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Erdogan lässt keine Milde walten

Erneut zahlreiche Verletzte durch Polizeigewalt bei Protesten in der Türkei

Von Jan Keetmann *

Auch im Ramadan geht die türkische Regierung mit Wasserwerfern, Tränengas und sogar Gummigeschossen gegen die Demonstranten am Taksim-Platz vor.

Der Fastenmonat Ramadan macht es möglich: Plötzlich darf am Gezi-Park in Istanbul wieder ein wenig demonstriert werden. Noch vor Tagen war das laut dem Gouverneur von Istanbul, Avni Mutlu, illegal. Dies dürfte der Erkenntnis geschuldet sein, dass sich ein in Tränengasschwaden gehüllter Taksim-Platz neben dem Gezi-Park nicht gut macht, wenn man eben dort das traditionelle Fastenbrechen veranstalten will. Und siehe da, die wiederholt als »Çapulcu« (Plünderer, Marodeure) beschimpften Demonstranten blieben friedlich.

Doch der Frieden täuscht. Nicht umsonst hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan über seine Gegner gesagt: »Wir werden sie kriegen, einen nach dem anderen.« Und so jagte die Polizei am Samstagabend wieder Demonstranten durch die Fußgängerzone. In einer Seitenstraße griffen auch zum Teil mit Stöcken bewaffnete Kleinhändler auf Seiten der Polizei ein. Im Internet berichteten mehrere Teilnehmer von zahlreichen Verletzten, auch in anderen Städten wie Ankara und Hatay, wo ebenfalls erneut demonstriert wurde.

Anlass war der Tod des 19-jährigen Studenten Ali Ismail Korkmaz. Er wurde am 2. Juni von unerkannten Tätern in der Stadt Eskisehir im Westen der Türkei schwer am Kopf verletzt und starb am Mittwoch. Korkmaz ist der fünfte tote Demonstrant seit Beginn der Proteste am Gezi-Park. Hinzu kam ein über Nacht durchs Parlament gebrachtes Gesetz, das der Architektenkammer und der Kammer der Stadtplaner jedes Mitspracherecht bei Projekten wie dem Gezi-Park entzieht. Zwar wurden diese Institutionen in der Vergangenheit schon häufig übergangen, konnten danach aber vor Gericht ziehen.

In der Türkei rollt nun auch eine Welle von Prozessen gegen Demonstranten und jene an, die den Protest organisiert haben sollen. Einer von ihnen ist der bei Greenpeace arbeitende Cenk Levi. Er wurde am Gezi-Park mit einer Staubmaske vor dem Gesicht festgenommen und muss sich nun dem Vorwurf der Gründung einer terroristischen Vereinigung erwehren.

Regierungsvertreter hatten indes mehrfach darauf hingewiesen, dass auch gegen Polizisten, die übermäßig Gewalt angewendet haben, ermittelt werde. Doch dies geschieht in sonderbarer Weise. Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerden von fast 300 Personen in einer einzigen Akte zusammengefasst. Der Anwalt Asli Kazan, dessen Mandant Volkan Kesanbilici durch Polizeigewalt ein Auge verloren hat, meint, dies geschehe, damit die Bearbeitung der Akte nie ende.

Erdogan hat sich derweil einen neuen »Chefberater« zugelegt, den Journalisten Yigit Bulut. Während der Proteste sprach Bulut im Fernsehen davon, dass fremde Mächte Erdogan mit Hilfe von »Telekinese« töten wollten, und die Polizei den Leuten am Taksim-Platz »die Schädel brechen« solle. Gutes verheißt seine Berufung nicht.

