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"Eine weitere Eskalation des Konflikts verhindern und ihn mit zivilen Mitteln beilegen"

Positionspapier zum türkisch-kurdischen Konflikt

Von Norman Paech *

Die Auseinandersetzung mit der Situation der Kurdinnen und Kurden hat die Linke seit Jahren immer wieder beschäftigt, auch auf parlamentarischer Ebene. In den vergangenen Legislaturperioden gab es zahlreiche parlamentarische Initiativen, die die besorgniserregende Menschenrechtslage in der Türkei, aber auch die schwierige Situation der in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden zum Thema hatten. Mit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist eine neue Dynamik in die Debatte gekommen. Da von Seiten der Bundesregierung und der EU-Kommission insbesondere das ungelöste Zypernproblem in den Mittelpunkt der zähen Verhandlungen gestellt wurde, hat die Frage nach der Menschenrechtslage und der Situation der Minderheiten, unter denen die kurdische Bevölkerung die größte Gruppe ist, allerdings kaum Beachtung gefunden. Die Reformen von 2005, die der kurdischen Bevölkerung einige Rechte, wie beispielsweise kurdische TV-und Radiosendungen (unter strengen Auflagen) zugestehen, sind vollkommen unzureichend und werden deshalb auch von der EU-Kommission nur zurückhaltend als positiv bewertet. Die Kritik an den Reformen selbst und an ihrer mangelnden Umsetzung wird im aktuellen Fortschrittsbericht der Kommission zwar angeführt, ist jedoch für den weiteren Verhandlungsprozess bisher folgenlos geblieben. Die Problematik der kurdischen Minderheit ist nicht nur eine Frage der Türkei, sondern betrifft den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Die Zahl der Kurden wird auf 30-40 Millionen geschätzt. Vom niedrigen Schätzwert von 30 Millionen ausgehend, verteilen sie sich heute auf die verschiedenen Staaten wie folgt: 16 Mio. innerhalb der Grenzen der Türkei, über 7 Mio. in Iran, 4,5 Mio. in Irak, 1,5 Mio. in Syrien, über 1 Mio. in Europa, davon 700.000 in der Bundesrepublik, und etwa 600.000 in den GUS-Staaten und im Libanon. Die Kurden sind die dritt- bzw. viertgrößte ethnische Gruppe in dieser Region neben Türken, Arabern und Persern.

Es ist deshalb sowohl im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen, aber auch im Hinblick auf den Gesamtrahmen der Außenpolitik notwendig, die Problematik der Kurdinnen und Kurden stärker zu beachten.

Um den türkisch-kurdischen Konflikt verstehen zu können, ist ein Blick in die Geschichte notwendig. In einer Beschreibung der aktuellen Situation in der Türkei wird der Konflikt grob in den komplexen Zusammenhang politischer Strömungen und Interessen eingeordnet. Der Rolle Deutschlands wird ein eigener kurzer Abschnitt gewidmet. Abschließend wird eine Bewertung des Konflikts vorgenommen und aus dieser einige Forderungen an die Bundesregierung und die EU abgeleitet.

Geschichte der Kurden und Entwicklung des türkisch-kurdischen Konflikts

Seit der Antike lebten die Kurden vorwiegend als Viehzüchter und Bauern in einem relativ geschlossenen Siedlungsraum, auf einer Fläche, die mit ca. 500.000 qkm so groß wie Frankreich ist. Die geografische Region Kurdistan liegt im Westen und Nordwesten auf türkischem Staatsgebiet, grenzt im Norden an Armenien, liegt im Osten auf iranischem, im Südosten auf irakischen und im Süden auf syrischem Staatsgebiet. Wenn heute von Kurdistan gesprochen wird, ist also kein Nationalstaat oder ein nationalstaatsähnliches Gebilde, sondern eine historische Region und ein geografischer Siedlungsraum gemeint.

Nach der zum Teil gewaltsamen Islamisierung der Kurden im Laufe des 7. bis 9. Jahrhunderts bekannte sich ihre Mehrheit zum sunnitischen Islam. Eine Minderheit gehörte der schiitischen Richtung an. In der Türkei sind heute etwa ein Drittel der Kurden alevitischer Glaubenszugehörigkeit. Darüber hinaus gibt es eine kleine Gruppe von Kurden yezidischen Glaubens, die wie die christlichen Kurden (Chaldäer bzw. Syrianer) diskriminiert und verfolgt werden.

