Die vergessenen Knechte Gottes
Das Vorgehen der Türkei gegen Minderheiten ist facettenreich
Von Heiko Langner *
Themen wie die Europapolitik und die EU-Erweiterung werden in der europäischen und deutschen
Linken meist in einem Spannungsbogen von nationalstaatlich abzusichernden sozialen Rechten und
der Befürwortung eines fortgesetzten Integrationsprozesses diskutiert. Im Fall der Türkei treten
dabei Bruchstellen wie bei keinem anderen EU-Beitrittsanwärter zutage, die selbst bei Vertretern der
Linken mitunter zu einem ähnlichen EU-Erweiterungsskeptizismus führen, wie ihn erzkonservative
Teile der CSU pflegen. Dies liegt zum einen an der noch zu findenden Antwort, wie der neoliberalen
Verfasstheit der EU linke soziale Alternativen entgegengesetzt werden können, andererseits aber
auch an der komplizierten gesellschaftlichen Realität in der Türkei selbst. Insbesondere der
Entwicklungsstand der Demokratie und die Rechte der Minderheiten sorgen für reichlich Zündstoff.
Allerdings ist die Debatte auch nicht frei von stereotypen Pauschalisierungen, die die ambivalente
Entwicklung in der Türkei nicht zu erfassen vermögen.
Angesichts des Medienrummels um die zwischenzeitlich eingestellte türkische Militäroffensive im
kurdischen Nordirak wurde beispielsweise ein denkwürdiges Ereignis kaum wahrgenommen: Nur
wenige Stunden vor dem Militäreinmarsch hatte die türkische Nationalversammlung ein
wegweisendes Gesetz zur Entschädigung der nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften
verabschiedet. Zuvor waren ähnliche Vorhaben stets am Veto des Ex-Staatspräsidenten Ahmet
Necdet Sezer gescheitert, sein Amtsnachfolger Abdullah Gül hatte dagegen bereits im Vorfeld
Zustimmung signalisiert. Ankara erfüllt damit eine wichtige, mehrfach erneuerte Auflage der EU in
den zuletzt stockenden Beitrittsverhandlungen. Konkret geht es um die rückwirkende Entschädigung
bzw. Rückübertragung von seit 1974 beschlagnahmten Grund und Boden in einer Größenordnung
von etwa 150 Milliarden Euro. Dennoch werden nicht alle religiösen Minderheiten gleichermaßen
von diesen und eventuellen weiteren minderheitenpolitischen Maßnahmen profitieren, da dies oft an
die formale Anerkennung eines gesonderten Minderheitenstatus gebunden ist.
Kulturelle Rechte missachtet
Anders als Armenier, Griechen und Juden wurden die christlichen Aramäer (türkisch: Süryani) im
Lausanner Vertrag von 1923 nicht als Minderheit erwähnt. Obwohl sie genauso unter der
gewaltsamen Monoethnisierungspolitik des jungtürkischen Militärregimes (1913 bis 1918) zu leiden
hatten und selbst danach noch massenhaft emigrieren mussten, blieb ihnen bis heute die offizielle
Anerkennung ihres Minderheitenstatus versagt, so dass für sie keine Verfassungsgrundlage für
gruppenbezogene Minderheitenrechte existiert.
Das gebirgige Südostanatolien ist mit dem »Tur`Abdin« (übersetzt: Berg der Knechte Gottes) der
Kern des aramäischen Siedlungsgebiets in der Türkei. Dort wurden und werden vor allem die
kulturellen Rechte äußerst stiefmütterlich behandelt: In den staatlichen Schulen der Region ist
aramäischer Sprachunterricht verboten, der Neubau von Kirchen ausgeschlossen und die
Ausbildung des Priesternachwuchses wird behindert. Hinzu kommt eine gravierende Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit, bei der die Aramäer zwischen die wechselnden Frontverläufe von kurdischer
PKK und sogenannten Dorfschützern geraten sind. Das Dorfschützersystem bedeutet eine
praktische Delegierung von hoheitlichen Aufgaben des Staates an paramilitärische Kurdenmilizen,
die einheimischen, staatsloyalen Agas (Feudalherren) unterstehen. Der türkische Staat nutzt und
toleriert dieses Dorfschützersystem, unter anderem, um die Personalressourcen von Polizei und
Militär zu schonen. Allerdings werden damit auch die für die sozioökonomische Unterentwicklung
Südostanatoliens mitverantwortlichen archaischen Gesellschaftsverhältnisse konserviert.
