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Händeschütteln unterm Tisch

Weshalb will die türkische Armee im Nordirak einmarschieren? Es kann kaum wegen der RebellInnen der kurdischen Arbeiterpartei PKK sein. Es geht auch um den Status der Erdölstadt Kirkuk.

Von Karin Leukefeld, Dohuk *

Das vornehme Hotel Jiyan liegt auf einem Hügel oberhalb der Stadt Dohuk im kurdischen Nordirak. Leise dringt Hupen, Musik und Lachen von der Strasse herauf. Es ist Freitag, der muslimische Feiertag, die Menschen sind in Ausgehstimmung. Dohuk ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und gehört zur ­Region Kurdistan der Irakischen Republik. Noch vor wenigen Jahren war Dohuk eine Kleinstadt, Handelszentrum für die umliegenden Dörfer, willkommener Rastplatz für Reisende. Heute ist Dohuk eine Millionenmetropole mit internationalem Flughafen, Universität, Krankenhäusern, Firmengebäuden mit glänzenden Fassaden und Dutzenden neuer Hotels.

«Alles ruhig»

Weil Dohuk nur etwa sechzig Kilometer Luftlinie vom türkisch-irakischen Grenzübergang Habur entfernt liegt, ist das Hotel ein Stützpunkt für Journalist­Innen, die im kurdischen Nordirak auf einen neuen Krieg warten. Auch ein US-amerikanischer Polizeiausbilder ist in dem Fünfsternehotel untergebracht. «Alles ruhig», meldet er. Weder türkische Panzer noch Truppen seien bisher beim Überqueren des Grenzflusses beobachtet worden. Kein Wort verliert er über die türkischen Kampfhelikopter, die die Lager der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den entfernten Kandilbergen attackieren und die mit Informationen von US-Aufklärungsflugzeugen versorgt werden. Seit 1991 marschierte die türkische Armee 24-mal in den kurdischen Nordirak ein mit dem Ziel, die PKK-Guerilla zu zerschlagen.

Mithilfe der irakischen Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) von Massud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, waren die türkischen Truppen manchmal bis zu 120 Kilometer weit ins Landesinnere vorgestossen. Doch diesmal wehrt sich Barzani vehement gegen einen türkischen Einfall, die kurdische Regionalregierung hat viel zu verlieren.

Nur ein Vorwand

Wen immer man fragt, im nordirakischen Kurdistan sind alle überzeugt, dass die Medien die Kriegsgefahr aufbauschen. Vor allem die türkischen Medien rührten die Kriegstrommel, meint Mohamed Taufik, von 1992 bis 1996 Minister für Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten. Es handle sich um einen internen Konflikt der Türkei, der seit 23 Jahren bestehe. Gleicher Meinung ist auch Falah Mustafa, Leiter der Abteilung für Auswärtige Angelegenheiten der Kurdischen Regionalregierung in Erbil. Ankara könne seinen Konflikt mit der PKK «nicht militärisch lösen», sagt er. Sollte das türkische Militär die PKK «zum Vorwand für eine Invasion nehmen und die irakische Souveränität verletzen», sei das nicht zu entschuldigen. Eine türkische Militäroperation setze «alles aufs Spiel, was die Iraker geschaffen haben». Noch sei Kurdistan ruhig, doch das werde sich bei einem Einmarsch türkischer Soldaten schlagartig ändern. Die Medien, meint Falah Mustafa, sollten berichten, wie wichtig den Kurden die guten Beziehungen zur Türkei seien, jeder Konflikt lasse sich im Dialog lösen.

So wurden in einer Blitzaktion am vergangenen Wochenende in den drei kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimania alle Büros und Einrichtungen der PKK und ihr nahestehender Organisationen geschlossen. Festnahmen soll es nicht gegeben haben, obwohl die Türkei der irakischen Regierung eine Liste von mehr als hundert Personen vorgelegt habe, die entweder ausgeliefert oder inhaftiert werden sollen. Fast gleichzeitig liess die PKK auf Drängen der Regionalregierung acht Ende Oktober festgenommene türkische Soldaten frei und übergab sie medienwirksam einer Delegation der Kurdischen Volkspartei aus der Türkei.

