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Gegen Windmühlen

Vorabdruck. Der türkisch-kurdische Konflikt äußert sich auch auf kommunaler Ebene. Bemühungen zur Verbesserung der Lebenslage werden von Ankara torpediert. Von Martin Dolzer

Anfang Juni erscheint im Bonner Pahl-Rugenstein Verlag Martin Dolzers Buch »Der türkisch-kurdische Konflikt.« Der Autor ist diplomierter Soziologe und freier Journalist. Er war Projektmitarbeiter für Menschenrechte in der Türkei bei Norman Paech. Im Rahmen von Menschenrechtsdelegationen und Forschungsreisen hatte er Gelegenheit, zahlreiche Interviews und Gespräche in den kurdischen Gebieten zu führen. JW veröffentlicht vorab einen Ausschnitt aus dem Buch. Der Text ist um die Fußnoten gekürzt, Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt. (jW)

Die Situation der Kommunen in den kurdischen Provinzen der Türkei ist zum Großteil von einer Politik der gezielten infrastrukturellen und finanziellen Benachteiligung durch den Staat geprägt. Die Bürgermeister sind grundsätzlich einem Gouverneur (Vali) unterstellt und haben nur begrenzte Kompetenzen. Der Vali wird von der Staatsregierung entsandt, besitzt die Finanzhoheit und darüber hinaus das Recht, die Bürgermeister abzusetzen. Das führt aufgrund der strategischen Ausrichtung der Politik der türkischen Regierungen u.a. dazu, daß sämtliche Kommunen, die von HADEP/DEHAP/DTP-Bürgermeister regiert wurden und werden, nicht die finanziellen Mittel erhalten, die ihnen rechtlich zustehen.[1] Auch nach 2002 hat sich das, trotz entsprechender Regelungen zur Förderung der Kommunen in den Kopenhagener Kriterien [2], nicht geändert. Auf diese Weise wird seitens der türkischen Oligarchie versucht, Projekte zu verhindern, welche die miserable infrastrukturelle Lage der Kommunen in den kurdischen Provinzen verbessern würden.

Chronisch unterfinanziert

Die betroffenen Bürgermeister betrachten daher ihre Arbeit als langwierige Prozesse des Ringens um Demokratie sowie Grund- und Menschenrechte, für die es einer Menge Geduld bedarf. Je nach Lage und Entwicklungsstand der Kommunen sind in diesem Rahmen der Ausbau der Verkehrswege (z.B. in Cizre, wo hauptsächlich aufgrund der staubigen Straßen 60 Prozent der Bevölkerung an Atemwegserkrankungen leiden), des Gesundheitssystems, der Bildungsmöglichkeiten, die Etablierung einer humanistischen Architektur und von Freizeitmöglichkeiten sowie die Umsetzung umweltpolitischer Maßnahmen nötig.

In den meisten Städten der kurdischen Provinzen gibt es eine sehr hohe Arbeitslosenrate. Die wirtschaftliche Entwicklung wurde seit Gründung der Türkei in dieser Region von den jeweiligen Regierungen bewußt auf einem sehr niedrigen Niveau gehalten, obwohl hier ein Reichtum an Rohstoffen wie Öl, Erzen, Silber und agrikulturellen Voraussetzungen vorhanden ist. Das führt dazu, daß selbst in der Provinz Batman, in der Erdöl gefördert und verarbeitet wird, ein sehr hoher Anteil der Bevölkerung arbeitslos ist. Das liegt auch daran, daß die Förderung und Verarbeitung des Erdöls dort von Unternehmen aus dem Westen der Türkei betrieben wird. Auch ein Großteil der »Erdölarbeiter« wird aus dem Westen des Landes »importiert«.

Eine Folge dieser Politik ist, daß viele Menschen aufgrund jahrelanger Repression und der schlechten ökonomischen Situation aus den kurdischen Provinzen nach Istanbul und aus den Dörfern in die Städte der kurdischen Provinzen gezogen sind. Eine Rückkehr wird ihnen aufgrund der anhaltend schlechten ökonomischen Situation erschwert, eine Rückkehr in die Dörfer aufgrund des repressiven Dorfschützersystems oft unmöglich gemacht.