Viele Aramäer sahen unter diesen Bedingungen in der Flucht den einzigen Ausweg. Die
Diasporagemeinden zeigen demzufolge ein starkes Interesse an einer vollständigen Integration in
die jeweilige Aufnahmegesellschaft, ohne dabei ihre eigene kulturelle Identität aufzugeben. Dies
betrifft vor allem den Erhalt und die Pflege der aramäischen Sprache, deren Fortbestand aufgrund
der weltweiten Zerstreuung akut gefährdet ist. Die Föderation der Aramäer (Suryoye) in Deutschland
e. V. führte deshalb im letzten Jahr eine Unterschriftenkampagne zur Anerkennung des
Aramäischen als immaterielles Weltkulturerbe durch. In der Bundesrepublik umfasst die aramäische
Gemeinde etwa 90 000 Personen, deren größte Schwerpunktregion in Ostwestfalen liegt. Trotz
widriger Ausgangsbedingungen ist neben der soziokulturellen auch ihre wirtschaftliche Integration
gelungen. Zu den bevorzugten Tätigkeitsfeldern gehören die freien und gewerblichen Berufe sowie
das Gesundheitswesen.
Um die Jahrtausendwende war bei der aramäischen Diaspora vorübergehend Hoffnung aufgekeimt,
dass sich die Situation der Christen in Südostanatolien grundlegend verbessern könnte. Allein die
bloße Aussicht auf Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der EU hatte Ankara zu optimistisch
stimmenden Reformen motiviert. Der ehemalige türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit – ein
Kemalist alter Schule – rief die Christen sogar auf, in ihre Dörfer zurückzukehren. Die Behörden
erhielten Order, Hemmnisse beim Kauf von Grundstücken zu beseitigen. Und die türkische Justiz
sprach, trotz der zu diesem Zeitpunkt noch unzureichenden Gesetzeslage, in einigen spektakulären
Gerichtsverfahren den von kurdischen Agas einverleibten Grund und Boden wieder seinen
ursprünglichen Eigentümern zu.
Seit im Herbst 2005 der Startschuss für offizielle EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erfolgte,
hat sich das Reformtempo jedoch nahezu bis zum Stillstand verlangsamt. Den Grund bildet nicht
etwa mangelnder »Reformeifer« der gemäßigt pro-islamischen AKP-Regierung, sondern das noch
nicht ausjustierte Kräfteverhältnis zwischen der sich neu etablierenden politischen Führungselite und
der alteingesessenen, kemalistischen Staatsbürokratie, inklusive des Militärs. Dabei gingen die
vorangegangenen Verbesserungen wohl weniger auf das Konto eines generellen
Paradigmenwechsels in Ankaras Minderheitenpolitik. Sie erklären sich weitaus stärker aus den
Konsequenzen der neoliberalen Wirtschaftspolitik, welche die regierende AKP betreibt. Die Bilanz
der vergangenen Jahrzehnte dürfte die AKP darin bestärkt haben, dass die staatlichen Kapitalmittel
allein nicht ausreichen, um die enormen wirtschaftlichen Binnendisparitäten in der Türkei
auszugleichen. Daher ist es aus Sicht ihrer angebotsorientierten Wirtschaftsideologie durchaus
plausibel, zusätzlich ausländische Kapitalinvestitionen der in Jahrzehnten zuvor vertriebenen
Minderheiten zurück in die Türkei zu holen, gerade weil dieses Kapital von Eignern stammt, die
aufgrund ihrer oft vorhandenen, tiefen emotionalen Verbundenheit mit der Herkunftsregion ein
Interesse an langfristigen, standortgebundenen Investitionen besitzen.