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013


Rechtsstaat Türkei

Von Detlef D. Pries **

Yunus und Elif Toprak dürfen ihre Tochter wunschgemäß nun doch »Kurdistan« nennen. Ein Gericht in der Provinz Sanliurfa hatte zwar befunden, ein solcher Name beleidige die türkische Gesellschaft. Doch höchstrichterlich wurde jetzt verkündet, die Entscheidung obliege allein den Eltern des inzwischen fast zweijährigen Mädchens. Es steht also gar nicht so schlecht um die Rechtsprechung im Lande Recep Tayyip Erdogans! Könnte man glauben, nachdem noch unlängst alles, was kurdisch hieß oder kurdisch zu sein beanspruchte, zumindest in die Nähe des Terrorismus gerückt wurde.

Tatsächlich zielt Erdogan derzeit in andere Richtung: Terroristen, Putschisten, Plünderer und Marodeure sind für ihn und seine Anhänger jetzt die Demonstranten, die sich – überwiegend friedlich – seinen Plänen widersetzen. Angeklagt werden Aktivisten wie der Leiter der Greenpeace-Kampagne gegen den Bau von Atomkraftwerken in der Türkei, vorübergehend festgenommen wurde auch die Generalsekretärin der Istanbuler Architektenkammer und der Präsident der Ärztekammer. Die Staatsanwaltschaft klagt Mitglieder der Plattform »Taksim Solidarität« wegen angeblicher Gründung einer terroristischen Vereinigung an. Und wer sich von der Androhung strafrechtlicher Konsequenzen nicht einschüchtern lässt oder sich gar dagegen auflehnt, dem lässt der Regierungschef das Recht nach seinen Vorstellungen wie am Sonnabend mit Tränengas und Gummigeschossen nahebringen.

** Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013 (Kommentar)


Wendehals

Yigit Bulut ist der neue Chefberater des türkischen Premiers ***

Nach den Auseinandersetzungen um den Gezi-Park hat sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen neuen Chefberater zugelegt – den Journalisten Yigit Bulut. Der steht nicht für ein politisches Umdenken, ist aber höchst wandlungsfähig.

Der 41-Jährige hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich. Sein Vater war konservativer Abgeordneter, der Sohn absolvierte das Galatasaray-Gymnasium, eine der Eliteschulen der Türkei. Darauf studierte Bulut an der Sorbonne in Paris Ökonomie. Als Kolumnist der Zeitung »Vatan« des mächtigen Medienunternehmers Aydin Dogan, mit dem er durch Heirat entfernt verwandt wurde, nahm er die Regierung Erdogan schonungslos aufs Korn. Regierungsanhänger munkelten, Yigit Bulut müsse dem Geheimbund Ergenekon angehören, der Erdogan stürzen wolle.

Dann präsentierte das Finanzministerium den Dogan-Medien eine Steuernachforderung – mit Bußgeldern und Zinsen über zwei Milliarden Euro. Der renitente Konzern ging in die Knie. Yigit Bulut besuchte den regierungsnahen Sektenführer Fethullah Gülen in den USA, wechselte den Arbeitgeber und ließ sich scheiden.

Als Chefredakteur des Nachrichtensenders »Kanal 24« und Kolumnist der regierungsnahen Zeitung »Star« stellte er sich fortan hinter jede Entscheidung Erdogans. Bulut machte auch für ein konservatives, antiwissenschaftliches Weltbild mobil. So behauptete er, Darwins Evolutionstheorie diene nur dazu, »Kinder im frühen Alter vom Wege abzubringen«. Damit sollten »ungläubige Generationen« hervorgebracht werden.

Im Konflikt um den Gezi-Park lief Bulut zu voller Größe auf. Er untermauerte Erdogans These, die Proteste seien von der »internationalen Zinslobby« inszeniert, mit der Auflistung zinssteigernder historischer Ereignisse. Im Fernsehen erklärte er: »Die Polizei geht zum Taksim, um denen am Taksim die Schädel zu brechen.« Dem Sender »A Haber« sagte er, es werde in »einigen Zentren an Telekinese, Einfluss aus der Entfernung und anderen Methoden« gearbeitet, um Erdogan zu töten. Drei Wochen später war er dessen Chefberater. Jan Keetman

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 16. Juli 2013


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