Hüseyin Kalkan, Bürgermeister der Stadt Batman von 2002 bis 2009, äußerte dazu in einem Interview 2004: »Ein weiterer Grund für die hohe Arbeitslosigkeit ist, daß die Zentralregierung die Kommunen, die bisher von der DEHAP verwaltet werden, nicht unterstützt. Sie behindert eher unsere Arbeit. Aufgrund großer finanzieller und machtpolitischer Kompetenzen versuchen die zuständigen Gouverneure oft, vernünftige und notwendige Projekte zur Entwicklung und Demokratisierung der Gesellschaft zu verhindern. Wir haben die letzten fünf Jahre keinen Kurus Geld von der Zentralregierung erhalten. Wir sind so gesehen sehr stark auf uns selbst gestellt und können die Probleme nur durch unseren großen Rückhalt in allen Schichten der Bevölkerung und langsam, Schritt für Schritt, lösen. Die Stärkung der Kommunen, wie sie in den Kopenhagener Kriterien vorgesehen ist, findet nicht statt. Wir sprechen uns trotzdem für die Aufnahme der Türkei in die EU aus. Grundvoraussetzungen dafür sind allerdings die Einhaltung der Menschenrechte und Mindeststandards der EU durch die türkische Regierung sowie die demokratische Lösung der kurdischen Frage. Hier in Batman ist es sehr wichtig, vernünftige Arbeitsplätze zu schaffen, um die Jugend von der Straße zu holen und Prostitution sowie Glücksspiele, die aus dem Westen der Türkei hierher gebracht wurden, abzuschaffen.« Die hier geschilderten Sachverhalte wurden von allen interviewten Bürgermeistern (auch denen anderer Parteien) mit jeweils regionalspezifischen Besonderheiten übereinstimmend geschildert.

Ein wichtiges Anliegen ist allen DTP-Bürgermeistern, mit denen ich sprach, die Situation der Frauen zu verbessern. Hierzu ist ihrer Meinung nach die Überwindung des Clanwesens und der Großgrundbesitzer- (Agha-)Dominanz notwendig, die gerade in ländlich geprägten Regionen noch besonders stark ausgeprägt sind.

In Diyarbakir und Batman wurden mittlerweile Therapiezentren zur Behandlung der durch Folter und Vergewaltigung traumatisierten Frauen und Frauen-Selbsthilfevereine eingerichtet.

Zu diesem Thema, und um die Ehrenmorde an vor einer Zwangsverheiratung geflohenen oder von Sicherheitskräften vergewaltigten Frauen zu verhindern, starteten die von der DEHAP regierten Kommunen gezielte Aufklärungskampagnen, die von der DTP fortgesetzt und weiterentwickelt werden.

Auch die Förderung der Kultur und Kunst ist den Verantwortlichen sehr wichtig. So werden Kulturzentren eingerichtet und Kultur- und Musikfestivals veranstaltet.

Der Ausbau des Gesundheitswesens ist meist ein gravierender Punkt der Arbeit der Bürgermeister. Besonders die hohe Anzahl von Flüchtlingen, die von Dorfschützern [3] und Militär aus den Dörfern vertrieben wurden, ist aufgrund ihrer sozialen Situation auf eine kostenlose Gesundheitsversorgung angewiesen.

In einigen Städten ist die Wasserversorgung nicht ausreichend von der Kanalisation getrennt. Die Stadt Batman nahm zum Beispiel im Jahr 2004 zum Ausbau der Wasserversorgung und Kanalisation einen zweckgebundenen Kredit mit niedrigem Zinssatz in Höhe von umgerechnet 42 Millionen Euro bei der Investitionsbank in Frankfurt/Main auf, da der Vali entsprechende Gelder verweigerte.

Darüber hinaus ist es den DTP-Bürgermeistern ein Anliegen, die Bevölkerung in ihrer Vielfalt in ihre Arbeit einzubeziehen. Deshalb werden seit 2004 Räte aus Anwälten, Ortsvorstehern, Vertretern von Frauen- und Jugendprojekten, kulturell Engagierten und Senioren in die konkrete Politikentwicklung einbezogen.