Ankara setzt auf Auslandskapital
Die weltweiten Kapitalressourcen der aramäischen Diaspora sind aufgrund ihres wirtschaftlichen
Integrationserfolgs in den Aufnahmeländern nicht zu unterschätzen. Bereits ein Teil dieser
Kapitalreserven dürfte ausreichen, um einer größenmäßig überschaubaren, strukturschwachen
Region wie dem Tur`Abdin einen kräftigen Investitionsimpuls zu geben. Die reizvolle
Landschaftskulisse hat bereits das Interesse der türkischen und der ausländischen Filmindustrie
geweckt, ebenso bieten der Tourismussektor und das Baugewerbe reichlich Wachstumspotenzial.
Die Mobilisierbarkeit dieses Kapitals hängt jedoch nicht zuletzt von der Rückkehrbereitschaft der
Eigentümer in die Ursprungsregion ab. Und dies könnte eine Erklärung für diesbezügliche Avancen
liefern, zumal die ortsansässige kurdische Bevölkerung wegen ungünstiger Voraussetzungen als
Trägerin einer gezielten Regionalentwicklung weitgehend ausfällt: Sie lebt unter der Kuratel der
Agas, die sich gegen jegliche Veränderungen sträuben, die ihre Feudalherrschaft erschüttern
könnten.
Die Aramäer dürften ihrerseits kaum Interesse haben, die türkische gegen eine kurdische Herrschaft
einzutauschen. Denn die aramäischen Christen stellen in der Region historisch die eigentliche,
autochthone Bevölkerung dar, die erst seit dem Mittelalter von eindringenden kurdischen Nomaden
verdrängt wurde. Im Zuge ihrer Sesshaftwerdung eigneten sich kurdische Feudalherren Land und
Besitz der Aramäer oft gewaltsam an. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert: Die wenigen im
Tur`Abdin verbliebenen aramäischen Christen, deren Zahl zwischenzeitlich bei unter 3000 Personen
liegt, wurden in jüngster Vergangenheit sowohl von militanten Dorfschützern als auch von der PKK
terrorisiert und zum Verlassen der Region gedrängt. Dies erklärt, weshalb sie sich ausgerechnet
Hilfe von derjenigen Institution erhoffen, die aus Sicht manch anderer Minderheit ein Teil des
Problems darstellt – vom türkischen Staat.
Staatsloyale Haltung als Kriterium
Die staatsloyale Haltung dürfte einen wichtigen Stellenwert bei der politischen Entscheidungsfindung
einnehmen, welcher Bevölkerungsgruppe letztlich in der Umsetzung der sozioökonomischen
Entwicklungsstrategie eine maßgebliche Rolle zugedacht wird. Für die Aramäer spricht aus Sicht der
Staatsführung zusätzlich das Argument, dass sie nie – auf einem ideologischen Selbstverständnis
von Ethnizität basierende – separatistische Organisationen gegründet haben. Ankaras Planspiele
laufen nunmehr offenbar auf eine sozial behutsame Regionalentwicklung hinaus, um die
überkommenen Feudalstrukturen allmählich aufzulösen. Anderenfalls würde womöglich auch ein
zusätzlicher Konflikt heraufbeschworen, der die Kapitalerschließung der Region außerordentlich
erschweren könnte.
