Die Türkei am Scheideweg
Erdogans Regierung laviert zwischen Europa, Nationalismus und Islam
Von Jan Keetman, Istanbul*
Jahrelang hat man still gehalten, doch nun scheint sich wachsender Unmut im gemäßigt-islamischen
Regierungslager der Türkei auszubreiten. Man ist zwar an der Macht und hat dank der speziellen türkischen Wahlgesetze eine satte Mehrheit
im Parlament, aber trotzdem müssen die inneren Überzeugungen gezügelt werden, um nicht gegen
die harte Schale von Atatürks laizistischer Republik zu stoßen.
Nun sind überall kleine Zeichen des Unmutes zu erkennen. Da kaut ein Kreisvorsitzender der
Regierungspartei AKP bei einer Kranzniederlegung für Atatürk demonstrativ ein Kaugummi oder tut
zumindest so – Experten haben der Kaugummi-These mittlerweile widersprochen, die Aussagen des
Kauers selbst sind widersprüchlich. Doch man wäre nicht in der Türkei, wenn der Mann nicht wegen
des Verdachts, Atatürk geschmäht zu haben, in Untersuchungshaft säße. Für sich wäre der Vorfall
eine Anekdote aus der Provinz, doch landauf, landab spürt man das Aufbegehren der AKP-Kader.
Auf Kongressen herrscht zwar keine Kleiderordnung wie in Iran, aber die Sitzordnung ist die gleiche:
Frauen und Männer streng nach Blöcken getrennt.
Im Istanbuler Vorort Tuzla verteilte die Stadtverwaltung an Brautpaare ein Buch über islamische
Ehen. Darin ist zu lesen, dass man Mädchen mit neun Jahren verheiraten und dass der Ehemann
seine Frau schlagen darf, wenn keine bleibenden Spuren entstehen. Der Autor, ein Professor der
Theologie, argumentiert auch, dass bei Ehen zwischen nahen Verwandten keine Bedenken
bestehen, denn sonst wären sie ja im Koran verboten.
Andere Rathäuser tun sich damit hervor, dass sie Ausstellungen organisieren, in denen »Beweise«
gegen Darwins Lehre vorgetragen werden. Etwa die Tatsache, dass Haifisch und Garnele über
lange Zeit äußerlich unverändert geblieben sind. Ismet Berkan, Chefredakteur der linksliberalen
Zeitung »Radikal«, vergleicht die AKP-Regierung mit der Regierung des Islamisten Necmettin
Erbakan, der 1997 vom Militär aus dem Amt gedrängt wurde. Wie Erbakan versuche Recep Tayyip
Erdogan nun gleichzeitig als Wahrer des Status quo und als proislamisch aufzutreten. Doch bei allen
Zugeständnissen an das Militär könne er es doch nicht gewinnen.
Zu diesen Zugeständnissen gehört vor allem ein hartes Anti-Terrorgesetz, das die Meinungsfreiheit
beschneidet. Es fehlt nicht an Warnungen aus der EU wegen dieses Gesetzes und anderer
Kritikpunkte. Außenminister Abdullah Gül versichert dagegen fleißig, dass die Türkei auf EU-Kurs sei
und noch vor der Sommerpause weitere Reformgesetze durchs Parlament bringen werde.
Trotzdem ist die EU-Müdigkeit zu spüren. Einen großen Teil davon haben die EU-Staaten mit ihrer
Reserviertheit gegenüber dem türkischen Beitrittsbegehren selbst zu verantworten. Warum sich
mühen, wenn die Türe doch immer geschlossen bleiben wird? Erdogan selbst hat wohl auch die
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes gegen den Rechtanspruch, religiöse Symbole wie
das Kopftuch zu tragen, nicht verwunden. Damit ist die Hoffnung zerstoben, die restriktiven Gesetze,
mit denen Atatürks Republik den politischen Islam in Schach hält, durch die EU-Hintertür zu
umgehen.
Mit seinem Schwanken zwischen Islam, Nationalismus und Europa verliert Erdogan nach allen
Seiten Vertrauen. Noch steht er weit besser da als einst Erbakan. Da sind insbesondere seine
ökonomischen Erfolge. Nach 30 Jahren ist die Inflation so gut wie besiegt. Letztes Jahr wuchs die
Wirtschaft um 7,6 Prozent. Doch selbst das türkische Wirtschaftswunder zeigt die ersten Kratzer. Im
April sind die Preise trotz einer Steuersenkung für Textilien so stark angestiegen wie schon lange
nicht mehr. Der Verlust von 700 000 Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft und das hohe
Bevölkerungswachstum haben dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeit trotz des
Wirtschaftswachstums weiter zugenommen hat.
Erdogan kann darauf vertrauen, dass die Wirtschaft trotzdem alles in allem weiter rund läuft und die
Wähler dies im Herbst 2007 honorieren. Oder er kann eine von drei Karten ziehen: die Konjunktur
mit staatlichem Geld noch weiter ankurbeln; den Nationalismus hofieren – oder den Islam. In alle
drei Richtungen sendet Erdogan derzeit Signale aus, und es besteht die Gefahr, dass aus allen drei
Richtungen unerwünschte Antworten kommen: Eine Aufweichung der gerade erst gewonnen
Stabilität der Lira, eine Krise mit der EU wegen Zypern, ein Erstarken radikaler Strömungen des
Nationalismus oder des Islam.
* Aus: Neues Deutschland, 11. Mai 2006
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