Keine Hilfe vom Staat

Diyarbakir ist das Zentrum der kurdischen Provinzen der Türkei. In der Stadt leben offiziell zirka 600000 Menschen, faktisch jedoch etwa 1,5 Millionen oder mehr. Die genaue Zahl der Einwohner der Metropole ist schwer einzuschätzen, da die meisten von ihnen in die Gecekondus-Armenviertel der Stadt emigriert sind, nachdem sie aus ihren zerstörten und/oder bedrohten Dörfern geflohen waren. In den Vorstädten leben die Menschen, besonders die Frauen und die Jugendlichen, weitgehend ohne kulturelle Beteiligungsmöglichkeiten und materielle Entfaltungsmöglichkeiten. Die seitens des Staates, im Rahmen der Reformen zur Erfüllung der EU-Beitrittskriterien, zugesicherte Rückkehrmöglichkeit in die Dörfer besteht aufgrund erneuter Vertreibungen durch Dorfschützer und Militär faktisch noch immer nicht. Auch die Hilfeleistungen des Staates für Rückkehrwillige werden noch immer sehr selten - und wenn, dann nicht ausreichend - gewährt. Des weiteren wird von Rückkehrwilligen gefordert, schriftlich - und wahrheitswidrig - zu bestätigen, daß die PKK [4] für die jeweilige Dorfzerstörung und/oder die eigene Vertreibung aus den Dörfern verantwortlich gewesen sei. In den Vororten von Diyarbakir gibt es eine Arbeitslosenquote von zirka 70 Prozent. Viele Kinder gehen nicht zur Schule, da dort noch immer ein hoher Assimilationsdruck herrscht und sie oft die einzigen sind, die ihre Familie durch den Verkauf von Taschentüchern, Bonbons und Kaugummis versorgen können. Es herrscht ein sehr großes soziales Gefälle zwischen den einzelnen Stadtteilen. An vielen Orten in der Stadt befinden sich mitten zwischen Wohnhäusern Kasernen und militärische Anlagen, die hermetisch durch Zäune, Kameras sowie durch mit Sandsäcken und Soldaten mit Maschinengewehren bestückte Türme in den Eingangsbereichen abgeriegelt sind.

Die Mitarbeiter des Bürgermeisters sehen die Arbeit der Kommune differenziert und kritisch. Einige wesentliche infrastrukturelle Maßnahmen wie die Erneuerung und der Ausbau der Wasserversorgung, die Einrichtung von Parkanlagen, Kinos und Kulturzentren, der Aufbau zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Eröffnung eines Kunstzentrums, in dem Produkte aus den Gecekondus verkauft werden - samt Rückleitung der Einnahmen -, die Einrichtung von Frauentherapiezentren, die Verbesserung der medizinischen Versorgung, der Straßenbau und weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität werden positiv bewertet. Diese Meinung wird auch in der Bevölkerung geteilt. Diyarbakir ist eine sichtbar weltoffene Stadt und blüht an einigen Stellen, besonders im Zentrum der Stadt, auf.

Noch immer wird die Zahlung der eigentlich vom Staat zu tragenden Mittel zur Finanzierung der Kommune in großen Teilen zurückgehalten und seitens des Gouverneurs versucht, sinnvolle kommunale Projekte über den finanziellen Hebel oder durch Repression zu verhindern. Im Vergleich zu französischen Kommunen stehen Diyarbakir nur zirka 1/40 der finanziellen Mittel zur Verfügung. Selbstkritisch wird gesehen, daß die Gecekondus und ärmere Stadtteile aufgrund der mangelnden finanziellen Ressourcen zu wenig finanziell und strukturell unterstützt werden können. Die dortige Bevölkerung wird auf diese Weise immer unzufriedener und sucht Wege aus der Verzweiflung und Perspektivlosigkeit. Darüber hinaus erreichen die herkömmlichen Angebote auf zivilgesellschaftlicher Ebene die Menschen zu selten, da die Orte dafür meist räumlich getrennt im Zentrum der Stadt angesiedelt sind - und zum Teil die Kenntnis der türkischen Sprache sowie eine vorgegebene Sozialisations- und eine auf bestimmten Kriterien beruhende Bildungsstruktur Voraussetzungen für die Partizipation an dieser Form des Engagements sind.

Es müssen nach Ansicht der Stadtverwaltung auch in den »Armenvierteln« Möglichkeiten gefunden werden, den Menschen demokratische Verfügung und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, anstatt sie in Rahmen zu drängen, die sie zu Objekten einer vorgefaßten Struktur machen, der sie nicht entsprechen können. Die Menschen sollten vielmehr mit den positiven Momenten ihrer Erfahrungen in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen werden; das bezieht sich u.a. auf die positiven Erfahrungen des Lebens auf dem Land - in mehr kooperativen als überindividualisierten Strukturen, als handelnde Subjekte in der Auseinandersetzung um die Entfaltung der eigenen kulturellen Identität - sowie die Refle­xion der negativen Momente wie z.B. feudale, patriarchale Strukturen und die Auswirkungen jahrelanger Assimilationspolitik seitens des türkischen Staates gegenüber der kurdischen Bevölkerung.

