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Neue Etappe

Hintergrund. Die kurdische Frage nach der Parlamentswahl in der Türkei

Von Nick Brauns *

Es gäbe zwei Alternativen, hatte Abdullah Öcalan im Vorfeld der türkischen Parlamentswahlen vom 12. Juni erklärt. Entweder leite die Regierung einen offiziellen Lösungsdialog mit der kurdischen Seite ein; oder der Konflikt, der in den letzten Jahrzehnten bereits 40000 Menschenleben gekostet hat, eskaliere in einem auch auf die türkischen Städte übergreifenden »revolutionären Volkskrieg«. Dies ist keine leere Drohung, denn weiterhin sehen Millionen Kurden den seit seiner Verschleppung 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gefangen gehaltenen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als ihren politischen Repräsentanten.

Mit nahezu 50 Prozent der Stimmen konnte die seit Ende 2002 regierende islamisch-konservative AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan das dritte Mal in Folge bei einer Parlamentswahl deutliche Zugewinne verbuchen; doch mußte sie Stimmenverluste in den kurdischen Landesteilen hinnehmen. Großer Gewinner war hier der aus der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) gemeinsam mit 16 weiteren kurdischen und sozialistischen Parteien und Gruppierungen gebildete »Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit«.

Zugewinne für Kurden

Dem linkskurdischen Bündnis gelang es trotz massiver Repression und Wahlmanipulation zugunsten der AKP 36 – zur Umgehung der Zehnprozenthürde als »Unabhängige« angetretene – Kandidaten ins Parlament zu entsenden; zuvor waren es 20 Mandate gewesen. Neben bekannten Politikern der Freiheitsbewegung wie der früheren Abgeordneten Leyla Zana oder den Sprechern des aus kurdischen Zivilorganisationen gebildeten »Kongresses für eine demokratische Gesellschaft« (DTK), Ahmet Türk und Aysel Tugluk, wurden für den Block der aramäische Christ Erol Dora aus Mardin, einzelne konservative kurdische Intellektuelle wie der islamische Autor Altan Tan sowie erstmals seit den 60er Jahren wieder führende Vertreter der radikalen türkischen Linken gewählt: In Mersin etwa der frühere Studentenführer und Stadtguerillero Ertuqrul Kürkçü, in Istanbul der marxistische Regisseur Srr Süreyya Önder und der Vorsitzende der Partei der Arbeit (EMEP), Levent Tüzel.

Noch bei der vom Militär unter Putschdrohungen erzwungenen vorzeitigen Parlamentswahl 2007 war die AKP auch in den kurdischen Gebieten zur stärksten Partei geworden. Tatsächlich handelte es sich damals aber vielfach um »geliehene Stimmen« angesichts des damaligen Machtkampfes zwischen Erdogan und den Militärs. Doch kurz nach der Wahl hatten sich diese und die Partei des Ministerpräsidenten wieder geeinigt. Während die Generäle nicht länger eine Wahl des AKP-Kandidaten Abdullah Gül zum Staatspräsidenten blockierten, gab die AKP-Mehrheit im Parlament grünes Licht für Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nord­irak. Nach mehreren Luftangriffen begann die türkische Armee Anfang 2008 eine grenzüberschreitende Bodenoffensive, die sie nach einer Woche unter großen Verlusten abbrechen mußte. Dieser nach einem Grenzfluß benannte »Zap-Widerstand« der Guerilla gab der Befreiungsbewegung erneuten moralischen Auftrieb, der sich insbesondere in einem weiteren Anwachsen der zivilen Protestbewegung widerspiegelte. Die anfänglichen Hoffnungen vieler Kurden auf die AKP waren bereits zur Kommunalwahl im März 2009 verflogen, als die prokurdische Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) zur stärksten Kraft in den kurdischen Landesteilen wurde und fast 100 Bürgermeisterämter eroberte.

Auch die AKP konnte sich dieser Realität nicht verschließen. Einem Tabubruch kam es gleich, als Staatspräsident Abdullah Gül im Mai 2009 zugab: »Das Hauptproblem der Türkei ist die kurdische Frage.« Erdogan verkündete gar eine »kurdische Öffnung«. Kommentatoren diskutierten in der Presse über die Einbeziehung Öcalans in eine mögliche Lösung. Doch während die wenigen konkreten Reformvorschläge der Regierung nicht über minimale Zugeständnisse wie zweisprachige Ortsschilder hinausgingen, bezeichnete der Generalstab bereits den von kurdischer Seite geforderten muttersprachlichen Unterricht als »rote Linie«. Als dann im Dezember 2009 der Verfassungsgerichtshof die DTP wegen angeblicher PKK-Nähe verbot, war die »kurdische Öffnung« endgültig als propagandistische Luftnummer entlarvt.

