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Ein neuer Weg für die Türkei:

Die Regenbogenpolitik

Von Nilüfer Koç *

Die Resultate der Wahlen in der Türkei am 12. Juni werden immer noch politisch kommentiert. Sowohl die türkischen als auch die internationalen Presse- und Medienorgane versuchen sich die neue politische Konstellation mit ihren künftigen Auswirkungen auszumalen. Bei den Wahlen in der Türkei handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Zusammentreffen politischer Parteien. Angesichts der ungelösten kurdischen Frage, aber auch der wachsenden Rolle der Türkei in dem Unruheprozess im Mittleren Osten und in Nordafrika mit seiner globalen Bedeutung ging es bei diesen Wahlen um vieles mehr. Denn im Wahlkampf konkurrierten nicht wie üblich politische Parteien um Parlamentssitze, sondern es wurde ein intensiver Kampf zwischen zwei wesentlichen politischen Linien ausgefochten, die für die Zukunft des Landes entscheidend sein werden. Gegen die traditionelle Machtpolitik der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) stand die BDP (Partei für Frieden und Demokratie) mit ihrem Wahl-„Bündnis für Arbeit, Demokratie und Freiheit“. Im politischen Klartext haben zwei Realitäten der Türkei gekämpft. Gegen die 87-jährige Staatsideologie der türkischen Republik „eine Nation, eine Flagge, eine Sprache, ein Glauben, ein Geschlecht“, die heute von der AKP führend vertreten wird, stand die Regenbogenpolitik der BDP. Die gewählten 36 Abgeordneten aus dem BDP-„Bündnis für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ spiegelte im wahrsten Sinne des Wortes ein breites kulturelles und politisches Spektrum des Landes wider. Unter ihnen Frauen, Kurden, Türken, ein Christ, Vertreter der türkischen Sozialisten, kurdische Traditionalisten, religiös geprägte Politiker und Modernisten. Kurzum, ein kleines Profil der Türkei mit ihrer politischen und kulturellen Vielfalt.

Die AKP hat gewonnen, da sie die gesamte Staatsmacht im Wahlkampf gegen den eigentlichen Kontrahenten, das Wahlbündnis, eingesetzt hat. Aber auch, weil sie aufgrund des instrumentalisierbaren Islam wichtig ist für die internationale politische Machtbalance im Kampf gegen die arabischen Völker. Die westlichen Mächte, allen voran die USA, brauchen erneut die AKP als Polizisten der Region.

Die gesamte Staatsmacht hat die AKP gegen die BDP aufgefahren. Allein seit Mai sind mehrere Tausend politische Aktivisten der BDP festgenommen worden. Hinzu kommen die ununterbrochenen Militäroperationen zur Einschüchterung der Kurden. Die verbalen Beleidigungen und die rassistische Verleumdungspolitik gegen die Kurden und sexistische Äußerungen gegenüber Frauen bildeten die Grundlage der AKP-Wahlpropaganda. Diese Attacken zeugten aber auch von der Angst, in Kurdistan nicht die erhofften Resultate zu erzielen. Die AKP erhielt auch internationale Rückendeckung. Knapp eine Woche vor der Wahl ließ die französische Regierung die Polizei in einer „Nacht-und-Nebel-Aktion“ ohne geringsten Grund gegen kurdische Institutionen und Persönlichkeiten in Paris vorgehen. Kurz vorher hatte der französische Staatspräsident Sarkozy Erdoğan informiert, dass er ihm eine Überraschung präsentieren würde. Die Überraschung war der Angriff auf die kurdischen Vereine, an einem Wochenende, an dem kurdische Familien mit ihren Kindern zu kulturellen und sozialen Aktivitäten zusammenkommen. Bilder und Fernsehaufnahmen der polizeilichen Aggression ähnelten denen aus Kurdistan. Das Schweigen der EU gegen die ungesetzlichen und willkürlichen Festnahmen Tausender kurdischer Politiker und Politikerinnen durch die Polizei in der Türkei war eine weitere Unterstützung für die AKP. Zudem profitieren dort alle anderen Parteien finanziell von der Staatskasse. Während dies der BDP verwehrt wird.

Der Wahlkampf war also nicht fair. Diese repressive Staatsmacht überwand das kurdische Volk mit einem historischen Erfolg. Historisch deshalb, da zum ersten Mal Vertreter der türkischen Sozialisten, Oppositionellen und Demokraten gemeinsam mit den Kurden Zukunftsperspektiven für die Türkei und Kurdistan formulierten, die sich jetzt in einem politischen Block verfestigen werden. Progressive Kräfte der Türkei sehen in der Dynamik des kurdischen Freiheitskampfes die demokratische Zukunft der Türkei. Dies ist von breiten Gesellschaftsschichten, vor allem den Intellektuellen, zu einer neuen Hoffnung erklärt worden. Historisch war diese Wahl auch deshalb, weil kurdische Parteien verschiedener politischer Auffassungen zusammenkamen und sich für eine nationale Einheit in Kurdistan aussprachen. Die Vertreter dieser Parteien suchten während des Wahlkampfs gemeinsam mit der BDP Vertreter der kurdischen Regionalregierung in Südkurdistan (Irakisch-Kurdistan) zwecks Unterstützung auf und kamen mit positiven Signalen zurück.

