Fortschritt auf dem Papier
Türkische Regierung und kemalistische Opposition einigen sich auf Road Map zur kurdischen Frage. Alltägliche Repression geht aber weiter
Von Nick Brauns *
Während es in den kurdischen Landesteilen der Türkei fast täglich zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Guerillakämpfern der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und Sicherheitskräften kommt, haben sich die islamisch-konservative Regierungspartei AKP und die kemalistische Opposition auf eine Road Map zur Lösung der kurdischen Frage geeinigt. Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, hatte am Mittwoch bei einem mehrstündigen Treffen mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen Zehnpunkteplan vorgestellt, dessen Kernstück die Bildung einer aus allen vier Parlamentsfraktionen bestehenden »Versöhnungskommission« und eines ihr als Berater und Vermittler zur Seite stehenden »Rates der Weisen« sein soll. Während die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP) die Initiative begrüßte, schlug der Vorsitzende der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) Devlet Bahceli Gesprächsangebote der CHP ultimativ aus. Die Türkei habe gar kein »sogenanntes kurdisches Problem«, erklärte Bahceli und beschuldigte die Kemalisten, sich zum Sprachrohr der PKK zu machen. In der Tat ähnelt die Idee der Bildung einer Versöhnungskommission und eines Weisenrates früheren Vorschlägen des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan, wie auch die kurdische Nachrichtenagentur Firat herausstellte.
Während die Tageszeitung Hürriyet Daily News am Donnerstag in der Vereinbarung zwischen Regierung und kemalistischer Opposition einen »historischen Durchbruch beim kurdischen Problem« zu erkennen glaubt, geht die alltägliche Repression gegen die kurdische Bewegung weiter. So wurden am Mittwoch bei landesweiten Razzien von Antiterroreinheiten der Polizei 90 Medizinstudenten unter dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft festgenommen. Am Donnerstag inhaftierte die Polizei dann den von der BDP gestellten Oberbürgermeister der Großstadt Van, Bekir Kaya, sowie drei Bürgermeister von umliegenden Kreisstädten.
Rund eine Woche nach dem die Sonderstaatsanwaltschaft Diyarbakir die Aufhebung der Immunität von acht Abgeordneten der BDP-Fraktion im Parlament wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft beantragt hatte, droht nun einem weiteren Abgeordneten gar der Entzug seines Mandats. Der ebenso wie fünf weitere BDP-Abgeordnete auch nach ihrer Wahl vor einem Jahr weiter in Untersuchungshaft festgehaltene Kemal Aktas ist wegen »Propaganda für eine terroristische Organisation« zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Im Falle einer Vollstreckung der Strafe müßte Aktas sein Abgeordnetenmandat abgeben. »Wir werden alles unternehmen, um die Nationalversammlung lahmzulegen, wenn dies geschieht«, drohten die Vorsitzenden der BDP, Selahattin Demirtas und Gültan Kisanak, mit Widerstand. Bereits direkt nach der Parlamentswahl vor einem Jahr war dem von fast 80000 Menschen in Diyarbakir gewählten Hatip Dicle aufgrund einer Verurteilung sein Mandat entzogen und an eine AKP-Vertreterin vergeben worden.
* Aus: junge Welt, Freitag 8. Juni 2012
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