Der politische Ausgangspunkt des heutigen Konflikts fällt in die Zeit des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches zum Ende des Ersten Weltkriegs. Das Osmanische Reich war Kriegsverbündeter Deutschlands und Österreichs. Die Siegermächte England und Frankreich besetzten Istanbul und teilten das Reich nach ihren Interessen im Diktatfrieden von Sèvres 1920 auf. Danach sollten Kurden und Armenier laut Artikel 62 - 64 eigene Staaten gründen können. Die große türkische Nationalversammlung lehnte diesen Vertrag ab. Unter der Führung von Mustafa Kemal, genannt: Atatürk (Vater der Türken), wurde der militärische Widerstand gegen die Siegermächte organisiert, den auch die Kurden tatkräftig unterstützten, da man ihnen Gleichberechtigung versprach. Dieser Kampf zwang die Alliierten, 1923 im Friedensvertrag von Lausanne die Unabhängigkeit und Souveränität der neuen Türkei als Nationalstaat anzuerkennen. In dem Vertrag wurde das kurdische Siedlungsgebiet auf die Türkei, Iran, Syrien und den Irak aufgeteilt.

Zur Zeit des Kampfes gegen die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges galten die Kurden den Türken als „Brudervolk“. Sie wurden deshalb in dem Friedensabkommen von Lausanne 1922/23 in Artikel 38-45, in denen die Rechte der Minderheiten garantiert werden, nicht aufgeführt. Nach Lausanne allerdings wurden in der Türkei alle Versprechen von Gleichberechtigung gegenüber den Kurden vergessen. Trotz einer real multi-ethnischen Gesellschaft wurde der türkische Staat als ethnisch homogen proklamiert. Jeder, der in der Türkei lebt, ist Türke, lautete die Devise. Die Existenz anderer Volksgruppen mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte wurde geleugnet. Wer sich dem widersetzte, war „Separatist“ und musste mit drakonischen Strafen rechnen. Das gilt zum Beispiel auch heute noch für kurdische PolitikerInnen, die in der Öffentlichkeit Kurdisch sprechen.

In der Folge verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetz zur Vereinheitlichung des Schulwesens. Danach galten kurdische Schulen als gesetzeswidrig und wurden geschlossen. Die offizielle Kurdenpolitik wurde bereits in einem Gesetz vom 8. bzw. 24. September 1925 festgelegt. Darin heißt es unter anderem: „Die beiden Völker können und dürfen nicht gleichberechtigt zusammenleben. Deswegen müssen die Kurden assimiliert und Kurdisch muss verboten werden. Die Kurden müssen in den Westen zwangsdeportiert und Türken im Osten an ihrer Stelle angesiedelt werden. Der Osten muss durch einen mit weiten Vollmachten ausgestatteten Generalgouverneur, wie in den Kolonien regiert werden. Alle in wichtigen Positionen stehenden Beamten müssen Türken sein und aus dem Westen stammen.“ Die türkische Politik hielt sich in den folgenden Jahrzehnen an diese Maxime, wobei sie nicht davor zurückschreckte, die Politik der Zwangsassimilierung auch militärisch durchzusetzen: Die Aufstände der Kurden (1925, 1926-27, 1937-38) wurden blutig niedergeschlagen.

1952 wurde die Türkei in die NATO aufgenommen und zum wichtigen Stationierungsort für US-amerikanische Atomwaffen, die sich gegen die UdSSR richteten. Diese Waffen wurden zwar im Rahmen der Vereinbarungen der Kuba- Krise 1963 abgezogen, die ‚Waffenbrüderschaft‘ der NATO-Staaten blieb jedoch über alle Militärputsche in der Türkei (1960, 1971, 1980) hinaus dominierend. Die Kurdenfrage in der Türkei war deshalb kein Thema in den internationalen Beziehungen zwischen diesen Ländern.