Die Meinungen über die PKK gehen in der kurdischen Region des Nordiraks auseinander. Man könne die PKK als «Terroristen» bezeichnen oder als «Guerilla», sagt ein Geschäftsmann, der ungenannt bleiben möchte. «Sie repräsentiert einen Teil der Kurden und macht klar, dass die Welt den Kurden zuhören muss.» Für die USA sei die Anwesenheit der PKK in den Kandilbergen besser, als wenn sich dort die islamistische Ansar al-Islam niederliesse.

Für Mohamed Taufik, den früheren Entwicklungshilfeminister, ist die PKK nicht nur für die kurdische Region ein Problem, sondern auch für sich selbst. Die Organisation kämpfe nur noch um ihr politisches Überleben. Weniger ablehnend äusserten sich dagegen kurdische Organisationen aus der Türkei, im Iran, in Syrien und dem Irak, die auf Einladung des Kawa-Zentrums für kurdische Kultur Anfang November in Erbil an einem Seminar teilnahmen. Im Abschlussdokument wird die PKK als legitime kurdische Organisation bezeichnet, gleichzeitig aber aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und mit der Türkei einen Dialog aufzunehmen. Sollte sie dazu nicht bereit sein, solle sie das irakische Kurdistan verlassen. Die Position entspricht der offiziellen Linie der kurdischen Regionalregierung.

Der wahre Grund

Doch der Druck der Türkei auf die kurdische Regionalregierung wegen der PKK wird von irakischen KurdInnen nur als Vorwand gesehen. Tatsächlich wolle die Türkei verhindern, dass im November die KurdInnen darüber abstimmen können, ob die Öl­metropole Kirkuk den kurdischen Provinzen einverleibt werden soll. Dieses Referendum wird vom Artikel 140 der irakischen Verfassung garantiert. Die Türkei betrachte das Referendum allerdings als einen ers­ten Schritt für ein unabhängiges Kurdistan, wodurch die türkischen KurdInnen ermuntert werden könnten, es den irakischen gleichzutun. Die irakische Regierung ihrerseits möchte das Land zusammenhalten.

Kadir Aziz sitzt in Bagdad, um im Auftrag des kurdischen Präsidenten Barzani die Diskussion in der zuständigen Kommission zur Umsetzung von Artikel 140 zu beobachten. In der Kommission wird heftig gestritten. Seit den Wahlen von 2005 haben sich die gegensätzlichen Positionen nicht einen Schritt angenähert, doch von einem Stillstand will Aziz nicht sprechen. «Wir diskutieren täglich, wöchentlich, permanent», sagt er. Vor allem die Sadr-Bewegung und die SunnitInnen seien gegen das Referendum, sagt Aziz. Die Dawa-Partei von Ministerpräsident Nuri al-Maliki sei gespalten, lediglich der Hohe Islamische Rat für den Irak unterstütze die KurdInnen.

Der ausländische Einfluss spiele eine grosse Rolle, fährt Aziz fort. Vor allem die Türkei und Saudi-Arabien seien gegen das Referendum. «Kirkuk ist das Herz Kurdistans», sagt er. Die Stadt werde von «den Arabern» - womit die irakische Regierung gemeint ist - aus strategischen Gründen beansprucht. Und genau darum würden die Kurden die Stadt nie aufgeben. Auch Khanaquin, Makhmur und Sinjar gehörten zu Kurdistan. Kirkuk werde nur den Anfang machen.

Die Politik der kurdischen Regionalregierung gegenüber Bagdad und der Türkei ist unter KurdInnen umstritten. Von einer Mischung aus Betrug, Lüge und Täuschung spricht der chaldäisch-katholische Pater Denha Toma aus Sulaimania. «In der Öffentlichkeit greifen sie sich gegenseitig an, aber unter dem Tisch schütteln sie sich die Hände.» Mit der drohenden Gefahr einer türkischen Invasion könne die Regionalregierung die Bevölkerung hinter sich scharen, sagt ein Gemeindemitglied beim gemeinsamen Kaffeetrinken nach der Sonntagsmesse. Die emotionale Mobilisierung gegen die Türkei sei wichtig, gerade weil die kurdische Regionalregierung innenpolitisch massiver Kritik ausgesetzt sei.