Die zivilgesellschaftlich und parlamentarisch in der Türkei immer noch recht schwach vertretene
Linke steht somit vor der doppelbödigen Herausforderung, sozial progressive Reformen der
islamischen Regierungspartei AKP zwar unterstützen, jedoch gleichzeitig mit politischen Alternativen
zu deren marktradikalen Zielsetzung verknüpfen zu müssen. Die Vertreter der Linken betrachten
Demokratie zu Recht nicht als ein zwangsläufiges Nebenprodukt neoliberaler Wirtschaftspolitik,
sondern als Wert an sich. Eine verfassungsmäßige Verankerung gruppenbezogener kultureller
Minderheitenrechte für die aramäische Bevölkerung bleibt demnach zwar wünschenswert und
dringend notwendig, reicht aber selbst aus neoliberaler Sicht nicht aus, um die Rückkehrbereitschaft
ausreichend zu stimulieren. Hierfür müssten vielmehr in der gesellschaftlichen Praxis konkret
erlebbare Maßnahmen zur generellen Förderung der Minderheiten durchgeführt werden. Dies
verlangt insbesondere die Abschaffung von gesinnungsdogmatischen und assimilatorischen
Gesetzesbestimmungen wie des berüchtigten Strafparagrafen 301 (»Beleidigung des Türkentums«)
und anderer Diskriminierungspraktiken.
Herausforderung für türkische Linke
Die Linke in der Türkei wird hierfür beträchtliche Überzeugungskraft beweisen müssen, da in der
türkischen Bevölkerung eine hartnäckige Mentalität grassiert, die diesbezüglichen Reformen im Weg
steht. Die mit der kemalistischen Staatsdoktrin gerechtfertigte omnipotente Stellung des türkischen
Militärs gründet sich nämlich nicht allein auf dessen beträchtliche Machtmittel, sondern ebenfalls auf
in der türkischen Gesellschaft weit verbreitete, imaginäre Bedrohungsgefühle, die aus der Vorphase
der Republikgründung herrühren. Die im Zusammenhang mit einem eventuellen EU-Beitritt
stehenden verstärkten Forderungen nach Demokratisierung der Minderheitenpolitik rufen nahezu
reflexartig alte Ängste vor einer ethnisch-völkischen Aufspaltung der Türkei wach, die die
Ententemächte Großbritannien und Frankreich nach dem militärischen Zusammenbruch des
Osmanischen Reichs tatsächlich zeitweilig verfolgten. Diese real vorhandenen Ängste sind in der
Vergangenheit wiederholt zu nationalistischer Stimmungsmache gegen die Minderheiten
missbraucht worden. Historisch wurden vor allem die christlichen Minderheiten unter
Generalverdacht gestellt, die »Balkanisierung« der Türkei quasi »von innen« vorzubereiten, später
ließ dann die PKK mit ihrer zwischenzeitlich wohl aufgegebenen Forderung nach einem
unabhängigen »Kurdistan« die Ängste vor einem ethnischen Separatismus wieder aufleben. Aus
diesem Grund zählt das Militär noch immer mit zu den vertrauenswürdigsten Institutionen, da ihm
zugetraut wird, diesen Separatismus im Notfall ausschalten zu können.
Alte Ängste vor Spaltung des Staates
Diesen Umstand gilt es in Rechnung zu stellen, wenn die türkische Mehrheitsbevölkerung für
demokratische Reformen gewonnen werden soll. Die innenpolitische Demokratisierung ist somit
unauflösbar an den Erhalt der äußeren territorialen Integrität des Staates gekoppelt. Dies verlangt
den konsequenten Verzicht auf jegliche gewaltsamen Sezessionsversuche, für die ohnehin keine
völkerrechtliche Grundlage gegeben ist. Notwendig wären stattdessen hohe Autonomiestandards für
die nationalen und religiösen Minderheiten innerhalb des unitaristischen Systems.
Unter diesen Voraussetzungen müsste es möglich sein, auf allen Seiten ein wachsendes Vertrauen
für tiefgreifende Reformen zu schaffen, die im Fall eines EU-Beitritts zur Rückkehr von zuvor
verfolgten und vertriebenen Minderheiten wie der Aramäer in den Tur`Abdin führen könnten.
Unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen wäre dies für die weitere demokratische Entwicklung
in der Türkei ein wahrer Meilenstein. Die EU-Perspektive bietet folglich nicht zu unterschätzende
Chancen für die Stärkung der kulturellen Vielfalt in der Türkei und wäre auch ein Lehrbeispiel, wie
eine Wiedergutmachung für vergangenes, schweres Unrecht aussehen kann.
* Aus: Neues Deutschland, 15. März 2008
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