Seit 1984 führte die kurdische Arbeiterpartei PKK einen bewaffneten Kampf gegen die türkische Armee und Polizei. Dabei wurden nach offizieller Darstellung über 37.000 Menschen getötet und ungefähr 3.600 Weiler und Dörfer zerstört. Etwa 3 Millionen Kurdinnen und Kurden wurden vom Militär vertrieben. Im Jahr 1999 rief die PKK einen einseitigen Waffenstillstand aus. Ferner gab die PKK das ursprüngliche Ziel eines separaten kurdischen Staates zugunsten einer Autonomieregelung innerhalb der türkischen Grenzen auf. Weder Ankara noch die EU nutzten diese Vorlage für eine politische Lösung. Der Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan, wurde 1999 mit Hilfe eines deutschen Haftbefehls im Exil in Italien festgenommen. Nach einem Irrflug durch verschiedene europäische Staaten wurde er schließlich aus Kenia entführt und in die Türkei gebracht. Er wurde dort zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde auf Druck der europäischen Staaten nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welches das Verfahren gegen Öcalan als unfair ansah, in eine lebenslange Isolationshaftstrafe umgewandelt. Die rot-grüne Regierung nutzte die Chance nicht, Öcalan in der Bundesrepublik ein faires Verfahren zu ermöglichen und so auch auf eine Entspannung des Konflikts hinzuarbeiten. Nach Aufkündigung des Waffenstillstandes im Juni 2004 weiteten sich die Kämpfe weiter aus.

Zur aktuellen Situation in der Türkei

Gegenwärtig stehen über zweihunderttausend türkische Soldaten in den kurdischen Siedlungsgebieten der Türkei. Türkische Spezialteams führen Operationen auch jenseits der türkisch-irakischen Grenze durch und bombardieren irakisch-kurdische Ortschaften, in denen sie Rückzugsgebiete der PKK-Kämpfer vermuten. Im Oktober 2006 hat die PKK erneut einen unbefristeten Waffenstillstand ausgerufen, den das türkische Militär jedoch nicht anerkannt hat. Die türkische Regierung weigerte sich zudem, Verhandlungen mit der PKK aufzunehmen. Sie hält, ebenso wie die EU-Mitgliedsstaaten, an ihrem Terrorismus-Vorwurf gegenüber der PKK und ihren Organisationen fest und verbaut sich so die Möglichkeit, friedenspolitisch aktiv zu werden.

Im April dieses Jahres hat die PKK ihren Waffenstillstand kurzfristig beendet. In dieselbe Zeit fiel die jüngste Staatskrise in der Türkei. Die Kandidatur des türkischen Außenministers Gül zum Staatspräsidenten hatte breite Proteste in der Bevölkerung ausgelöst und den lange schwelenden Machtkampf zwischen der Regierung und dem Militär wieder sichtbar gemacht.

Die gemäßigte islamisch-konservativ geprägte AKP-Regierung bekennt sich eindeutig zum EU-Beitrittsprozess und ist dementsprechend zu weiteren Reformen bereit. Obwohl die Reformen bislang insbesondere im Bereich der Menschenrechte, des Minderheitenschutzes, der Presse- und Meinungsfreiheit und des Rechts auf politische Betätigung unzureichend sind und von der Regierung, wenn überhaupt, nur halbherzig umgesetzt wurden, setzen viele Kurdinnen und Kurden große Hoffnungen in eine Fortführung des Reformprozesses. Die Militärs, die sich als Hüter und Verteidiger eines spezifischen Laizismus (Kontrolle des Staates über die Religion) präsentieren und mit dem EU-Beitritt den Verlust ihrer politischen Macht befürchten, haben großes Interesse daran, die Beitrittsverhandlungen weiter ins Stocken und schließlich zum Scheitern zu bringen. Zudem dient das militärische Austragen des Konflikts mit der kurdischen Minderheit auch der Eigenlegitimation des Militärs. So hat das Militär in der Türkei erneut ein Klima der Aggression gegen die kurdische Bevölkerung geschaffen und nationalistische Positionen gestärkt. Die massive Präsenz des Militärs an den Grenzen zum Nordirak wird mit der Verfolgung von PKK-Kämpfern begründet und verstärkt die ohnehin schon in der türkischen Bevölkerung bestehende Ablehnungshaltung gegenüber den Kurden, denen nach wie vor Separationsinteressen unterstellt werden. Der jüngst erneut ausgerufene Ausnahmezustand für Teile der Südost-Türkei, der die überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebiete von Sirnak, Hakkari und Siirt umfasst, hat die Sicherheitslage in dieser Region erneut verschärft und bedroht ernsthaft das Leben der kurdischen Bevölkerung. Zudem werden Immer wieder Stimmen aus der Generalität laut, die eine stärkere Intervention in Nordirak fordern.

