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"Die Türkei kann sich alles erlauben"

Alle Welt spricht von dem Massaker Israels in Palästina, Phosphorbomben auf Kurden werden aber ignoriert. Gespräch mit Feleknas Uca

Feleknas Uca (Die Linke) ist jesidische Kurdin und seit 1999 Mitglied des ­Europäischen Parlaments



Auf der Stuttgarter »Konferenz zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage« haben Sie am Wochenende die Doppelzüngigkeit der Türkei gegenüber dem israelischen Massenmord an den Palästinensern im Gazastreifen kritisiert. Was meinten Sie damit?

Ministerpräsident Recep Erdogan präsentiert sich als »arabischer« Führer, der das palästinensische Volk unterstützt. Doch das sind nur Lippenbekenntnisse. Er hat sich noch vier Tage vor den Bombenangriffen mit Vertretern der israelischen Regierung getroffen.

Einer Ihrer Koreferenten meinte, Erdogan verhalte sich deshalb so ambivalent, weil die Türkei israelische Waffen zur Bekämpfung der Kurden einsetze.

Das ist richtig. Erdogan braucht die Beziehungen zu Israel.

Doppelzüngigkeit werfen Sie der türkischen Regierung aber auch im Hinblick auf den Umgang mit Ihrem Volk, den Kurden, vor.

Ist es nicht merkwürdig? Die Türkei will der EU beitreten – unterhält dabei aber einerseits enge Kontakte zur Hamas, die auf der EU-Terrorliste steht, andererseits lehnt es die türkische Regierung ab, mit den demokratisch gewählten Vertretern der Kurden im Parlament oder mit kurdischen Bürgermeistern überhaupt zu reden. Erdogan gibt den Vertretern der kurdischen Partei DTP im Parlament nicht einmal die Hand. Mehr als 4000 kurdische Dörfer wurden von der Türkei zerstört, und nur der neu geschaffene Staatssender TRT 6 darf in kurdischer Sprache senden – allen anderen ist es verboten. Sogar die Verwendung von Wörtern ist verboten, die die im kurdischen, aber nicht im türkischen Alphabet enthaltenen Buchstaben q, x und w enthalten.

Wie beurteilen Sie die Rolle der EU in der Kurdenfrage?

Seit über einem Jahr wird die kurdische Region im Irak bombardiert, auch mit Phosphorbomben. Bis heute gab es deswegen keinen Aufschrei in der Weltöffentlichkeit – so wie es jetzt bei den israelischen Angriffen auf die Palästinenser im Gazastreifen geschieht. Doch im Falle der Kurden schweigt die EU.

Die EU hat auch die Kurdische Arbeiterpartei PKK und ihren politischen Flügel KONGRA-GEL auf die Terrorliste gesetzt. Der Europäische Gerichtshof verlangte inzwischen ihre Streichung. Sie aber gehen noch einen Schritt weiter und fordern: Die EU-Terrorliste muß weg.

Schon die Definition von Terrorismus ist völlig diffus. Staatsterror z.B. taucht darin gar nicht auf. Ich lehne die Liste deshalb ab.

Was halten Sie von der Forderung Ihres Koreferenten Andreas Buro, die PKK solle auf den bewaffneten Kampf verzichten? So nähme sie der Türkei den Vorwand, die Kurden als Terroristen zu bekämpfen. Und die EU wäre dann sicher auch bereit, die PKK von der Terrorliste zu streichen.

Die PKK hat mehrmals einen einseitigen Waffenstillstand erklärt, sie hat jahrelang keine bewaffneten Auseinandersetzungen initiiert. Trotzdem hat die türkische Regierung darauf nicht positiv reagiert und keine Lösungsansätze vorgeschlagen. Ich lehne Gewalt ab, von welcher Seite auch immer. Gewalt darf und kann kein Mittel zur Lösung von Konflikten sein. Doch bevor man immer nur auf die Kurden zeigt, sollte man der Türkei den Spiegel vorhalten. Ich erinnere nur an Leyla Zana, die zehn Jahre im Gefängnis saß und der das Europäische Parlament 1995 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen hat. Kaum war sie aus dem Gefängnis heraus, wurde sie noch einmal mit einem Verfahren überzogen und schließlich zu 55 Jahren Haft verurteilt – nur weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat. Sie hat inzwischen gegen das Urteil Berufung eingelegt.

Hat das Europäische Parlament oder eine europäische Regierung protestiert?

Überhaupt nicht. Die Türkei kann sich alles erlauben. Wir haben im Dezember im Europäischen Parlament fraktionsübergreifend 47 Unterschriften für eine Petition an den türkischen Ministerpräsidenten gesammelt, und wir haben auch das Parlament aufgefordert, sich für Leyla Zana einzusetzen. Doch die Europäische Union schaut wieder stillschweigend zu, wie in der Türkei Menschenrechte mit Füßen getreten werden.

Interview: Alexander Bahar

* Aus: junge Welt, 20. Januar 2009


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