Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die vergessenen Knechte Gottes

Das Vorgehen der Türkei gegen Minderheiten ist facettenreich

Von Heiko Langner *

Themen wie die Europapolitik und die EU-Erweiterung werden in der europäischen und deutschen Linken meist in einem Spannungsbogen von nationalstaatlich abzusichernden sozialen Rechten und der Befürwortung eines fortgesetzten Integrationsprozesses diskutiert. Im Fall der Türkei treten dabei Bruchstellen wie bei keinem anderen EU-Beitrittsanwärter zutage, die selbst bei Vertretern der Linken mitunter zu einem ähnlichen EU-Erweiterungsskeptizismus führen, wie ihn erzkonservative Teile der CSU pflegen. Dies liegt zum einen an der noch zu findenden Antwort, wie der neoliberalen Verfasstheit der EU linke soziale Alternativen entgegengesetzt werden können, andererseits aber auch an der komplizierten gesellschaftlichen Realität in der Türkei selbst. Insbesondere der Entwicklungsstand der Demokratie und die Rechte der Minderheiten sorgen für reichlich Zündstoff. Allerdings ist die Debatte auch nicht frei von stereotypen Pauschalisierungen, die die ambivalente Entwicklung in der Türkei nicht zu erfassen vermögen.

Angesichts des Medienrummels um die zwischenzeitlich eingestellte türkische Militäroffensive im kurdischen Nordirak wurde beispielsweise ein denkwürdiges Ereignis kaum wahrgenommen: Nur wenige Stunden vor dem Militäreinmarsch hatte die türkische Nationalversammlung ein wegweisendes Gesetz zur Entschädigung der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften verabschiedet. Zuvor waren ähnliche Vorhaben stets am Veto des Ex-Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer gescheitert, sein Amtsnachfolger Abdullah Gül hatte dagegen bereits im Vorfeld Zustimmung signalisiert. Ankara erfüllt damit eine wichtige, mehrfach erneuerte Auflage der EU in den zuletzt stockenden Beitrittsverhandlungen. Konkret geht es um die rückwirkende Entschädigung bzw. Rückübertragung von seit 1974 beschlagnahmten Grund und Boden in einer Größenordnung von etwa 150 Milliarden Euro. Dennoch werden nicht alle religiösen Minderheiten gleichermaßen von diesen und eventuellen weiteren minderheitenpolitischen Maßnahmen profitieren, da dies oft an die formale Anerkennung eines gesonderten Minderheitenstatus gebunden ist.

Kulturelle Rechte missachtet

Anders als Armenier, Griechen und Juden wurden die christlichen Aramäer (türkisch: Süryani) im Lausanner Vertrag von 1923 nicht als Minderheit erwähnt. Obwohl sie genauso unter der gewaltsamen Monoethnisierungspolitik des jungtürkischen Militärregimes (1913 bis 1918) zu leiden hatten und selbst danach noch massenhaft emigrieren mussten, blieb ihnen bis heute die offizielle Anerkennung ihres Minderheitenstatus versagt, so dass für sie keine Verfassungsgrundlage für gruppenbezogene Minderheitenrechte existiert.

Das gebirgige Südostanatolien ist mit dem »Tur`Abdin« (übersetzt: Berg der Knechte Gottes) der Kern des aramäischen Siedlungsgebiets in der Türkei. Dort wurden und werden vor allem die kulturellen Rechte äußerst stiefmütterlich behandelt: In den staatlichen Schulen der Region ist aramäischer Sprachunterricht verboten, der Neubau von Kirchen ausgeschlossen und die Ausbildung des Priesternachwuchses wird behindert. Hinzu kommt eine gravierende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, bei der die Aramäer zwischen die wechselnden Frontverläufe von kurdischer PKK und sogenannten Dorfschützern geraten sind. Das Dorfschützersystem bedeutet eine praktische Delegierung von hoheitlichen Aufgaben des Staates an paramilitärische Kurdenmilizen, die einheimischen, staatsloyalen Agas (Feudalherren) unterstehen. Der türkische Staat nutzt und toleriert dieses Dorfschützersystem, unter anderem, um die Personalressourcen von Polizei und Militär zu schonen. Allerdings werden damit auch die für die sozioökonomische Unterentwicklung Südostanatoliens mitverantwortlichen archaischen Gesellschaftsverhältnisse konserviert.