Verhaftungen und Tote

Bereits zwei Wochen nach der Kommunalwahl 2009 hat eine bis zum heutigen Tag andauernde Verhaftungswelle eingesetzt, der bislang schätzungsweise 3000 zivile kurdische Aktivisten zum Opfer gefallen sind. Den Verhafteten wird vorgeworfen, dem PKK-nahen Dachverband der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) anzugehören. Keinem der Angeklagten wird der Besitz oder Gebrauch einer Waffe vorgeworfen. Vielmehr reicht schon die Forderung nach einer »demokratischen Republik mit freien Kommunen«, das Eintreten für Geschlechterquotierung oder das Engagement gegen umweltzerstörerische Staudammprojekte für den Vorwurf der Unterstützung einer »illegalen bewaffneten Organisation« aus, da auch Öcalan und die PKK diese Ziele vertreten. Seit Oktober 2010 läuft in Diyarbakir ein Mammutprozeß gegen 151 kurdische Politiker, darunter ein Dutzend Bürgermeister. Die Forderung der Angeklagten, sich in ihrer kurdischen Muttersprache zu verteidigen, wurde vom Vorsitzenden Richter mit der Bemerkung zurückgewiesen, die Angeklagten sprächen eine »unbekannte Sprache«.

Während die Regierung im September letzten Jahres erstmals bestätigte, daß Staatsvertreter im Dialog mit Abdullah Öcalan stehen, gingen die Repression gegen die kurdische Zivilgesellschaft ebenso wie die Militäroperationen gegen die Guerilla unvermindert weiter. Allein in den drei Monaten vor der Wahl wurden rund 2500 BDP-Aktivisten festgenommen, die Polizei verschoß in diesem Zeitraum ihren Jahresvorrat an Gasgranaten, mehrere Demonstranten starben an den Folgen von Polizeigewalt. Dutzende Guerillakämpfer fielen trotz einseitig erklärten Waffenstillstands bei Angriffen des Militärs, das auch chemische Waffen einsetzte. Zu ihren Beerdigungen versammelten sich Zehntausende, darunter Abgeordnete und Bürgermeister der BDP.

Beim Buhlen um Stimmen aus dem türkisch-nationalistischen Lager erklärte Erdogan, der zwei Jahre zuvor noch die Kurdenfrage zur Chefsache gemacht hatte, diese nun für gelöst: »Es gibt kein kurdisches Problem, nur meine kurdischen Brüder haben Probleme.« Die Regierung sage Ja zu individuellen Rechten und Nein zu kollektiven Rechten, entlarvt der Block-Abgeordnete Altan Tan die Politik der AKP. »Kurden dürfen unter sich Kurdisch sprechen und ihre Lieder auf Kurdisch singen, aber sie sollen keine muttersprachliche Erziehung bekommen oder sich erdreisten, demokratische Autonomie, eine Regionalregierung, ein staatliches System oder Föderalismus zu fordern.«

Demokratische Autonomie

Das Wählervotum für den linkskurdischen Block, der etwa in Diyarbakir alle sechs und in Van alle vier Mandate erobern konnte, entsprach einem Plebiszit über das Projekt einer Demokratischen Autonomie. Dieser Lösungsvorschlag geht auf Abdullah Öcalans an libertären Theoretikern wie Murray Bookchin orientierte Strategie des »demokratischen Konföderalismus« zurück, die seit 2004 die politische Linie der kurdischen Befreiungsbewegung bestimmt. Demokratische Autonomie meint keine mit der kurdischen Autonomieregion im Nordirak vergleichbare föderative Lösung, sondern vielmehr eine tiefgreifende politisch-administrative Reform zur Aufteilung der bislang strikt zentralstaatlich gelenkten Türkei in bis zu 25 autonome regionale Verwaltungseinheiten.