Die jüngsten Parlamentswahlen haben eine historisch vollkommen neue Zusammensetzung des Parlaments ergeben. Erstmals ist im Parlament mit der Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP) eine kurdische Partei vertreten. Die DTP war als Partei nicht zur Wahl angetreten, weil sie keine Chancen hatte, die 10%-Hürde für einen Einzug ins Parlament zu schaffen und schickte deshalb unabhängige Kandidaten ins Rennen, die 22 Sitze erringen und damit eine eigene Fraktion bilden konnten. Die AKP, die aus der Wahl gestärkt hervorgegangen ist und nun die absolute Mehrheit im Parlament stellt, sieht sich derzeit zwei großen Herausforderungen gegenüber:

Erstens muss sie sich gegenüber den Militärs durchsetzen, die in der Vergangenheit mehrmals gegen ungeliebte Regierungen geputscht hatten und auch nach der jetzigen Wahl haben durchblicken lassen, dass sie einen weiteren Machtverlust nicht hinnehmen werden. Mit der erneuten Nominierung und Wahl des als Islamist kritisierten Außenministers Gül in das Amt des Staatspräsidenten, zeigt die AKP den Militärs, dass sie nicht bereit ist, sich einschüchtern zu lassen, und entspricht damit der EU-Forderung nach Unterordnung des Militärs unter die Politik. Da die Wahlergebnisse auch als deutliches Signal der Bevölkerung gegen die Vormachtstellung des Militärs zu werten ist, hat die AKP zurzeit eine gute Position, sich den Machtansprüchen des Militärs entgegen zu stellen.

Zweitens muss die AKP gleichzeitig den Reformprozess, der in der Vorwahlphase komplett zum Erliegen gekommen war, wieder voranbringen. Allerdings wird sich die AKP, die erstmals neben Parlamentsmehrheit und dem Parlamentspräsidenten auch den Staatspräsidenten stellt, nicht mehr dahinter verstecken können, Reformen zu wollen, aber von anderen an deren Umsetzung gehindert zu werden. Das größte Reformhindernis in der Türkei könnte also die AKP selbst sein und ihre Glaubwürdigkeit wird davon abhängen, inwieweit sie ihren Ankündigungen nun endliche Taten folgen lässt und unter Einbeziehung aller betroffenen Bevölkerungsgruppen umfassende Reformen zur Demokratisierung und Verwirklichung von Menschen- und Minderheitenrechten einleitet und umsetzt. Zentrale Vorraussetzung hierfür ist das politische und verfassungsrechtliche Bekenntnis der Türkei zur Multiethnizität und Religionsfreiheit und die Aufhebung aller diskriminierenden, nationalistischen, die freie Meinungsäußerung einschränkenden Gesetze sowie die uneingeschränkte Zulassung politischer, kultureller und religiöser Organisierung in Vereinen bzw. Parteien. Dies beinhaltet auch eine Wahlrechtsreform, in der die undemokratische 10%-Hürde auf höchstens 5% abgesenkt wird.