Viele Aramäer sahen unter diesen Bedingungen in der Flucht den einzigen Ausweg. Die Diasporagemeinden zeigen demzufolge ein starkes Interesse an einer vollständigen Integration in die jeweilige Aufnahmegesellschaft, ohne dabei ihre eigene kulturelle Identität aufzugeben. Dies betrifft vor allem den Erhalt und die Pflege der aramäischen Sprache, deren Fortbestand aufgrund der weltweiten Zerstreuung akut gefährdet ist. Die Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland e. V. führte deshalb im letzten Jahr eine Unterschriftenkampagne zur Anerkennung des Aramäischen als immaterielles Weltkulturerbe durch. In der Bundesrepublik umfasst die aramäische Gemeinde etwa 90 000 Personen, deren größte Schwerpunktregion in Ostwestfalen liegt. Trotz widriger Ausgangsbedingungen ist neben der soziokulturellen auch ihre wirtschaftliche Integration gelungen. Zu den bevorzugten Tätigkeitsfeldern gehören die freien und gewerblichen Berufe sowie das Gesundheitswesen.

Um die Jahrtausendwende war bei der aramäischen Diaspora vorübergehend Hoffnung aufgekeimt, dass sich die Situation der Christen in Südostanatolien grundlegend verbessern könnte. Allein die bloße Aussicht auf Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU hatte Ankara zu optimistisch stimmenden Reformen motiviert. Der ehemalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit – ein Kemalist alter Schule – rief die Christen sogar auf, in ihre Dörfer zurückzukehren. Die Behörden erhielten Order, Hemmnisse beim Kauf von Grundstücken zu beseitigen. Und die türkische Justiz sprach, trotz der zu diesem Zeitpunkt noch unzureichenden Gesetzeslage, in einigen spektakulären Gerichtsverfahren den von kurdischen Agas einverleibten Grund und Boden wieder seinen ursprünglichen Eigentümern zu.

Seit im Herbst 2005 der Startschuss für offizielle EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erfolgte, hat sich das Reformtempo jedoch nahezu bis zum Stillstand verlangsamt. Den Grund bildet nicht etwa mangelnder »Reformeifer« der gemäßigt pro-islamischen AKP-Regierung, sondern das noch nicht ausjustierte Kräfteverhältnis zwischen der sich neu etablierenden politischen Führungselite und der alteingesessenen, kemalistischen Staatsbürokratie, inklusive des Militärs. Dabei gingen die vorangegangenen Verbesserungen wohl weniger auf das Konto eines generellen Paradigmenwechsels in Ankaras Minderheitenpolitik. Sie erklären sich weitaus stärker aus den Konsequenzen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, welche die regierende AKP betreibt. Die Bilanz der vergangenen Jahrzehnte dürfte die AKP darin bestärkt haben, dass die staatlichen Kapitalmittel allein nicht ausreichen, um die enormen wirtschaftlichen Binnendisparitäten in der Türkei auszugleichen. Daher ist es aus Sicht ihrer angebotsorientierten Wirtschaftsideologie durchaus plausibel, zusätzlich ausländische Kapitalinvestitionen der in Jahrzehnten zuvor vertriebenen Minderheiten zurück in die Türkei zu holen, gerade weil dieses Kapital von Eignern stammt, die aufgrund ihrer oft vorhandenen, tiefen emotionalen Verbundenheit mit der Herkunftsregion ein Interesse an langfristigen, standortgebundenen Investitionen besitzen.