Keine Bomben reicht nicht

Tatsächlich klagen viele über die enorme Korruption in der Politik und Verwaltung von Kurdistan. Eine Umfrage der englischsprachigen Monatszeitung «Soma» von Anfang Oktober ergab, dass eine Mehrheit der Befragten von Regierung und Ministerien wenig hält. «Abgesehen von der kurdischen Polizei ASAISH, die viel für die Sicherheit und den Schutz der Leute tut, sind die anderen zu nichts nutze», meint der Arbeitslose Amanj Hassan.

Die KurdInnen hätten eine bessere Führung verdient, meint auch Mohamed Taufik, der im Sommer 2006 aus Kritik an der politischen Führung seinen Sitz im Politbüro der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) aufgab. Eine Opposition innerhalb der PUK habe versucht, die politischen Strukturen im irakischen Kurdistan zu reformieren, doch sie seien an der korrupten Schicht in der Regierung gescheitert, sagt Taufik. Nach 2003 habe sich der Etat der Regionalregierung versiebenfacht und betrage heute sieben Milliarden US-Dollar im Jahr. Das Geld komme zu 96 Prozent aus Bagdad, so Taufik. Dabei handelt es sich vor allem um Entwicklungsgeld aus den USA, das als Wiederaufbauhilfe deklariert ist. Dazu kommen Erträge aus dem Erdölverkauf. Doch anstatt die Strom- und Wasserversorgung zu erneuern, Krankenhäuser und Schulen auszubauen oder die Landwirtschaft zu unterstützen, habe die Regierung ihren Machtapparat erweitert. Bis zu siebzig Prozent des Etats fliesse in Gehälter für Staatsangestellte. An einem solchen System wolle er nicht teilhaben, sagt Taufik. Sicherheit und Stabilität in den kurdischen Provinzen seien zwar besser als im Rest des Landes, «doch die Tatsache, dass hier nicht zwanzig Bomben am Tag explodieren, reicht nicht».

Auf dem Weg von Palästina

Nur knapp dreihundert Kilometer trennen den kurdischen Norden vom Zentralirak, trotzdem erscheint das irakische Kurdistan wie eine andere Welt. Drei Flughäfen verbinden die Kurd­Innen mit arabischen und europäischen Metropolen wie Dubai und Frankfurt, die von aussen kommende Modernisierung schreitet rapide voran. Geld wird vor allem im Baugeschäft gemacht. Apartmenthäuser und Wohnsiedlungen sind hochgezogen worden und locken mit Namen wie «Dream Land» oder «American Village». Es sind bisher unbewohnte Geisterstädte geblieben, weil für die Mehrheit der Bevölkerung die Mieten unerschwinglich sind und weil bei vielen die Strom- und Wasserversorgung fehlt.

Diese Schildbürgerstreiche, die so manches Baukonsortium reicher gemacht haben dürften, sind symptomatisch für das irakische Kurdistan. Bunt angemalte Tankstellen warten auf die Eröffnung, TouristInnendörfer warten auf BesucherInnen. In Erbil, Hauptstadt und Sitz der Regionalregierung, wird der Verkehr über holprige Strassen und durch ärmliche Viertel umgeleitet, die massive Zitadelle im Zentrum verschwindet hinter Kränen. Ein neues Einkaufszentrum steht weitgehend leer. Neue Supermärkte sind zwar voll mit ausländischen Waren: Schokolade aus der Schweiz, Kekse aus Malaysia, Besteck aus Japan und Fruchtsaft aus dem Libanon. Doch nur wenige kaufen.

Kurdistan sei keine «produzierende Gesellschaft» mehr, sagt der ehemalige Entwicklungsminister Mohamed Taufik, sondern zu einer «Konsumgesellschaft» geworden. Wenn das so weitergehe, werde aus dem irakischen Kurdistan eine Gesellschaft wie in Palästina: unproduktiv, mit einer korrupten Führung und abhängig von ausländischem Geld.

Karin Leukefeld



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 8. November 2007


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