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Türkei will das östliche Mittelmeer kontrollieren

Es drohen neue Spannungen mit Israel und Zypern

Von Jan Keetman, Istanbul *

Die Türkei hat am vergangenen Freitag (2. Sept.) nicht nur den israelischen Botschafter nach Hause geschickt, sondern auch ein völlig neues Kapitel ihrer Außenpolitik aufgeschlagen. Noch ist nicht ganz klar, was alles dort Platz finden soll, doch sicher ist schon, dass es nicht ungefährlich sein wird.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu hatte sich nicht damit begnügt, Entschuldigung und Entschädigung für den Tod von neun türkischen Aktivisten auf dem von der israelischen Marine geenterten Schiff »Mavi Marmara« sowie zugleich die Aufhebung der israelischen Blockade gegen Gaza zu fordern. Er ging noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er sagte, dass Ankara alles tun werde, um für die »Freiheit der Schifffahrt« im östlichen Mittelmeer zu sorgen. Daraus lässt sich durchaus eine Selbstverpflichtung ableiten, Schiffe, die die israelische Blockade durchbrechen wollen, militärisch zu schützen, zumindest auf hoher See.

Was also, wenn sich die nächsten Blockadebrecher auf den Weg machen, eventuell sogar mit türkischen Teilnehmern? Was, wenn die israelische Marine ein iranisches Schiff abfangen will, weil der Verdacht besteht, dass es Waffen für die libanesische Hisbollah geladen hat? Der türkische Politikwissenschaftler und bekannte Strategieexperte Ümit Özdag meint, dass es nicht zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen der Türkei und Israel kommen werde. Das würden die USA nicht erlauben. Doch auch wenn kein Schuss fällt, könnte eine Konfrontation zu erheblichen Spannungen führen. Dafür reiche schon, wenn die Türkei etwa im Falle einer Wirtschaftskrise im östlichen Mittelmeer einfach Flagge zeigen würde, meint Özdag.

Der Wirtschaftskolumnist Güngör Uras sieht das etwa anders. Er befürchtet, Spannungen mit Israel könnten die Türkei in den Augen internationaler Investoren als riskantes Land erscheinen lassen. Angesichts eines Leistungsbilanzdefizites, das in diesem Jahr wohl über zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen dürfte, ist die Türkei auf den Zufluss von Kapital besonders angewiesen. Außenminister Davutoglu scheinen solche Überlegungen nicht anzufechten. Am Wochenende prophezeite er Israel, dass sich der »Arabische Frühling« schnell in eine harte Haltung gegen Israel verwandeln könnte. Dabei passt der Verlauf dieser »Revolution« auch nicht so richtig ins Bild der türkischen Außenpolitik.

Man darf wohl davon ausgehen, dass all jene Regimes in der Region, die sich von den Umwälzungen bedroht fühlen, nichts lieber sehen würden als eine Konfrontation zwischen Israel und der Türkei. Und Davutoglu erweckt den Eindruck, als stecke die türkische Regierung schon mitten drin. Seine politische Offensive gegen Israel wirft indessen auch die Frage auf, ob Ankara noch eine verlässliche Größe in der internationalen Politik ist. Bisher hat Davutoglu immer seine gut klingende Devise »Null Probleme mit den Nachbarn« hochgehalten, auch dann, wenn es etwa um Sanktionen gegen Iran oder Syrien ging. Statt auf »hard power«, also militärische Stärke, würde die Türkei auf »soft power« setzen. Darunter verstand Davutoglu kulturelle Faktoren, den Vorbildcharakter der Türkei usw. Das passt schlecht zu einer Macht, die ihre Rechtsauffassung auf den Meeren notfalls mit militärischer Gewalt durchsetzen will.

Übersehen sollte man dabei nicht, dass es im östlichen Mittelmeer nicht nur Probleme zwischen der Türkei und Israel gibt, sondern auch zwischen der Türkei und der Republik Zypern. Die Türkei möchte westlich der geteilten Insel im Meer nach Gas und eventuell Öl suchen lassen. Das heißt, Ankara tut so, als gäbe es Zypern gar nicht und als reiche der türkische Festlandssockel weit über diesen Staat hinaus. Wenn nun die türkische Marine im östlichen Mittelmeer generell die Muskeln spielen lassen will, würde sich wohl dieser Konflikt mit Zypern ebenfalls zuspitzen – und so auch mit Griechenland.