Das beschreibt natürlich nur einen Teil und eine Teilsicht der Problematik - und eine Pauschallösung der Probleme in den Stadtteilen gibt es in der derzeitigen gesellschaftlichen Formation (unter Berücksichtigung der Lage sowohl kommunal und regional wie auch bezüglich nationaler und internationaler Konstellationen und Machtbeziehungen) nicht. Das wird auch seitens der Stadtverwaltung nicht beansprucht. Sie sieht sich vielmehr als eine der impulsgebenden Kräfte in einem zu entwickelnden gesellschaftlichen Prozeß, in dem ständig zwischen realisierbarer, konkret erfahrbarer Politik und dem eigenen politischen Anspruch abgewogen werden muß. Mittlerweile wurde im Jahr 2006 u.a. von der Stadtverwaltung Diyarbakirs der Verein Sarmasik gegründet, der soziologische Studien zur Armut in den Stadtteilen Diyarbakirs durchführt und Konzepte für die Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt. In diesem Rahmen wurden u.a. Essensausgabestellen entwickelt, die an besonders bedürftige Familien Essen verteilen. Sie dienen gleichzeitig als Kommunikationsräume, die besonders den in den Stadtteilen lebenden, vom Landleben entfremdeten Frauen ermöglichen, ihre Isolation aufzubrechen. Ein derartiges Konzept wurde gewählt, da 94 Prozent der Befragten angaben, daß die Versorgung mit Lebensmitteln ihr größtes Problem sei.

Angst und Perspektivlosigkeit

Die Einwohner des Stadtteils Baglar, mit denen wir sprachen, hatten durchgehend ein sehr ausgeprägtes politisches Bewußtsein. Ein Großteil der Menschen setzt sich aufgrund der eigenen Situation auf einem sehr hohen Niveau mit gesellschaftlichen Ereignissen auseinander. Die meisten haben ein sehr großes Verständnis für die Schwierigkeit der Verwaltung, ständig sichtbare Verbesserungen in den Stadtteilen zu bewirken, da sie sich der mangelnden Ressourcen für die kommunale Verwaltungsarbeit und der politischen Konstellationen bewußt sind. Die Bürgermeisterin des Stadtteils wird durchweg als mit der Bevölkerung agierend wahrgenommen. Die Enttäuschung der Menschen darüber, daß die EU zu wenig Druck auf die türkische Regierung ausübt, die Menschenrechte einzuhalten und die kulturellen Rechte der Kurden anzuerkennen, ist unüberhörbar. Trotzdem wird ein EU-Beitritt befürwortet. Die Menschen fragten immer wieder nach den Gründen für das wenig verständliche Agieren der EU. Viele Bewohner, mit denen wir sprachen, befürchten aufgrund der letzten Ereignisse - unzählige extralegale Hinrichtungen und das grausame Attentat der rechtsgerichteten TIT [5] in einem Park in Baglar - eine Rückkehr zur barbarischen Situation der 90er Jahre. Die Menschen äußerten den Wunsch, daß diejenigen, die sich für eine friedliche und demokratische Entwicklung in der Türkei einsetzen und ständigen Repressionen ausgesetzt sind, in Europa nicht als Kriminelle oder Terroristen angesehen werden sollten, während über die Straftaten von Staat und Militär kaum berichtet wird. Der Anspruch auf die Entfaltung der eigenen kulturellen Identität und das Sprechen der eigenen Sprache wird von ihnen als menschenwürdiges Anliegen definiert - und dessen andauernde Kriminalisierung durch den türkischen Staat mit Verzweiflung wahrgenommen. Als ihre demokratisch gewählte Vertreterin sieht die Mehrheit der Bevölkerung die DTP. Die PKK wird darüber hinaus als ideologische Vertretung betrachtet, die aufgrund der jahrelangen Auseinandersetzungen und der eigenen Leidenserfahrungen (fast jede Familie trauert um gefallene Soldaten oder Guerillakämpfer) untrennbar mit dem eigenen Schicksal verwoben ist. Ein Großteil der Bevölkerung betrachtet die Organisation als politische Kraft, die eine legitime und nicht eine terroristische Auseinandersetzung führt. Dementsprechend hoffen die Menschen auch, daß durch den erneut von der Guerilla einseitig ausgerufenen Waffenstillstand eine Generalamnestie erlassen werden könne. Sie wünschen sich nichts mehr als Frieden und die Möglichkeit, auch nachts ohne Angst auf die Straße zu gehen und schlafen zu können, ohne Angst um Freiheit oder Leben haben zu müssen.

