nach der Wahl eine auf Ausgleich bedachte Rede erwartet hatte, greift die Opposition scharf an und droht mit Nachwahlen, die ihm eine Zweidrittelmehrheit verschaffen könnten.

Die Fronten: Die Abgeordneten der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), verweigern die Leistung des Eides als Abgeordnete, weil zwei ihrer gewählten Abgeordneten nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Die prokurdische BDP boykottiert das Parlament ganz, weil sich fünf ihrer Abgeordneten weiterhin in Haft befinden. Außerdem wurde einem BDP-Abgeordneten nach der Wahl das passive Wahlrecht aberkannt. Mit der regierenden islamisch-konservativen AK-Partei zusammen im Parlament sitzt nur noch die ultranationalistische MHP. Diese nimmt hin, dass auch einer ihrer Abgeordneten weiter in Untersuchungshaft sitzt.

Der Widerstand der Opposition hat Schwachpunkte. Dazu gehört, dass nicht die Regierung, sondern Staatsanwälte und letztlich Richter für die Freilassung verantwortlich wären. Andererseits ist keiner der betroffenen Abgeordneten verurteilt, ihr passives Wahlrecht besteht, und mit etwas gutem Willen gäbe es legale Wege, ihre Entlassung zu befördern. Doch Erdogan will nicht. Zuerst erklärte er, ohne die CHP wäre die Arbeit im türkischen Parlament »wie Honig«. Dann griff er die Boykotteure in einem Ton an, der ihnen ein Einlenken praktisch unmöglich macht. Erdogan gebrauchte die Redewendung: »Sie haben gespuckt und sollen es auflecken«.

Indessen deutete Erdogan auch an, die Abgeordneten, die nicht geschworen hätten, könnten ihren Abgeordnetenstatus verlieren. Sein Stellvertreter Mustafa Elitas wurde genauer: Da die Abgeordneten nicht geschworen hätten, könnten sie als unentschuldigt abwesend angesehen werden. Ein Abgeordneter, der in einem Monat fünfmal unentschuldigt fehlt, verliert sein Mandat. Die fünfte Sitzung in diesem Monat ist die Vertrauensabstimmung am 15. Juli. Danach würden von den 135 Abgeordneten der CHP 132 ihren Parlamentssitz verlieren. Die im Gefängnis sind ja entschuldigt, und einer hat geschworen. Ebenso würde die BDP 30 Abgeordnete verlieren.

Das Ergebnis wären Nachwahlen von 162 Abgeordneten, wobei die Wähler der AK-Partei dann eine zweite Chance hätten, die Zahl der Sitze ihrer Partei zu vermehren. Damit hätte Erdogan eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und könnte eine neue Verfassung entsprechend den eigenen Vorstellungen gestalten. Bislang ist das nur eine Drohung. Käme es soweit, müsste die Opposition hilflos zusehen, denn sie hat nicht das Recht, das Verfassungsgericht anzurufen.

Der Führer der CHP, Kemal Kilicdaroglu, hat sich mit dem Boykott selbst in eine schwierige Lage manövriert. Sein Druck auf die Regierung ist nur moralischer Art, außerhalb seiner Partei sind die beiden Abgeordneten, um die es geht, nicht beliebt. Alle Optionen zu handeln, liegen in der Hand von Erdogan.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juli 2011

Dokumentiert:

Türkischer Staat verschließt politische Lösungswege

Gewähltem Abgeordneten wird Mandat entzogen, fünf weitere kurdische Abgeordnete bleiben inhaftiert **

Nachdem der türkische Staat bei den Parlamentswahlen am 12.06.11 trotz massiven Wahlbetrugs, Einschüchterungsversuchen und Repressionen nicht verhindern konnte, dass der linke Wahlblock, dem die BDP angehört, 36 KandidatInnen ins Parlament schickt, sollen die gewählten kurdischen VertreterInnen nun mit juristischen Mitteln politisch ausgeschaltet werden. Dem ehem. DEP-Abgeordneten Hatip Dicle, der bereits mehr als 10 Jahre im Gefängnis verbrachte, weil er als Abgeordneter für die Rechte der kurdischen Bevölkerung öffentlich eintrat, wurde, obwohl er mit knapp 80.000 Stimmen als Direktkandidat für Amed (Diyarbakır) ins Parlament gewählt worden ist, von der Hohen Wahlkommission (YSK) das Mandat verweigert. Nach angeben der linksliberalen türkischen Zeitung radikal soll der für den Wahlkampf der Regierungspartei AKP verantwortliche stellvertretende Generalsekretär Haluk İpek schon am 18.06.11 den Antrag dazu bei der Hohen Wahlkommission eingereicht haben.