In Bezug auf die kurdische Bevölkerung ist folgendes umzusetzen:
  • Umfassender Verzicht jeglicher militärischer Aktionen gegen die kurdische Bevölkerung und Aufnahme von Verhandlungen mit der PKK, die eine friedliche Beilegung des Konflikts und die Aufgabe der Einstufung der PKK als terroristische Vereinigung zum Ziel haben müssen.
  • Abschaffung des Dorfschützersystems und Reintegration der Dorfschützer- Milizen sowie die Rückgabe des von dieser Gruppe angeeigneten Besitzes an die Eigentümer.
  • Uneingeschränkte Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des kurdischen Volkes und der kulturellen kurdischen Identität, insbesondere der Anerkennung der kurdischen Sprache und ihrer ungehinderten Anwendung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens.
  • Aufarbeitung der begangenen Menschen- und Minderheitenrechtsverletzungen, die die juristische Verfolgung der Verantwortlichen für Folter und „extralegale“ Tötungen mit einschließen. Entwicklung und Umsetzung von Konzepten für die Rückkehr der kurdischen Flüchtlinge in ihre Dörfer und Städte, materielle Entschädigungen, effektive Wiederaufbauhilfe und Beseitigung der Kriegsschäden.
  • Einhergehen muss dieser Prozess mit Verbesserungen der Infrastruktur im Osten und Südosten der Türkei und umfangreichen Investitionen in die wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau der Gesundheitsversorgung in der Region.
  • Der Geschlechterperspektive beim gesellschaftlichen Wiederaufbau sowie verbindlichen Regelungen für die Beteiligung von Frauen bei der Herstellung und Sicherung von Frieden auf Grundlage der UN Resolution muss besondere Beachtung geschenkt werden.
Diesen Reformprozess kann und muss die Europäische Union kritisch beobachten, begleiten und aktiv unterstützen. Der Erfolg von Reformen wird auch davon abhängen, inwiefern die EU-Mitgliedstaaten den Demokratisierungsprozess in der Türkei ins Zentrum der Beitrittsverhandlungen stellen. Die Bundesrepublik Deutschland kann hierbei, nicht zuletzt durch die langjährigen intensiven bilateralen Beziehungen zur Türkei, eine herausgehobene Rolle spielen.

Die Rolle Deutschlands

Die Türkei und Deutschland verbinden Jahrzehnte lange intensive Beziehungen - wirtschaftliche, militärische und politische. Schon seit dem 19 Jahrhundert wurde mit deutscher Hilfe das osmanische, später das türkische Militärwesen modernisiert. Der Bau der Bagdad-Bahn markierte den Beginn moderner Handelsbeziehungen zwischen den beiden Nationen, die sich in den 1880er Jahren bis nach dem ersten Weltkrieg weitgehend auf den Eisenbahnbau und die Rüstungsindustrie konzentrierten. Auf dem Feld der kulturellen Außenpolitik verstand Deutschland es zu Beginn des 20. Jh. über verschiedene Projekte in der Türkei ein Bild der deutsch-türkischen Freundschaft zu etablieren, so z.B. über die Entsendung deutscher Hochschullehrer für den Aufbau eines modernen Erziehungswesens, die Ausbildung junger Türken in Deutschland und eine in Istanbul tätige deutsche Kulturmission. Nicht zu vergessen ist allerdings auch die unrühmliche Rolle, die das Deutsche Reich beim Völkermord an den Armeniern 1915/16 gespielt hat. Während der Nazizeit fanden viele Deutsche ein sicheres Exil in der Türkei. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Türkei zwar neutral war, Nazi-Deutschland aber weiter mit wichtigen Rohstoffen beliefert hatte, wurden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern intensiv ausgebaut. Heute ist Deutschland der größte Im- und Exportpartner der Türkei.

Seit dem Beitritt der Türkei zur NATO 1952 liefen die Beziehungen Deutschlands zur Türkei vor allem über die Wirtschaft und die NATO. In den 1960er Jahren warb die deutsche Industrie eine enorme Anzahl von „Gastarbeitern“ aus der Türkei an, die zum großen Teil dauerhaft in Deutschland blieben. Unter ihnen waren ca. 700.000 Kurdinnen und Kurden, sowohl Flüchtlinge als auch angeworbene Arbeitskräfte. Der türkisch-kurdische Konflikt wurde in der Folge auch in Deutschland ausgetragen. Kulturvereine und politische Organisationen entstanden, die aus dem Exil versuchten, Einfluss auf die Entwicklung in der Türkei zu nehmen, aber auch in der deutschen Bevölkerung eine Sensibilisierung für die Situation der Kurdinnen und Kurden zu erreichen. Nach teilweise gewalttätigen Aktionen wurde die PKK, die auch in Deutschland tätig war, 1993 auf die Liste der terroristischen Organisationen gesetzt. Bis heute sind Verfahren gegen vermeintliche PKK-Mitglieder anhängig, werden Büros kurdischer Organisationen durchsucht, denen eine Nähe zur PKK unterstellt wird.