Diese beiden Bündnisse sind für die Zukunft der Türkei von besonderer Bedeutung. Da zum einen die kurdischen politischen Parteien im Rahmen der nationalen Einheit ihre Forderungen für die neue türkische Verfassung gemeinsam formulieren werden. Zum anderen aber werden die Kurden im gemeinsamen Kampf mit allen oppositionellen Kräften der Türkei eine demokratische Verfassung ins Visier nehmen. Federführend bei der Idee des Zusammenkommens der Kurden einerseits, der Kurden und Türken andererseits waren die Bemühungen Abdullah Öcalans. Über seine Anwälte hat er beharrlich seit Monaten die demokratische Alternative auf die politische Agenda zu setzen versucht und hat darüber ein beachtliches Vertrauen gewonnen.

Die monatelangen Aufrufe Abdullah Öcalans können natürlich nicht losgelöst von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Mittleren Osten und in Nordafrika gesehen werden. Und vor allem nicht von der erneuten Bedeutung des politischen Islam der AKP für den Mittleren Osten. Die AKP hat in den letzen beiden Jahren den Anschein einer „offensiven“ Politik nach innen unter dem Namen „demokratische Öffnungspolitik“ und nach außen als „null Probleme mit den Nachbarn“ verfolgt. Beide sind heute gescheitert. Aus diesem Grund auch war bis zum letzten Jahr Kritik aus Brüssel und Washington an der AKP lauter geworden. Der arabische Aufruhr in Ägypten, der sich später auf weitere Staaten ausbreitete, hat der AKP eine neue Chance geboten und sie vor ihrem kritischen Zustand wieder handlungsfähig gemacht. Während die USA den Angriff gegen Libyen mit Hilfe Frankreichs begannen, holten sie dann die Türkei mit ins Boot. Für eine Invasion in Syrien ist die Bedeutung der Türkei jetzt noch gestiegen. Die Politik der „null Probleme mit den Nachbarn“ wendet sich jetzt zu einer der „Feindschaft mit den Nachbarn“. Noch vor zwei Jahren erhielt Erdoğan einen Freundschaftpreis von Gaddafi. Jetzt ist er sein Feind. Auch hatte Erdoğan Baschar al-Assad letztes Jahr zum Freund erklärt. Heute bereitet die Türkei eine Invasion in Syrien vor. Vor allem in den kurdischen Teil Syriens, der direkt an die Türkei grenzt. Es wird jetzt an einem Konzept gearbeitet, das vorsieht, den syrischen Teil Kurdistans zu einer Pufferzone zu machen. Mit dem Iran hat die Türkei in den letzten Jahren mehrmals gemeinsame militärische Angriffe gegen die Guerilla der PKK unternommen. Jetzt berichten sämtliche iranischen Medien über die „türkische Gefahr“. Denn fällt Syrien, dann wird der Iran das nächste Ziel sein. Aus diesem Grund wird der Iran natürlich bemüht sein, Syrien zu unterstützen. Gestern wurden Erdoğan und die AKP von den Arabern als Freunde bejubelt. Er hatte eine große Show mit Krokodilstränen für Gaza inszeniert. Wie ein türkisches Sprichwort sagt, der Hut ist gefallen, man sieht jetzt die Glatze. Es ist ein Gewinn, dass die wahre Identität der AKP jetzt bei den Nachbarn sichtbar wird. Die Kurden haben dies sehr früh erkannt. So bezeugen das auch die Wahlresultate in Kurdistan.

Die entscheidenden Größen, die die AKP als gegenwärtige Aggressorin des Mittleren Ostens verhindern können, werden die Kurden und die demokratischen Kräfte in der Türkei sein. Denn die aktuelle AKP-Politik signalisiert deutlich, dass sie kriegsfördernde Politik in der Region vorantreiben wird. In diesem Kontext fällt sowohl dem kurdisch-kurdischen, aber auch dem türkisch-kurdischen Bündnis die Verantwortung für friedensstiftende Politik zu.