* Aus: Neues Deutschland, 6. September 2011


Türkei setzt die Handelsbeziehungen zu Israel aus

Streit um Gaza-Flotte 2010 weitet sich aus / Ankara will Militärpräsenz im östlichen Mittelmeer verstärken **

Die Türkei gibt im Streit um die Gaza-Flotte von 2010 nicht nach. Erdogan will die Sanktionen gegen Israel noch verschärfen. Nun sollen auch Handelsbeziehungen ausgesetzt werden.

Der Streit zwischen der Türkei und Israel um den israelischen Militäreinsatz gegen die Gaza-Flotte 2010 eskaliert. Nach der militärischen Kooperation der bisherigen Verbündeten würden jetzt auch die Handelsbeziehungen auf Eis gelegt, sagte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Dienstag (6. Sept.) in Ankara. Zugleich bestätigte er, dass er einen Besuch im Gaza-Streifen plane. Stattfinden könnte dieser während eines für den 12. September angekündigten Aufenthaltes Erdogans in Kairo. Darüber müsse aber noch mit Ägypten gesprochen werden. »Immer spielt Israel die Rolle des verzogenen Sohnes«, sagte Erdogan. Die Türkei stehe entschlossen gegen das Land, dessen Vorgehen den »Geruch von Staatsterrorismus« trage. Ankara werde verschiedene weitere Sanktionen nutzen.

Der Premier bekräftigte, dass die Türkei die militärischen, verteidigungs- und handelspolitischen Beziehungen zu Israel »vollkommen« auf Eis lege. Einer seiner Berater stellte allerdings klar, dass dies nicht den Handel allgemein, sondern lediglich die Rüstungsindustrie betreffe.

Die Türkei hatte am Freitag (2. Sept.) den israelischen Botschafter ausgewiesen und alle Militärabkommen mit Israel ausgesetzt. Auslöser war ein Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen über die blutige Erstürmung eines Schiffes der Hilfsflotte für den Gaza-Streifen. Dabei hatten israelische Elitesoldaten am 31. Mai 2010 neun türkische Aktivisten getötet. In dem Untersuchungsbericht wird der Einsatz zwar als »exzessiv« und »unverhältnismäßig« kritisiert. Zugleich wird die Seeblockade des Gaza-Streifens durch Israel aber als legal bewertet.

Erdogan kündigte zudem eine verstärkte Militärpräsenz seines Landes im östlichen Mittelmeer an. Die türkische Marine werde sich dort ab sofort »sehr häufig« zeigen, so der Premier am Dienstag (6. Sept.).

Inzwischen hat der Streit auch Auswirkungen auf den Reiseverkehr zwischen beiden Staaten. Touristen beider Seiten beklagen Schikanen und Demütigungen an den Flughäfen. So seien sie von Sicherheitsleuten gezielt herausgesucht und gezwungen worden, sich für Durchsuchungen zu entkleiden. Ein türkischer Flughafenmanager sagte Medienberichten zufolge, die Vorgehensweise sei Reaktion auf eine israelische Praxis.

Ankara verlangt eine Entschuldigung für Angriff auf die Gaza-Flotte und hat die Veröffentlichung des UN-Berichts als letzte Chance dazu bezeichnet. Die israelische Regierung lehnte eine Entschuldigung aber wiederholt ab.

»Wir müssen einen Ausweg für diese Krise finden, indem wir den Handlungsspielraum nutzen, der bleibt«, sagte der für politische und Sicherheitsfragen zuständige Vertreter des israelischen Verteidigungsministeriums, Amos Gilad, dem israelischen Rundfunk. Gilad warnte die Regierung in Ankara, sie habe »viel zu verlieren bei einer extremistischen Politik«. Dennoch sah er »keinen Bruch mit der Türkei«. »Der Beweis ist, dass unser Militärattaché in Ankara auf seinem Posten bleibt und die konsularischen Dienste weiter arbeiten«, sagte Gilad.

** Aus: Neues Deutschland, 7. September 2011


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