Ankara setzt auf Auslandskapital

Die weltweiten Kapitalressourcen der aramäischen Diaspora sind aufgrund ihres wirtschaftlichen Integrationserfolgs in den Aufnahmeländern nicht zu unterschätzen. Bereits ein Teil dieser Kapitalreserven dürfte ausreichen, um einer größenmäßig überschaubaren, strukturschwachen Region wie dem Tur`Abdin einen kräftigen Investitionsimpuls zu geben. Die reizvolle Landschaftskulisse hat bereits das Interesse der türkischen und der ausländischen Filmindustrie geweckt, ebenso bieten der Tourismussektor und das Baugewerbe reichlich Wachstumspotenzial. Die Mobilisierbarkeit dieses Kapitals hängt jedoch nicht zuletzt von der Rückkehrbereitschaft der Eigentümer in die Ursprungsregion ab. Und dies könnte eine Erklärung für diesbezügliche Avancen liefern, zumal die ortsansässige kurdische Bevölkerung wegen ungünstiger Voraussetzungen als Trägerin einer gezielten Regionalentwicklung weitgehend ausfällt: Sie lebt unter der Kuratel der Agas, die sich gegen jegliche Veränderungen sträuben, die ihre Feudalherrschaft erschüttern könnten.

Die Aramäer dürften ihrerseits kaum Interesse haben, die türkische gegen eine kurdische Herrschaft einzutauschen. Denn die aramäischen Christen stellen in der Region historisch die eigentliche, autochthone Bevölkerung dar, die erst seit dem Mittelalter von eindringenden kurdischen Nomaden verdrängt wurde. Im Zuge ihrer Sesshaftwerdung eigneten sich kurdische Feudalherren Land und Besitz der Aramäer oft gewaltsam an. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert: Die wenigen im Tur`Abdin verbliebenen aramäischen Christen, deren Zahl zwischenzeitlich bei unter 3000 Personen liegt, wurden in jüngster Vergangenheit sowohl von militanten Dorfschützern als auch von der PKK terrorisiert und zum Verlassen der Region gedrängt. Dies erklärt, weshalb sie sich ausgerechnet Hilfe von derjenigen Institution erhoffen, die aus Sicht manch anderer Minderheit ein Teil des Problems darstellt – vom türkischen Staat.

Staatsloyale Haltung als Kriterium

Die staatsloyale Haltung dürfte einen wichtigen Stellenwert bei der politischen Entscheidungsfindung einnehmen, welcher Bevölkerungsgruppe letztlich in der Umsetzung der sozioökonomischen Entwicklungsstrategie eine maßgebliche Rolle zugedacht wird. Für die Aramäer spricht aus Sicht der Staatsführung zusätzlich das Argument, dass sie nie – auf einem ideologischen Selbstverständnis von Ethnizität basierende – separatistische Organisationen gegründet haben. Ankaras Planspiele laufen nunmehr offenbar auf eine sozial behutsame Regionalentwicklung hinaus, um die überkommenen Feudalstrukturen allmählich aufzulösen. Anderenfalls würde womöglich auch ein zusätzlicher Konflikt heraufbeschworen, der die Kapitalerschließung der Region außerordentlich erschweren könnte.

Die zivilgesellschaftlich und parlamentarisch in der Türkei immer noch recht schwach vertretene Linke steht somit vor der doppelbödigen Herausforderung, sozial progressive Reformen der islamischen Regierungspartei AKP zwar unterstützen, jedoch gleichzeitig mit politischen Alternativen zu deren marktradikalen Zielsetzung verknüpfen zu müssen. Die Vertreter der Linken betrachten Demokratie zu Recht nicht als ein zwangsläufiges Nebenprodukt neoliberaler Wirtschaftspolitik, sondern als Wert an sich. Eine verfassungsmäßige Verankerung gruppenbezogener kultureller Minderheitenrechte für die aramäische Bevölkerung bleibt demnach zwar wünschenswert und dringend notwendig, reicht aber selbst aus neoliberaler Sicht nicht aus, um die Rückkehrbereitschaft ausreichend zu stimulieren. Hierfür müssten vielmehr in der gesellschaftlichen Praxis konkret erlebbare Maßnahmen zur generellen Förderung der Minderheiten durchgeführt werden. Dies verlangt insbesondere die Abschaffung von gesinnungsdogmatischen und assimilatorischen Gesetzesbestimmungen wie des berüchtigten Strafparagrafen 301 (»Beleidigung des Türkentums«) und anderer Diskriminierungspraktiken.

