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Regierungspolitik der AKP Erdogans wie nach dem Militärputsch von 1980

DIE LINKE: "Quo vadis Türkei?"

Von Martin Dolzer *

Am Freitag, 30. März, lud DIE LINKE im Bundestag zu einer Anhörung unter dem Titel »Quo vadis Türkei? – Menschenrechte und Demokratie oder imperiale Großmachtpolitik« in einen Tagungsraum des Bundestages ein. Deutlich wurde im Verlauf der Tagung, dass die Regierung Recep Tayyip Erdogans, nachdem die religiös-konservative AKP ihre Macht in zehn Jahren Regierungszeit festigen konnte und mittlerweile sämtliche gesellschaftlichen Eliten durchsetzt hat, die Repression nach Innen, gegen die politische Opposition, kritische JournalistInnen und die Gewerkschaften verschärft.

Mehr als 6500 kurdische Oppositionelle ließ die Regierung seit den Kommunalwahlen 2009 im Rahmen der KCK Verfahren verhaften, zusätzlich 500 weiter Linksoppositionelle. Die AKP verfolgt eine feudalistisch-islamische Politik in neoliberaler Form zu Ungunsten der Werktätigen, der Frauen sowie der religiösen und ethnischen Minderheiten, so der Konsens der ReferentInnen. Der zentrale Aspekt einer Demokratisierung der Türkei, so wurde in den Redebeitragen klar, wären die friedliche Lösung der kurdischen Frage sowie die Stärkung der Rechte der Werktätigen und der Minderheiten. Die staatliche Eskalation von Repression und Gewalt habe sich in den letzten Jahren erneut den Zeiten nach dem Militärputsch und in den neunziger Jahren angenähert, so die RednerInnen unisono.

AlevitInnen unterdrückt

Ercan Geçmez, der Vorsitzende der Alevitischen Gemeinde, beschrieb, wie die AlevitInnen auch in den letzten Jahren staatlicherseits unterdrückt und angegriffen werden, und die Aufarbeitung des Massakers von Sivas im Jahr 1993, bei dem 37 Menschen starben, seitens der jetzigen Regierung blockiert wird. Selahattin Demirtaş, Vorsitzender der Partei und Fraktion der Demokratischen Friedenspartei (BDP) betonte, dass die AKP ein monolithisches System ohne Toleranz für Andersdenkende errichtet hat. „Wenn jemand in den kurdischen Provinzen die BDP wählt, muss er oder sie danach damit rechnen verhaftet zu werden. Oft werden auch ganze Ortschaften bedroht. Das hat mit Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn nichts zu tun“, so der ehemalige Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Insan Haklari Dernegi (IHD). „Im Dezember wurden 34 Zivilisten in Roboski/Uludere vom Militär massakriert. Die KurdInnen streben dagegen einen Friedensdialog zwischen dem Staat, Abdullah Öcalan und der PKK sowie die demokratische Organisierung der KurdInnen und sämtlicher Bevölkerungsgruppen in der Türkei an. Sie fordern das Recht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden zu können.“

Die AKP spreche zwar von einem Dialog, verlange aber von der BDP, dass diese sich von der PKK distanziere. Das sei jedoch unmöglich, da ein großer Teil der Bevölkerung sich mit der PKK verbunden fühle und die Menschen die BDP gewählt haben, um ihre Interessen zu vertreten. Die Probleme der Türkei hätten ihre Ursprünge in der Kolonialpolitik und den geostrategisch motivierten künstlichen Grenzziehungen zwischen der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien im Jahr 1916. Zudem trage die EU mit ihrer wirtschaftlich orientierten Politik und mit Rüstungsexporten, sowie mangelndem politischen Druck auf die türkische Regierung zur Einhaltung der Menschenrechte eine Mitverantwortung dafür, wie die AKP agiert“, so der Politiker.

Ergenekon Bauernopfer

Levent Tüzel, fraktionsloser Abgeordneter des Wahlbündnisses »Arbeit, Freiheit und Demokratie« und Vorsitzender der Arbeiterpartei EMEP kritisierte die massive Repression gegen jede Opposition und beschrieb dass die KurdInnen und die Arbeitende Bevölkerung die Hauptleittragenden einer autoritären und verfehlten Regierungspolitik sind. „Die Ergenekonverfahren werden nicht zur Aufklärung von Unrecht durch Kräfte des Tiefen Staates genutzt, wie oft in Europa angenommen, sondern es werden lediglich um die Opposition zu schwächen einige Bauernopfer getätigt“, verdeutlichte Tüzel. Mustafa Türkel, Vorsitzender der Nahrungsmittelgewerkschaft Tek Gida Iş, berichtete, dass die Gewerkschaften sich nach dem Militärputsch von 1980 nur schwer von dem Versuch ihrer Zerschlagung erholt haben. „Auch die AKP schränkt das Recht der gewerkschaftlichen Organisierung immer weitergehender ein“, so Türkel. „Immer wieder wird gewerkschaftliche Arbeit mit Haft bestraft oder Demonstrationen oder Streiks werden angegriffen.“ Sultan Özer, von der Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS) und der Frauengruppe im Vorstand der Gewerkschaftskonföderation Türk-Iş kritisierte, dass derzeit mehr als 110 JournalistInnen inhaftiert sind. „Von Pressefreiheit kann nicht die Rede sein. Wie das Militär zuvor lässt auch die AKP nur bestimmte JournalistInnen bei Regierungserklärungen zu“, so Özer. "Wer die Wahrheit schreibt muss zunehmend mit Druck, Entlassung oder Inhaftierung rechnen."