Die AKP als regionale Unruhestifterin kann in der Türkei gebremst werden. Das werden die Kurden tun, da sie die kurdische Frage gelöst haben wollen. Ihre Konzeption der Demokratischen Autonomie steht parat. Ihre Vorstellungen für eine demokratische Verfassung sind auch konkret und liegen schwarz auf weiß vor. Die AKP wird nicht mehr auf kurdisches Verständnis oder Toleranz wie in den letzten neun Jahren hoffen können. Ohne die Lösung der kurdischen Frage durch eine verfassungsrechtliche Verankerung des kurdischen Existenzrechts wird die AKP nicht frei agieren können. Auch wenn sie 100 % der Stimmen erhalten hätte.

Es wird jetzt auch sehr wichtig sein, ein kurdisch-arabisches Bündnis zu schmieden, da sowohl das kurdische als auch die arabischen Völker Demokratie und Freiheit wollen. Hierfür haben die kurdischen Parteien in Syrien bereits ihre Arbeit intensiviert. Im Mittleren Osten und in Nordafrika steht ein gesellschaftlicher und politischer Wandlungsprozess bevor. Es wird der Frühling des kurdischen und der arabischen Völker sein. Sie gehörten zu den Verlierern des I. Weltkrieges. Bei der Grenzziehung der arabischen Nationalstaaten wurden weniger die Interessen der Völker berücksichtigt. Dafür wurden sie von westlichen Mächten inthronisierten Königen, Mullahs, Scheichs unterstellt. Unterstanden aber auch Baath-Regimes mit ihrer Politik zugunsten der Sowjet-Interessen. Die Bürger oder die „Staatsbürger“ hatten zu schweigen. Jede kritische Stimme führte zu Tod, Folter oder Exil. Das Fass ist jetzt übergelaufen. Die arabischen Völker wollen die vor allem auch nach dem 11. September durch die Islamphobie verstärkte Erniedrigung nicht mehr hinnehmen. Es fehlt ihnen aber leider an organisierter Opposition. Da jede regimekritische Stimme bisher entweder im Exil landete oder im Grab. Die Kurden und der kurdische Freiheitskampf allerdings hatten bessere Voraussetzungen, da sie über eine Alternative verfügen. Über die Entkolonialisierung Kurdistans soll der Demokratisierungsprozess im Mittleren Osten aufgebaut werden. Für den Frieden und die Demokratie in den Schlüsselländern (Türkei, Iran, Syrien, Irak) des Mittleren Ostens brauchen die Kurden die Unterstützung der arabischen Völker. Und diese wiederum brauchen die Unterstützung des kurdischen Volkes. Die Hoffnung wächst, dass nach jahrzehntelanger Tragödie der Nationalstaaten die Völker ihre Geschichte schreiben. Die Kurden haben bereits damit begonnen.

Um Solidarität mit diesen Völkern zu leisten, ist es zunächst vital, ihren Willen und ihr Festhalten an Freiheit und Demokratie zu berücksichtigen. Es wird politisch fatale Folgen haben, wenn die gesamte Unruhe im Mittleren Osten und in Nordafrika als ein Konzept der USA gesehen wird, wie manche gern behaupten. Natürlich wollen die USA ihr Greater Middle East Project verwirklichen und nutzen hierfür jede Gelegenheit. So gießen sie Öl ins Feuer. Nach Irak, Afghanistan, Pakistan usw. wissen die Völker jetzt mehr über die USA. Die sind aber keine übermächtige göttliche Kraft. Schließlich haben sie nach der Irak-Invasion begriffen, dass es nicht so einfach ist, die Region problemlos zu belagern. Jetzt ziehen sie die EU-Staaten (vor allem Frankreich und Deutschland) und die Türkei mit in ihre Expansionspolitik hinein. Allein können sie den Plan des Großen Mittleren Ostens nicht umsetzen. Warum aber die EU mitmacht, ist fragwürdig. Denn Europa war ja die Kraft, die mit dem I. und dem II. Weltkrieg das Fundament der Tragödie für das kurdische Volk und die arabischen Völker gelegt hat. Und wie ersichtlich explodiert jetzt das alte europäische Projekt des Mittleren Ostens. Neues hat niemand zu bieten. Weder die USA noch die einzelnen EU-Staaten haben begriffen, dass Ungerechtigkeit irgendwann durch die gesellschaftliche Dynamik kontert. Die Türkei hat mit internationaler Rückendeckung 87 Jahre lang systematisch die Kurden zu vernichten versucht. Aber es ist ihr nicht gelungen. Auch die Verfolgung der Kurden in Deutschland und Frankreich hat nicht zu den erwünschten Resultaten geführt. Es bleibt die Frage, warum dies nicht eingesehen und verstanden wird. Eine plausible Antwort wäre vielleicht:
Die Macht macht krank und blind.

* Aus: Kurdistan Report Nr. 156, Juli/August 2011; www.nadir.org/nadir/periodika/kurdistan_report/


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