Der Aufbau basisdemokratisch organisierter, selbstverwalteter Kommunen steht dabei im Mittelpunkt. Schon nach der Kommunalwahl 2009 wurde in den von der DTP gewonnenen Gemeinden mit der Bildung von Straßen- und Stadtviertelräten begonnen. In Städten wie Diyarbakir, Batman, Van und Hakkari wurde die kommunale Regierungsgewalt inzwischen von den offiziellen Stadträten auf diese Räte übertragen. So bestehen etwa in Van 29 aus Volksversammlungen hervorgegangene Wohngebietsräte, die sich den unmittelbaren Lebensfragen vor Ort widmen, aber auch die Verwendung der Haushaltsmittel durch die Stadtverwaltung bestimmen. »Die Rathäuser gehören dem Volk und nicht irgendeiner Partei«, meint der Vizebürgermeister von Van, Selim Bozyigit. »Wir müssen unsere Planungen mit dem Volk gemeinsam machen und die Mittel gerecht verteilen.« Gerade in dieser von den Kurden als Serhet bezeichneten Region zwischen Van-See, Berg Ararat und armenischer Grenze, in der außer Kurden auch Turkvölker leben, rückt neben der Identitätspolitik die soziale Frage in den Mittelpunkt der Politik der von der BDP gestellten Stadtverwaltungen.

Für die von der vorangegangenen AKP-Administration übernommenen Kommunalarbeiter gründete die linke Stadtverwaltung in Van erst einmal eine Gewerkschaft und erhöhte deren Gehalt deutlich. Vizebürgermeister Bozyiqit, der aufgrund seiner politischen Überzeugung viele Jahre im Gefängnis verbracht hat und nun sieben Tage die Woche unermüdlich beim Aufbau einer demokratischen Stadtverwaltung aktiv ist, bekommt selber rund 700 Euro Monatslohn.

In Manifesten des Blocks wird ein antikapitalistischer Geist beschworen: »Das herrschende kapitalistische System auf der Welt beseitigt das Kollektive und läßt mittels individueller Freiheiten die Individualität aufbäumen. Hierzu wird systematisch versucht, jede Art von Organisation in Form von gesellschaftlicher Einheit, Solidarität und Hilfeleistung aufzulösen.« Aber abgesehen von der Forderung nach einer Landreform sind in diesem Programm keine Eingriffe in das Privateigentum enthalten. Im Gespräch schließen die Räteaktivisten weitergehende sozialistische Schritte für die Zukunft keineswegs aus. »Aber wir sind durch Massenverhaftungen geschwächt und können uns nicht gleichzeitig mit dem Staat, den Großgrundbesitzern und Unternehmern anlegen«, führt ein BDP-Funktionär in der Stadt Sirnak aus. Es gelte erst einmal die »demokratische Autonomie« zu stärken, ehe der nächste Schritt gegangen werden kann.

»Zivile Freitagsgebete«

Abdullah Öcalan mahnte nach der Wahl an, den Wahlblock in eine Dachpartei aus der BDP, Sozialisten, Ökologen und Feministinnen umzuwandeln. »Wir als türkische Linke und Revolutionäre, die wir von der Revolution geträumt haben, müssen eine Menge an Erfahrung von der kurdischen Freiheitsbewegung lernen. Nun ist es an der Zeit, gemeinsam zu handeln«, begrüßte der ehemalige Stadtguerillaaktivist Kürkçü Schritte zu einer solchen Partei. Die Arbeiterklasse der Türkei sei »kurdisiert«, verweist sein Istanbuler Kollege Srr Süreyya Önder auf den Zusammenhang von Klassenfrage und ethnischer Identität. »Wo es die Drecksarbeit zu machen gibt, sind die Kurden da. Die bereitstehende billigste Arbeitskraft ist kurdisch, und dann gehst du hin und machst Klassenpolitik, indem du diese Identität ignorierst oder übersiehst«, kritisiert der marxistische Regisseur Gewerkschafter, die eine besondere ethnische Unterdrückung der kurdischen Arbeiter ausblenden.

Die AKP vermochte es bislang, die religiöse Klaviatur zu spielen, um wie im Osmanischen Reich den konservativeren Teil der kurdischen Gesellschaft im Namen gemeinsamer islamischer Identität an den türkischen Staat zu binden. Eine im Rahmen der »kurdischen Öffnung« vom Amt für religiöse Angelegenheiten DIANET veranlaßte kurdische Übersetzung des Koran steht symptomatisch für eine solche »osmanische Lösung«. Die hinter der AKP stehende wirtschaftsstarke Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, aber auch die in den 90er Jahren noch im Rahmen staatlicher Konterguerilla für Tausende Morde an PKK-Anhängern verantwortliche »türkische Hizbollah« machen sich die Armut in den kurdischen Landesteilen zunutze, um über Stiftungen, Stipendien oder Suppenküchen eine reaktionäre islamische Massenbewegung als Gegengewicht zur Befreiungsbewegung aufzubauen.

