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"Das war ein gezielter politischer Mord"

Nudem Gever über die Hintergründe des Anschlags auf drei kurdische Aktivistinnen in Paris *


Zehntausende nahmen am Dienstag in Villiers-le-Bel nahe Paris an einer Trauerfeier für die in der französischen Hauptstadt ermordeten kurdischen Exilpolitikerinnen teil. Anschließend wurden die Särge nach Diyarbakir in Türkisch-Kurdistan geflogen. Mit Nudem Gever von der Vereinigung Kurdischer Frauen in Europa sprach für »neues deutschland« Martin Dolzer.


nd: In Paris wurden die kurdischen Exilpolitikerinnen Sakine Cansiz, Fidan Dogan und Leyla Saylemez von unbekannten Tätern mit Kopfschüssen hingerichtet. Gibt es neue Erkenntnisse und Entwicklungen in dem Fall?

Nudem Gever: Schon am Wochenende hatten sich Zehntausende Kurdinnen und Kurden sowie Mitglieder sozialistischer Parteien, von Menschenrechts- und Frauenorganisationen, u.a. Femme Solidaire, der türkischen und französischen Linken, der tamilischen und der armenischen Community und viele andere Menschen in Paris versammelt, um gegen diese gezielte Hinrichtung zu protestieren. Von der französischen Regierung wurde gefordert, die Schuldigen zu ermitteln und die Wahrheit über die Tat aufzudecken. Es bleibt ein Rätsel, wie eine solch kaltblütige und gezielte Ermordung im Zentrum von Paris am frühen Abend möglich war. Aus Prozessakten und Protokollen geht hervor, dass das Kurdistan Informationsbüro wie auch führende kurdische Aktivisten in Paris rund um die Uhr observiert werden.

Ein Opfer des Anschlags war Sakine Cansiz. Können Sie etwas über die Lebensgeschichte und die Wirkung dieser Politikerin, die für viele Kurden eine Integrationsfigur ist, erzählen?

Sakine Cansiz war eine der Studentinnen, die schon Ende der 1970er Jahre am Aufbau der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mitgewirkt haben, um die kurdische Bevölkerung zu organisieren und Kurdistan von der Kolonialherrschaft zu befreien. Sie war eine von zwei Frauen, die am Gründungskongress der Partei 1978 teilgenommen hat. Noch vor dem Militärputsch von 1980 wurde sie festgenommen und systematisch gefoltert. Sie hat entschlossenen Widerstand geleistet, etwa dem berüchtigten Folterer Esat Oktay ins Gesicht gespuckt, und immer wieder Proteste gegen die grausame und unmenschliche Behandlung in den Gefängnissen initiiert.

Nach ihrer Freilassung 1991 hielt sie sich unter anderem in der Akademie der PKK in Libanon auf, hatte engen Kontakt zu Abdullah Öcalan und spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der Fraueneinheiten in den Bergen Kurdistans. Sakine Cansiz hat der Bewegung insbesondere im ideologischen Bereich und in der Bildungsarbeit Impulse gegeben und sich auch in Europa mit großem Engagement für die friedliche Lösung der kurdischen Frage, für die Freiheit Abdullah Öcalans und die Frauenbefreiung eingesetzt. Alle drei Genossinnen haben gemeinsam zur Bewusstseinsbildung und zum interkulturellen Austausch beigetragen.

Besonders die türkische Regierung bemüht sich, die Hintergründe der Tat u.a. durch die These der parteiinternen Abrechnung und einen Anti-Terrordiskurs gegen die PKK zu verschleiern.

Ich denke, dass die drei Frauen von Kräften, die in dieser sensiblen Phase den gerade begonnen Friedensdialog zwischen Vertretern des türkischen Staates und Abdullah Öcalan sabotieren wollen, bewusst als Ziel ausgesucht wurden. Alle bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es ein lang geplanter, gezielter professioneller politischer Mord war. Durch unhaltbare Behauptungen und Propaganda gegen die kurdische Bewegung sollen offensichtlich die wirklichen Täter und Verantwortlichen für die Morde gedeckt werden.

Es werden zur Zeit Verteilungskriege um die neue kapitalistische Gestaltung der Märkte des Nahen und Mittleren Ostens geführt. Vor diesem Hintergrund wollen bestimmte Kräfte verhindern, dass es zu einer politischen Lösung der kurdischen Frage kommt, in der die Kurdinnen und Kurden selbst eine gestaltende Rolle als Akteure spielen. Da stellt sich die Frage, inwiefern es auch Kenntnis oder gar Mitwirkung nicht nur des türkischen, sondern auch von westlichen Geheimdiensten bei diesem Mord gab.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 16. Januar 2013


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