Den Jugendlichen in Baglar fehlt oft eine Perspektive - sie sind teilweise verzweifelt, da immer wieder Familienangehörige in den türkisch-kurdischen Auseinandersetzungen sterben; und weil seit Jahren einseitige Waffenstillstände erklärt werden und sie immer noch mit der gleichen ignoranten Politik der Regierung und des Militärs konfrontiert sind. Besonders die politisch tätigen Jugendlichen werden immer wieder willkürlich von der Polizei drangsaliert und festgenommen. In Baglar und anderen kurdischen Städten arbeitet die Polizei teilweise mit der Mafia zusammen, die Glücksspiele und Prostitution befördert. Die Jugendlichen sollen mit allen Mitteln von politischer Arbeit ferngehalten und/oder abgeschreckt werden.

Die Zusammenarbeit aller demokratischen Kräfte - regional, in der Türkei, wie auch international - wird von den Menschen, mit denen wir sprachen, von der DTP wie auch der Kommunalverwaltung als notwendig angesehen, um eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts zu erwirken. Die Macht tragenden Kräfte in der Türkei wollen aber anscheinend um keinen Preis eine in einem föderalistischen Rahmen integrierte Vertretung der Kurden zulassen, die in der Lage ist, eigenständig Interessen zu formulieren und umzusetzen. Ein funktionierendes Beispiel in Europa mit einer derartigen Lösung ist Schottland (mit regionalem Parlament mit relevanten Entscheidungsbefugnissen seit 1999). Hier wird diese Form der Beziehungen zwischen Zentralstaat Großbritannien und Region Schottland zum großen Teil beiderseitig sehr positiv bewertet und als fruchtbare Alternative zu einem Separationsprozeß angesehen. In der Türkei ist aber die Angst um den Verlust der eigenen Macht seitens des Staates und des Militärs bisher zu groß, um derartige Prozesse zuzulassen. Statt dessen wird die menschenrechtliche Lage seit März 2005, nach einer Reformphase zwischen 2001 und 2004, ständig verschlechtert und die militärische Option mehr und mehr in den Vordergrund der möglichen Lösungswege gestellt. Dazu trägt auch die Ernennung des neuen Obersten Generals Yasar Büyükanit bei, der als Hardliner militärischer Vernichtungspolitik gilt.

In diesem Rahmen ist auch das Bombenattentat in einem Park in Diyarbakir-Baglar zu sehen, das von den Rachebrigaden (TIT) verübt wurde, die im Umfeld des türkischen Geheimdienstes JITEM verortet werden. Einige Wochen vor dem Anschlag wurde beobachtet, daß der Geheimdienst mehrere Personen in einer Kaserne in Diyarbakir in sogenannten Spezialkriegstechniken ausbildete. Bei dem Anschlag starben elf Menschen. Die TIT bekannten sich im Internet mit der Parole »Nur ein toter Kurde ist ein guter Kurde« zu den Anschlägen und kündigten an, für jeden toten Soldaten zehn Kurden zu töten. (...)

Anmerkungen der Redaktion
  1. HADEP (Halkin Demokrasi Partisi, Partei der Demokratie des Volkes), DEHAP (Demokratik Halk Partisi, Demokratische Volkspartei) und DTP (Demokratik Toplum Partisi, Partei der demokratischen Gesellschaft) sind (beziehungsweise waren) linke, kurdische Volksparteien. Nachdem DEHAP und HADEP bereits seit längerem verboten waren, wurde 2009 auch die DTP vom türkischen Verfassungsgericht illegalisiert. Das Verbot führte zu einer Welle der Repression gegen kurdische Aktivisten.
  2. Die Kopenhagener Kriterien formulieren Anforderungen für potentielle EU-Beitrittskandidaten
  3. »Dorfschützer« sind vom türkischen Staat besoldete, paramilitärische Gruppen
  4. Die PKK (Partiya Karkerên Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans) ist eine linke, kurdische Guerillaorganisation
  5. TIT (Türk Intikam Tugay, Türkische Rachebrigade) ist eine paramilitärische, faschistische Organisation in der Türkei
Martin Dolzer: Der türkisch-kurdische Konflikt - Menschenrechte - Frieden - Demokratie in einem europäischen Land?. Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger, Bonn 2010, 201 Seiten, 19,90 Euro

* Aus: junge Welt, 2. Juni 2010


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