Während die laizistischen Linken mit ihrer undifferenzierten Zurückweisung von Religion in den kurdischen Landesteilen kaum Fuß fassen konnten, hat die BDP erfolgreich damit begonnen, fromme Muslime anzusprechen. Im Rahmen ihrer »Kampagne zivilen Ungehorsams« ruft die BDP Gläubige dazu auf, anstatt zum Gebet in die von staatlichen Imamen kontrollierten Moscheen zu »zivilen Freitagsgebeten« auf öffentlichen Plätzen zu kommen. Unter den Blicken der mit Wasserwerfern präsenten Polizei predigen die von der regierungsnahen Presse als »PKK-Imame« geschmähten Geistlichen dort in kurdischer Sprache. »Wir sind die Enkel von Sheik Said«, verkündete ein Imam bei einem Freitagsgebet auf dem Dagkapi-Platz in Diyarbakir Ende Juni unter Verweis auf den an dieser Stelle 1925 hingerichteten sunnitisch-kurdischen Aufstandsführer. Dann warb der Imam um die Einheit der Kurden ungeachtet ihres Glaubens: »Unseren alevitischen Brüdern rufen wir zu: Ihr seid die Nachfahren von Seyid Riza« – dem 1937 hingerichteten alevitischen Führer der Dersim-Kurden. Im Wahlkampf hatte Erdogan auf dem Dagkapi-Platz vor Anhängern der »türkischen Hizbollah« eine regelrechte Pogromrede gegen Aleviten und Eziden gehalten. Daß der Ministerpräsident BDP-Mitglieder als »falsche Muslime« diffamierte, kostete ihm auch unter seinen eigenen Anhängern in Kurdistan viele Sympathien.

Emanzipation der Frauen

Die BDP spielte die religiöse Karte erfolgreich, indem sie den bekannten islamischen Autor und volksnahen Politiker Altan Tan als Kandidaten des Blocks in Diyarbakir aufstellte. Gegenüber denjenigen, die angesichts der Kandidatur von Tan und des Vorsitzenden einer konservativen Splitterpartei, Serafettin Elci, für den Block die progressive Ausrichtung der kurdischen Bewegung in Frage stellen, entgegnete der BDP-Abgeordnete Bengi Yildiz aus Batman: »Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Bewegung sowohl einen sozialistischen Charakter hat als daß sie auch die Bewegung eines unterdrückten, kolonisierten Volkes ist. In einem kolonisierten Volk gibt es konservative, sozialistische, nationalistische und liberale Kräfte.« Wenn einige wenige Kandidaten des Blockes eine andere Richtung vertreten, ändere das nichts am linken Grundcharakter. Vielmehr bekämen so »auch jene außerhalb der eigenen Kreise eine Chance, zu deuten, was Sozialismus ist.«

Entscheidend bei der Einbindung religiöser Kreise ist, daß die kurdische Bewegung keinerlei Zugeständnisse in der von ihr als zentral betrachteten Frage der Frauenbefreiung macht. »Das Projekt der demokratischen Autonomie, das auf den Paradigmen der Demokratie, Ökologie und Geschlechterfreiheit basiert, ist im Grunde ein Frauenprojekt«, heißt es im Manifest des Blocks. »Die Emanzipation der Frau ist die Emanzipation der Gesellschaft.« In den BDP-Frauenkommissionen sind kopftuchtragende Frauen gemeinsam mit ihren sommerlich gekleideten Genossinnen aktiv gegen häusliche Gewalt und Zwangsehen. Polygamie führt zwingend zum Parteiausschluß. Die BDP tritt in ihren Gremien ebenso wie in den Rätestrukturen für eine 40prozentige Geschlechterquotierung und quotierte Doppelspitzen ein. Während im Parlament Frauen gerade einmal auf 15 Prozent kommen, sind 31 Prozent der Blockabgeordneten weiblich, und die BDP stellt mehr Bürgermeisterinnen als alle anderen Parteien türkeiweit zusammen. Für eine Region, in der Frauen vielerorts nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gelassen werden und ihnen von der Familie eine Schulbildung zugunsten einer frühen Verheiratung verweigert wird, ist dies von beträchtlichem symbolischem Wert. »Am Anfang bestanden noch viele Vorurteile«, erinnert sich die wiedergewählte Abgeordnete von Igdir, Pervin Buldan. »Aber inzwischen hat sich das Verhältnis der Bevölkerung zu den Politikerinnen sehr positiv gewandelt.«