Herausforderung für türkische Linke

Die Linke in der Türkei wird hierfür beträchtliche Überzeugungskraft beweisen müssen, da in der türkischen Bevölkerung eine hartnäckige Mentalität grassiert, die diesbezüglichen Reformen im Weg steht. Die mit der kemalistischen Staatsdoktrin gerechtfertigte omnipotente Stellung des türkischen Militärs gründet sich nämlich nicht allein auf dessen beträchtliche Machtmittel, sondern ebenfalls auf in der türkischen Gesellschaft weit verbreitete, imaginäre Bedrohungsgefühle, die aus der Vorphase der Republikgründung herrühren. Die im Zusammenhang mit einem eventuellen EU-Beitritt stehenden verstärkten Forderungen nach Demokratisierung der Minderheitenpolitik rufen nahezu reflexartig alte Ängste vor einer ethnisch-völkischen Aufspaltung der Türkei wach, die die Ententemächte Großbritannien und Frankreich nach dem militärischen Zusammenbruch des Osmanischen Reichs tatsächlich zeitweilig verfolgten. Diese real vorhandenen Ängste sind in der Vergangenheit wiederholt zu nationalistischer Stimmungsmache gegen die Minderheiten missbraucht worden. Historisch wurden vor allem die christlichen Minderheiten unter Generalverdacht gestellt, die »Balkanisierung« der Türkei quasi »von innen« vorzubereiten, später ließ dann die PKK mit ihrer zwischenzeitlich wohl aufgegebenen Forderung nach einem unabhängigen »Kurdistan« die Ängste vor einem ethnischen Separatismus wieder aufleben. Aus diesem Grund zählt das Militär noch immer mit zu den vertrauenswürdigsten Institutionen, da ihm zugetraut wird, diesen Separatismus im Notfall ausschalten zu können.

Alte Ängste vor Spaltung des Staates

Diesen Umstand gilt es in Rechnung zu stellen, wenn die türkische Mehrheitsbevölkerung für demokratische Reformen gewonnen werden soll. Die innenpolitische Demokratisierung ist somit unauflösbar an den Erhalt der äußeren territorialen Integrität des Staates gekoppelt. Dies verlangt den konsequenten Verzicht auf jegliche gewaltsamen Sezessionsversuche, für die ohnehin keine völkerrechtliche Grundlage gegeben ist. Notwendig wären stattdessen hohe Autonomiestandards für die nationalen und religiösen Minderheiten innerhalb des unitaristischen Systems.

Unter diesen Voraussetzungen müsste es möglich sein, auf allen Seiten ein wachsendes Vertrauen für tiefgreifende Reformen zu schaffen, die im Fall eines EU-Beitritts zur Rückkehr von zuvor verfolgten und vertriebenen Minderheiten wie der Aramäer in den Tur`Abdin führen könnten. Unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen wäre dies für die weitere demokratische Entwicklung in der Türkei ein wahrer Meilenstein. Die EU-Perspektive bietet folglich nicht zu unterschätzende Chancen für die Stärkung der kulturellen Vielfalt in der Türkei und wäre auch ein Lehrbeispiel, wie eine Wiedergutmachung für vergangenes, schweres Unrecht aussehen kann.

* Aus: Neues Deutschland, 15. März 2008


Zurück zur Türkei-Seite

Zurück zur Homepage