Weder die CDU noch die Rot-Grüne Bundesregierung machte ernsthafte Versuche, die Anliegen der in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden aufzugreifen oder sich überhaupt mit ihnen auseinanderzusetzen. So werden in Deutschland lebende Kurdinnen und Kurden bis heute als Türken „verwaltet“, was unter anderem zur Folge hat, dass sie Jahrzehnte lang ihren in Deutschland geborenen Kindern keine kurdischen Namen geben durften, Kurdisch als Sprache nicht anerkannt und dementsprechend bei Behörden und Gerichten keine Übersetzer gestellt werden. Die meisten Einrichtungen und Maßnahmen zur Förderung der Integration von MigrantInnen ignorieren die Tatsache, dass Kurdinnen und Kurden eine der größten Migrantengruppen in Deutschland darstellt, die nicht nur über eine eigene Sprache und Kultur verfügen, sondern auch von den türkischen Migranten verschiedene, spezifische Integrationsprobleme haben. So hat beispielsweise die Nichtanerkennung ihrer Muttersprache in Deutschland kognitive und psychosoziale Folgen, die die Persönlichkeitsentwicklung und Bildungschancen für kurdische Kinder nachhaltig beeinträchtigen. Die Diskriminierung der kurdischen Minderheit wird somit in Deutschland weiter fortgesetzt. Hinzu kommt die Kriminalisierung von in Deutschland politisch aktiven Kurdinnen und Kurden, die unter dem Vorwurf, der PKK anzugehören oder ihr nahe zu stehen, mit Strafverfolgung zu rechnen haben. In den intensiven bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und in den EU-Beitrittsverhandlungen, thematisiert die deutsche Bundesregierung den türkisch-kurdischen Konflikt bis heute nicht angemessen. Noch während der Rot-Grünen Regierung konnte Premierminister Erdogan 2003 bei einem Besuch in Berlin unwidersprochen behaupten, es gäbe keine kurdische Frage. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 16/4732) im April 2007 beteuert die Bundesregierung, den Reformprozess in der Türkei und insbesondere die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Türkei mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen und sich bei bilateralen Gesprächen mit der türkischen Regierung sowie im Rahmen der EU für konsequente Verbesserungen einzusetzen. Gleichzeitig negiert sie die Tatsache, dass die türkische Regierung und das türkische Militär direkt und indirekt für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und führt die katastrophale Menschenrechtslage im Südosten der Türkei einzig auf die PKK zurück. Nach wie vor beliefert die Bundesrepublik Deutschland die türkischen Streitkräfte mit Rüstungsgütern, darunter auch Waffensysteme, die sich für den Einsatz gegen die kurdische Bevölkerung eignen. In Deutschland lebende kurdische Flüchtlinge sind trotz der für sie bedrohlichen Situation in der Türkei von Abschiebung bedroht.

Bewertung und Forderungen

Es gilt, eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern und ihn mit zivilen Mitteln beizulegen. Dazu können staatliche, nicht-staatliche und internationale Institutionen und Organisationen einen Beitrag leisten. Auch die Erfahrungen, die in Europa mit Minderheiten gemacht wurden – z. B. das Südtirol-Abkommen zwischen Österreich und Italien – könnten zur Konfliktbearbeitung herangezogen werden. Die politische und kulturelle Situation der Kurden und die Haltung von Irak, Iran und Syrien, alles Länder mit kurdischen Minderheiten, müssen dabei mit einbezogen werden. Deutschland könnte in dem Konflikt eine wichtige Rolle im Sinne präventiver Diplomatie und Politik spielen. Leider hat es bisher diese Rolle nicht wahrgenommen.

Die Türkei war und ist multiethnisch. Mit dem Abkommen von Lausanne 1922/23 wurde die Türkei als Staat der Türken proklamiert. Seitdem werden ethnische und religiöse Minderheiten zur Assimilation gezwungen bzw. verfolgt und diskriminiert. Dies geht einher mit dem Verbot der kurdischen Sprache und Kultur, der Organisierung in Parteien, der Behinderung der Ausbildung von nichtmuslimischen Geistlichen etc. Trotz einzelner Reformen hat sich an dieser Politik der Diskriminierung und Vorenthaltung demokratischer Grundrechte nichts Grundsätzliches geändert. Die Türkei verstößt damit nicht nur eindeutig gegen internationales Recht, sondern auch gegen die von der EU-Kommission formulierten politischen Kopenhagener Kriterien, die „Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten", fordern.