Viele Männer sind inzwischen stolz, daß die östlichste Provinz des Landes in Ankara von einer Frau repräsentiert wird. Was noch fehlt, sind Arbeitsplätze für die soziale Emanzipation der Frauen. Ein von der Stadtverwaltung in Van geschaffener Basar, auf dem ausschließlich Frauen arbeiten, ist da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Kalter Putsch

Alle Parlamentsparteien treten für eine Ablösung der noch von der Militärjunta 1982 vorgelegten autoritären Verfassung ein. Während der linkskurdische Block für eine freiheitliche und egalitäre Verfassung plädiert, die Arbeiter- und Frauenrechte ebenso wie die Rechte der Kurden festschreibt, strebt die AKP ein Präsidialsystem nach US-Vorbild an, um ihre neoliberale Politik mit starker Hand fortzuführen. Um im Alleingang eine per Referendum zu verabschiedende Verfassung auszuarbeiten, braucht die AKP 330 Parlamentssitze – vier mehr, als sie bei der Wahl erhielt. In einem kalten Putsch soll diese Mehrheit nun offenbar realisiert werden. So verkündete der Wahlrat YSK kurz nach der Abstimmung, daß dem von 78000 Menschen in Diyarbakir gewählten Abgeordneten Hatip Dicle das Mandat entzogen und an eine AKP-Kandidatin vergeben würde. Der seit Ende 2009 unter PKK-Vorwurf in Untersuchungshaft sitzende Dicle war bereits in den 1990er Jahren gemeinsam mit Leyla Zana aus dem Parlament heraus verhaftet und für zehn Jahre inhaftiert worden.

Als Grund des Mandatsentzugs nannte der YSK eine wenige Tage vor der Wahl wegen einer angeblichen Propagandarede für die Arbeiterpartei Kurdistans erfolgten Verurteilung Dicles zu einer Haftstrafe. Fünf weitere unter PKK-Vorwurf in Untersuchungshaft sitzende Block-Abgeordnete wurden nach ihrer Wahl eben sowenig aus dem Gefängnis entlassen wie drei aufgrund ihrer möglichen Verwicklung in Putschpläne inhaftierte Abgeordnete der anderen Oppositionsparteien. Die zur Fraktionssitzung in Diyarbakir versammelten Blockabgeordneten kündigten an, die Nationalversammlung in Ankara so lange zu boykottieren, bis Dicle sein Mandat zurückerhält. Im nächsten Schritt soll ein kurdisches Regionalparlament in Diyarbakir gebildet werden. Vor Zehntausenden Zuhörern verkündete der Abgeordnete Ahmet Türk am 4. Juli im Sportstadion der kurdischen Millionenstadt: »Wenn alle Türen zum Frieden verschlossen sind, werden sich die Kurden ihre eigene Alternative schaffen.«

»Wir sind bereit«

Die Drohung mit dem Volkskrieg hat Abdullah Öcalan nach der Wahl zurückgenommen. Es sei wichtig, daß sich die Abgeordneten des Blocks an der Verfassungsdebatte beteiligen, erklärte er und sprach sich für eine Verlängerung des PKK-Waffenstillstands aus. Die Bevölkerung in den kurdischen Landesteilen sehnt sich zwar nach Frieden – doch nicht um jeden Preis: »Natürlich stehen wir hinter Öcalans Entscheidungen«, meint ein Uhrmacher auf dem Basar von Diyarbakir. »Aber wie lange können diese einseitigen Waffenstillstände fortgesetzt werden, wenn der Staat nur mit weiteren Massakern antwortet?« Der alte Mann, der an der Wand seiner winzigen Werkstatt ein Bild des sozialistischen Regisseurs Yilmaz Güney hängen hat, ist sich sicher: Die demokratische Autonomie wird für Kurdistan erkämpft werden – mit oder ohne Zustimmung Ankaras. Das sehen auch die vermummten Jugendlichen auf einer Demonstration so. Auf ihrem Plakat heißt es: »Wir sind bereit! Und ihr?«

* Der Autor war im Juni als Teilnehmer einer Wahlbeobachterdelegation in den kurdischen Landesteilen der Türkei. Er verfaßte gemeinsam mit Brigitte Kiechle das Buch »PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam« (Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010)

Aus: junge Welt, 15. Juli 2011



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