Es wurde ebenso entschieden, ihn sowie die gewählten kurdischen KandidatInnen Selma Irmak, Faysal Sarıyıldız, Kemal Aktaş, Gülseren Yıldırım und İbrahim Ayhan nicht aus dem Gefängnis zu entlassen um ihre Arbeit im Parlament aufzunehmen, obwohl dies im türkischen Gesetz vorgesehen ist.

Dies geschieht vor dem Hintergrund einer nach den Wahlen noch relativ optimistisch aussehenden Lage. Der Vorsitzende Abdullah Öcalan hatte seine Unterstützung für das Fortdauern eines Waffenstillstands der kurdischen Guerilla angekündigt, und diese selbst hatte erklärt, dass sie für den Fall, dass Abdullah Öcalan in die Verhandlungen für eine politische Lösung offiziell miteinbezogen und die Militäroperationen beendet würden, sie ebenfalls den Waffenstillstand verlängern und weitere Schritte für eine politische Lösung einleiten würden.

Die Reaktion des türkischen Staates mit dem Entzug des Mandats für Hatip Dicle und der Nichtentlassung und damit dem de facto Entzug des Mandats für fünf weitere kurdische gewählte VertreterInnen (unter anderem mit der Begründung, dass sie bei ihrer Verteidigung Kurdisch gesprochen hätten) zeigt deutlich, dass der türkische Staat nicht bereit für eine politische Lösung ist.

Die Alternativen hat Abdulah Öcalan, nicht als Drohung, sondern als Tatsachenfeststellung deutlich gemacht. Die Geduld der Bevölkerung ist am Ende, es kann nun entweder eine politische Lösung oder einen „revolutionären Volkskrieg“ geben. Je weiter der türkische Staat die Optionen für eine politische Lösung verschließt, desto wahrscheinlicher wird die zweite Alternative. Das brutale Vorgehen der Staatsgewalt gegen die Proteste gegen die Entscheidung der Hohen Wahlkommission und der Staatsanwaltschaft, bei denen unter anderem zwei gewählte kurdische Abgeordnete am 26.06. in Istanbul von der Polizei so stark verletzt wurden, dass sie sich im Moment im Krankenhaus befinden, unterstützen diese Einschätzung. Die kurdische Frauenbewegung KJB erklärte ebenfalls zu der Entscheidung der Hohen Wahlkommission:

„Wir erklären, dass wir gegen diese Angriffs- und Einschüchterungspolitik unseren Widerstand steigern werden. Es ist der Punkt erreicht, an dem die Opferbereitschaft und Geduld des kurdischen Volkes nicht weiter strapaziert werden kann.“

Auch der Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan KCK erklärte: „Dies ist ein Putsch gegen die Hoffnungen auf eine Lösung. (...) Wenn in den vor uns liegenden Tagen der Staat und die Regierung diese große Ungerechtigkeit nicht aufzuheben versuchen und sie korrigieren, wird das für unsere Bevölkerung einer offiziellen Kriegserklärung gleichkommen."

LINKER WAHLBLOCK BOYKOTTIERT PARLAMENT

Die Abgeordneten des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie und Freiheit, dem auch die linke, prokurdische BDP angehört, haben entschieden aus Protest gegen die Nichtzulassung von mittlerweile 6 ihrer Abgeordneten das Parlament zu boykottieren. Auf einer Demonstration in Istanbul erklärte der gewählte Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder:
„Wir lassen unsere GenossInnen nicht auf halben Weg zurück. Wir sind Revolutionäre und ihr werdet euch an uns im Parlament gewöhnen müssen. Solange Dicle nicht im Parlament ist, werden wir auch nicht dort sein.“

** Quelle: ISKU-Informationsstelle Kurdistan e.V., 27. Juni 2011




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