Kurden in der Türkei müssen Geduld haben
Premier Erdogan lässt sich mit Reformen Zeit
Von Jan Keetman, Istanbul *
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte der Türkei sechs Monate
lang vorenthalten, auf welche Weise er das Kurdenproblem lösen will. Am
vergangenen Freitag wollte die Regierung in einer Parlamentsdebatte die
Karten endlich auf den Tisch legen.
In den Teehäusern im kurdischen Diyarbakir verfolgten die Zuschauer die
Debatte wie ein Fußballspiel - über sechs Stunden. Am Ende waren Türken
und Kurden allerdings kaum klüger als zuvor. Innenminister Cemil Cicek
hatte als erster Redner ein Paar Reförmchen aufgelistet, darunter die
Aufhebung der zeitlichen Begrenzung kurdischer Sendungen im privaten
Rundfunk und Fernsehen. Aber auch die bleibt an eine Genehmigung
gebunden. Kurdisch fällt also weiter unter eine Art
»Gefahrgutverordnung«. Doch um nicht alle Hoffnungen zu zerstören, sagte
Cicek gegen Ende seiner Rede, eigentlich müsse man die ganze Verfassung
ändern, mit Ausnahme der ersten drei Paragrafen. Wegen weiterer
Einzelheiten vertröstete der Innenminister auf Regierungschef Erdogan,
der ganz am Ende der Rednerliste platziert war.
Doch Erdogan nutzte seine Redezeit nur zur Abrechnung mit der
Opposition, die in der Debatte wie erwartet ein erbärmliches Bild
abgegeben hatte. Zu Details der Reform verlor der Premier kein Wort.
Will er etwa nur die Opposition ausmanövrieren, indem er sie mit ihrem
Widerstand gegen eine Minireform mittelfristig ins Leere laufen lässt,
oder manövriert er die Kurden aus, denen er schon vor fünf Jahren große
Hoffnung gemacht hat?
Der einzige kurdische Redner der Debatte, der 67-jährige Vorsitzende der
Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP), Ahmet Türk, hatte
seinen Auftritt direkt nach Innenminister Cemil Cicek. Er kannte die
Reformvorhaben also erst wenige Minuten und wusste obendrein nicht, ob
Erdogan noch etwas hinzufügen würde.
In den folgenden Tagen aber hielt Türk mit Kritik nicht hinterm Berg.
Ihn stört, dass die Regierung wieder verschwiegen hat, was für eine
Verfassungsreform sie zu welchem Zeitpunkt plant. Und mit der Verfassung
wäre es für Türk nicht getan. Alles in allem bedürfte es in einer
demokratischen Türkei der Änderung von 367 Gesetzen: Ein neues
Wahlgesetz müsste her, die Abschaffung der 10-Prozent-Hürde, eine
Änderung des Parteiengesetzes, eine Reform des Antiterrorgesetzes ...
Vieles davon deckt sich mit dem, was auch die Europäische Union seit
langem von der Türkei fordert.
Als Kurde hat Türk noch ein ganz besonderes Anliegen: Für ihn ist das
Recht auf muttersprachlichen Unterricht wesentlich. Das Kurdische habe
sich zwar bisher auch so behauptet, aber in einem engen Raum. Es sei die
Sprache der Familien, die Sprache der Musik, die Sprache, in der man
nachts im Gemeinschaftsraum des Dorfes Geschichten vorträgt. Doch weil
das Kurdische nicht als Schriftsprache anerkannt wird, könne es sich
nicht als Literatursprache entwickeln.
Türk ist indessen ein besonnener Politiker, keiner, der rasche
rhetorische Ausfälle liebt. Er weiß, wo er steht und welche
Möglichkeiten er hat. Deshalb beschwichtigt er. Von Anfang an habe er
nicht damit gerechnet, dass Erdogan konkrete Projekte vorstellen wird,
sagt der DTP-Vorsitzende. Wichtig sei, dass ein Prozess in Gang gesetzt
wurde und dass man die kurdische Frage heute nicht mehr wie in den
vergangenen 25 Jahren durch bewaffnete Operationen lösen wolle. Er
glaube an die Ernsthaftigkeit Erdogans. »Wir müssen Geduld haben.«
* Aus: Neues Deutschland, 19. November 2009
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