Allein dieser Verstoß könnte auf den ersten Blick ein „gutes“ Argument gegen einen Beitritt der Türkei zur EU darstellen. Allerdings muss dabei bedacht werden, wie viel für die Zukunft der Menschenrechtssituation in der Türkei damit gewonnen wäre – nichts! Dem gegenüber bietet der Beitrittsprozess für die Türkei die Chance, mit Unterstützung aber auch auf Druck der EU einen nachhaltigen Demokratisierungsprozess zu beginnen, an dessen Ende die volle Umsetzung der politischen Kopenhagener Kriterien und der Beitritt zur EU stehen sollte. Im Zentrum der Demokratisierung muss die politische Lösung des türkischkurdischen Konflikts stehen, ohne die eine nachhaltige Demokratisierung in der Türkei nicht möglich sein wird.

Hierzu ist insbesondere ein Umdenken in der EU-Kommission und den einzelnen Mitgliedstaaten nötig. Zunächst einmal müssen die EU-Mitgliedsstaaten eingestehen, dass zu Beginn der Beitrittsverhandlungen die hinreichende Erfüllung der politischen Kopenhagener Kriterien in der Türkei nicht gegeben war. Das Versäumnis der Frage der Menschen- und Minderheitenrechte ausreichende Beachtung zu schenken, gilt es in den weiteren Verhandlungen zu korrigieren. Für den weiteren Verhandlungsprozess besteht die vorrangige Aufgabe der EU darin, die volle Umsetzung der Kopenhagener Kriterien zu fordern und aktiv zu unterstützen, deren Kern in der politischen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts und damit der aller Minderheiten in der Türkei liegt.

In den Beitrittsverhandlungen führen die Menschenrechtsverletzungen und der mangelnde Schutz von Minderheiten in der Türkei unausweichlich immer wieder zu Kritik an der Art und Weise, wie in der Türkei Minderheiten behandelt werden, auch wenn dabei die vorsichtig taktierende Brüsseler Kommission die Kurdenproblematik nur sehr zurückhaltend anspricht. Auf Dauer wird sie jedoch nicht darum herum kommen, deutlicher und genauer zu werden und systematische Kontrollmechanismen zu errichten, da die Menschenrechtsdefizite in der Türkei nur zusammen mit der friedlichen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts überwunden werden können. Die systematische wirtschaftliche Förderung der über Jahrzehnte vernachlässigten Provinzen im Osten und Südosten der Türkei muss Bestandteil einer solchen Lösung sein.

Die Bundesregierung muss sich ihrer Verantwortung sowohl auf innenpolitischer wie auf der Ebene ihrer bilateralen Beziehungen mit der Türkei stellen und folgende Forderungen erfüllen:
  • Sofortiger Stopp von Abschiebungen von Kurdinnen und Kurden in die Türkei. Stattdessen Erteilung von dauerhaften Aufenthaltstiteln.
  • Anerkennung der eigenständigen kurdischen Sprache und Kultur mit allen notwendigen Folgen für eine gezielte Integrationspolitik gegenüber der kurdischen Bevölkerungsgruppe. Dazu gehört die bilinguale Erziehung wie auch die statistische Erfassung der kurdischen Bevölkerungsgruppe.
  • Stopp sämtlicher Lieferungen von Waffen und Rüstungsgütern an die Türkei, solange das Selbstbestimmungsrecht der Kurden in der Türkei nicht in die Realität umgesetzt ist.
  • Auf EU-Ebene sollte sich die Bundesregierung für eine Initiative zur friedlichen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts einsetzen. Diese sollte auch die Aufhebung der Einstufung der PKK als terroristisch beinhalten.
Die Linkspartei.PDS hat sich in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl ebenso wie die PDS-Europaabgeordneten in ihrer Bilanz im Europäischen Parlament 1999-2004 positiv zu den Beitrittsverhandlungen und damit zu einem EU-Beitritt der Türkei erklärt. Diesen Kurs sollte die Fraktion DIE LINKE fortsetzen und sich mit ihren Forderungen aktiv in die Debatte einbringen.

Zur weiteren Vertiefung in die komplexe Thematik und die Handlungsoptionen zur Konfliktbearbeitung ist das Monitoring-Projekt: Dossier II des Dialog-Kreises zu empfehlen.

Berlin, den 31.08.2007

* Prof. Dr. Norman Paech, Hamburg, Völkerrechtler und Mitglied des Deutschen Bundestages (Die LINKE).


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