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Jagd auf Linke

Türkei: Hausdurchsuchungen durch Antiterroreinheiten in Istanbul. Dutzende Verhaftungen

Von Sükriye Akar und Thomas Eipeldauer *

In Istanbul reißt die Repressionswelle gegen linke Gruppen und Aktivisten nicht ab. In der Nacht zu Montag stürmten vermummte und schwerbewaffnete Polizisten mehrere Wohnungen und Vereinsräumlichkeiten in den Stadtteilen Gülsuyu, Sultangazi und Okmeydani. Der Tageszeitung Hurryiet zufolge sollen in etwa 1500 Beamte aus verschiedenen Spezialeinheiten, unterstützt von einem Helikopter, bei der Operation im Einsatz gewesen sein, 40 Menschen wurden verhaftet. Laut Polizeiangaben sollen mehrere Schußwaffen sichergestellt worden sein.

Hintergrund des erneuten Angriffs auf Strukturen der politischen Opposition ist die jüngste Eskalation der Auseinandersetzung zwischen revolutionären Gruppen und Drogengangs. Am vergangenen Donnerstag eröffneten Bandenmitglieder das Feuer auf eine Kundgebung linker Gruppen in Gülsuyu, ein 21jährige Aktivist der revolutionären Organisation Halk Cephesi (Volksfront), Hasan Ferit Gedik, starb.

Der Mord an dem jungen Sozialisten markiert den vorläufigen Höhepunkt eines Kampfes in den Armenvierteln Istanbuls, bei dem Banden aus dem Milieu der organisierten Kriminalität versuchen, militante linke Gruppen aus diesen »Gecekondus« zu vertreiben, um dort den Weg frei für ihre Version kapitalistischer Akkumulation zu machen: Drogenhandel, Prostitution, Baugeschäft und Vertreibung. Vor allem die Baumafia, der gute Beziehungen zur regierenden AKP von Tayyip Erdogan nachgesagt werden, kann sich dabei weitestgehender Immunität vor Strafverfolgung sicher sein. Denn Istanbul ist eine Metropole im Umbruch, das Geschäft mit der Gentrifizierung blüht. Immobilienhaie wie Ali Agaoglu, der angeblich zehntreichste Mann der Türkei, profitieren vom Aufkauf der Arbeiter- und Armenbezirke.

Den staatlichen Stellen wird von Anwohnern und Aktivisten vorgeworfen, die Aktivitäten der Kriminellen wenn nicht gar zu decken, so zumindest nicht entschlossen genug zu bekämpfen. »Die Sicherheitsbehörden, die bei anderen sozialen Problemen alle Macht des Staates nutzen, sind leider offenbar nicht dazu in der Lage, die Gangs in Gülsuyu zu besiegen«, kritisierte die Abgeordnete der kurdischen BDP Sebahat Tuncel nach dem Mord an Gedik.

Auch die jüngsten Razzien fügen sich in dieses Bild. Gesucht wurde nach jenen Männern und Frauen, die die Trauerfeier für Hasan Ferit Gedik mit roten Tüchern vermummt und mit Handfeuerwaffen und Kalaschnikows ausgestattet vor Übergriffen schützten. Ihnen wird, wie in solchen Fällen üblich, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, in diesem Fall der Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C), vorgeworfen. 14 Mitglieder von Halk Cephesi sitzen bereits in Haft, weil sie sich gegen die Banden zur Wehr setzten, ihnen drohen teils lebenslängliche Haftstrafen. Die sozialistische Organisation indes rechtfertigt ihr Vorgehen: »Keiner sollte diese Razzien damit legitimieren, daß Waffen gefunden wurden. In einem Land, wo der Staat es auf das Leben der Menschen abgesehen hat, wo Dutzende Menschen massakriert werden, ist es legitim, bewaffnet oder unbewaffnet Widerstand zu leisten«, hieß es in einer Pressemitteilung vom Montag.

Zudem erheben Angehörige und Freunde Gediks schwere Vorwürfe gegen staatliche Stellen. So sollen Beamte Beweisstücke unterschlagen haben. Die Kleidung des Ermordeten ist verschwunden, in den Asservaten der Polizei wird sie nicht geführt. Im Internet kursiert ein Video, das zwei mutmaßliche Zivilbeamte dabei zeigt, wie sie verkleidet als Techniker Gegenstände aus dem Krankenhaus entwenden und dabei von einer wütenden Menschenmenge gestellt werden.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Oktober 2013


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