Frauenfeindlich

Sämtliche RednerInnen kategorisieren die Regierungspolitik als chauvinistisch, militaristisch und frauenfeindlich. Der Austausch des Generalstabs könne nicht als Entmachtung des Militärs gesehen werden. Der neue Generalstabschef Necdet Özel wurde 1999 durch Funkaufzeichnungen überführt einen Befehl zum Chemiewaffeneinsatz gegeben zu haben. Jegliches menschenrechtliche Engagement als Terrorismus zu definieren sei ein klares Zeichen eines autoritären Staates, so ein Diskussionsbeitrag. Die Frauen werden seit der Regierungsübernahme immer weitergehend diskriminiert. Die Zahl der Ehrenmorde hat zugenommen. Die neue Bildungsreform wird sie noch weitergehend von der Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen isolieren. Auch die Transsexuellen und Homosexuellen werden systematisch ausgegrenzt. Seit 2002 haben sich auch die Übergriffe auf sie vermehrt. Lediglich das Wahlbündnis um die BDP fordere auf der politischen Bühne deren Rechte und fördere die Rechte der Frauen.

Mehr als 2000 Kinder in Haft

„Die Inhaftierung von Kindern verstößt gegen die UN Kinderrechtsresolution. Mehr als 2000 Kinder sind in der Türkei inhaftiert. Diejenige Journalistin, die darüber schrieb, dass im Gefängnis von Pozanti Kinder von Wärtern und erwachsenen Mithäftlingen systematisch misshandelt und vergewaltigt wurden, sitzt seitdem wegen vermeintlicher Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Gefängnis, das ist mehr als zynisch“, ergänzte die Seniorenpolitische Sprecherin der Linken, Heidrun Dittrich. In der Begrüßung und im Schlusswort hoben Gregor Gysi, der Vorsitzende der Fraktion die Linke im Bundestag, und Andrej Hunko, MdB der Linken, die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Türkei und der Solidarität mit der türkischen Linken und der kurdischen Bewegung hervor. „Ich habe in den letzten zwei Jahren achtmal die Türkei bereist, für den Europarat die Wahlen im Juni beobachtet, sowohl mit zahlreichen Regierungs- und OppositionsvertreterInnen gesprochen als auch mutmaßlich aus politischen Gründen Inhaftierte in den Gefängnissen besucht. Leider muss ich den Befund dieser Konferenz bestätigen: Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung verschlechtert sich die Menschenrechtslage in der Türkei, und der Demokratisierungsprozess ist rückläufig. Als Berichterstatter für die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU musste ich immer wieder feststellen, dass Demokratie und Menschenrechte in den Gesprächen kaum eine Rolle spielen. Das muss sich dringend ändern. Ein zentrales Problem scheint mir der auch kulturell verankerte Homogenisierungs- und Zentralisierungsanspruch im türkischen Staatsverständnis zu sein. Minderheitenkonflikte neigen so zur schnellen Eskalation. Der türkisch-kurdische Konflikt kann nicht auf militärischem oder repressivem Weg gelöst werden. Bundesregierung und die EU sind aufgefordert hier ihre Beihilfe einzustellen“, so Andrej Hunko.

Hungerstreiks

Zurzeit befinden sich in der Türkei 400 politische Gefangene seit 1 ½ Monaten im Hungerstreik. In Straßburg begannen, wie die NRhZ berichtete, 15 kurdische Intellektuelle und PolitikerInnen am 1. März ebenfalls mit einem unbefristeten Hungerstreik und solidarisierten sich mit deren Forderungen: Anerkennung Abdullah Öcalans als Verhandlungspartner in einem Friedensdialog und Freilassung der 6500 im Rahmen der KCK Verfahren Inhaftierten politischen Gefangenen. KCK steht für "Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans" (Koma Civaken Kurdistan).

In mehreren Redebeiträgen einer regen Diskussion wurde die Rolle der EU und er USA analysiert, die aufgrund der Orientierung auf die Sicherung der Ressourcen im Mittleren Osten, militärische Varianten der Konfliktlösung einem möglichen Dialog vorziehen. Die Türkei diene sich, in diesem Rahmen, neben eigenen neo-osmanischen Ambitionen, hauptsächlich den Regierungen der USA und der EU an und könne deshalb jenseits von Menschenrechten und Völkerrecht agieren. (PK)

* Quelle: Online-Flyer Nr. 349 vom 11.04.2012; NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung; http://www.nrhz.de

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